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»Der Einsatz von Kindern war bittere Realität«

Im Wortlaut von Azize Tank,

 

Im Interview mit der Tageszeitung junge Welt spricht Azize Tank, Sprecherin für soziale Menschenrechte der Fraktion DIE LINKE, über die längst überfällige Gleichstellung polnischer "Ghettobeschäftigter" bei der Auszahlung von "Ghettorenten".

 

Was besagt das deutsch-polnische Abkommen über sogenannte Ghettorenten, das am Donnerstag im Bundestag ratifiziert wurde?

Azize Tank: Das Abkommen beendet die jahrelange Disüber kriminierung von Juden und Roma mit Wohnsitz in Polen. Menschen aus Polen, die die Nazis in den Lagervierteln arbeiten ließen, waren von Anfang an ausgeschlossen, obwohl das 2002 beschlossene Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG), gerade auf die juristischen Kämpfe von Schoah-Überlebenden aus Polen zurückgeht. Von ihnen ist mittlerweile mehr als die Hälfte der Berechtigten verstorben. Im Februar 2014 habe ich in enger Absprache mit den dortigen Betroffenen einen Vorstoß zur Beseitigung dieser Diskriminierung in den Bundestag eingebracht und freue mich, dass wir innerhalb von acht Monaten erreichen konnten, dass die beiden Regierungen einen Abkommensentwurf erarbeitet haben.

Was bedeutet das konkret für die Menschen mit Wohnsitz in Polen, die zur Arbeit im Ghetto gezwungen wurden?

Hunderte abgelehnter Anträge, die vor einem Jahrzehnt von Mitgliedern der »Vereinigung der Jüdischen Kombattanten« und des Verbandes »Kinder des Holocaust« gestellt worden waren, werden nun von Amts wegen erneut geprüft. Heute leben fast nur noch Menschen, die als Kinder in deutschen Ghettos beschäftigt waren. Auch sie können, wenn sie damals das dritte Lebensjahr vollendet hatten und etwa für die Rüstungsindustrie oder beim Entkleiden Verstorbener eingesetzt wurden, einen Antrag auf »Ghettorente« stellen. Der Einsatz von Kindern war damals bittere Realität!

Es ist ein großer Erfolg unserer Anstrengungen im Bundestag und der engen Zusammenarbeit mit Überlenden, namentlich Herrn Tomasz Miedziński, einem ehemaligen »Ghettobeschäftigten«. Es ist fraglich, ob ohne die Standhaftigkeit der Überlebenden, aber auch ob ohne die Unterstützung engagierter Historiker wie Stephan Lehnstaedt, der Rechtsanwältin Simona Reppenhagen oder des Richters Jan-Robert von Renesse es je zur Auszahlung von »Ghettorenten« gekommen wäre.

Des weiteren sprechen Sie von »systematisch benachteiligender Behandlung der Antragsteller«. Was meinen Sie damit?

Infolge des ZRBG wurden zirka 70.000 Anträge gestellt, jedoch zunächst weniger als zehn Prozent anerkannt. Dies war Folge fehlerhafter Auskunft und Beratung durch die Rentenversicherungsträger. Die deutsche Bürokratie hat die Unglaubwürdigkeit der Betroffenen systematisch herbeikonstruiert. Dies hat Kristin Platt vom Institut für Diaspora- und Genozidforschung, die als Gutachterin in den Rentenverfahren umfassenden Zugriff auf anonymisierte Urteile und Verfahrensakten hatte, wissenschaftlich nachgewiesen. Insbesondere die Deutsche Rentenversicherung Rheinland tat sich dabei hervor, die Ausführungen der Antragsteller als unglaubhaft abzustempeln. So wurden etwa bei den über 10.000 in NRW anhängigen »Ghettorenten«-Verfahren lediglich etwa 150 Überlebende überhaupt persönlich angehört. Die Folge ist, dass bis heute zwischen 15.000 und 25.000 »Ghettobeschäftigte« nicht einmal einen formellen Ablehnungsbescheid erhalten haben. Da sie in den meisten Fällen nicht über einen Rechtsbeistand verfügen, der einen Überprüfungsantrag stellen könnte, wissen sie nichts von ihren Ansprüchen. Mit ihrem Tod soll das Problem offenbar für die deutsche Bürokratie erledigt werden.

Hat die Bundesregierung auf Ihre diesbezügliche Kritik reagiert?

Bereits im September 2014 hat die Fraktion Die Linke dazu eine schriftliche Frage an die Bundesregierung eingereicht. Die Antwort belegt, dass dieses gravierende Problem nicht ins Bewusstsein vorgedrungen ist. Ministerin Andrea Nahles muss deshalb unverzüglich den Verwaltungsvollzug des einstimmig vom Bundestag beschlossene ZRBG überprüfen. Dies sind wir den hochbetagten Überlebenden schuldig.

 

junge Welt, 2. März 2015