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Den Rubikon nicht überschreiten

Im Wortlaut von Wolfgang Neskovic,

Wolfgang Neskovic hat zwei Parteien verlassen.

Jetzt arbeitet er als Parteiloser für DIE LINKE im Bundestag

Die Fahrt nach Fürstenwalde findet nach einem langen Arbeitstag statt. Sitzungswochen im Bundestag sind streng gerastert. Wer ehrlich ist, gibt zu, dass die damit verbundene Fremdbestimmung ganz schön an die Substanz geht. Ein langer Dienstag also und ein Abend in Fürstenwalde. Wolfgang Neskovic sitzt hinten im Auto und denkt sich für ein paar Minuten fort. Kurz vor der Auffahrt auf die Autobahn staut es. Fürstenwalde scheint so schwer zu erreichen wie Takatukaland.

Kurz vor sieben kommt das Auto vor der Fürstenwalder Kulturscheune zum Stehen. Gerade ist es an einer schwergewichtigen Truppe von jungen Männern und Frauen vorbeigefahren, die möglicherweise das gleiche Ziel wie der Abgeordnete haben. »Hoffentlich nicht«, sagt er, steigt aus und läuft zwei Runden um die Kirche, um den heißen Kopf zu kühlen. In der Kulturscheune wartet man auf ihn und auf seinen Vortrag zum Thema »Der Sozialstaat als Sozialfall«. Man will erst zuhören und dann darüber reden, dass die Dinge sich zum Schlechten wenden. Und was er, der Richter und Abgeordnete, dazu zu sagen hat. Fürstenwalde ist eine hübsche kleine Stadt. In der sich Armut breitmacht wie eine Krankheit. Oder wie ein geschriebenes Gesetz.

Ein Richter weiß, dass es auch ungeschriebene Gesetze gibt. Eines davon ist: Wer als Neuer im Deutschen Bundestag seine erste Rede hält, der wird freundlich behandelt, und am Ende gibt es noch Glückwünsche vom Präsidium. Die Glückwünsche hat Wolfgang Neskovic bekommen, als er am 30. November 2005 im Hohen Haus ans Rednerpult trat und über die Änderung des Zollfahndungsdienstgesetzes sprach. Freundlich behandelt worden ist er nicht.

Wahrscheinlich lag es daran, dass im Plenarsaal weitaus mehr ehemalige Parteifreunde saßen als neue Fraktionskollegen. Und dass der parteilose Neskovic, Mitglied der Fraktion DIE LINKE, eine Grundsatzrede hielt, obwohl es doch nur um ein Dienstgesetz ging. »Opportunist«, rief ein SPD-Abgeordneter und Anwalt dem einstigen Parteifreund und Richter am Bundesgerichtshof zu, nachdem der gesagt hatte: »Sie wissen ja, dass ich einmal in Ihrer Partei war, und ich weiß, warum ich ausgetreten bin. Sie machen nämlich keine sozialstaatliche Politik mehr.«
»Wäre der doch nur Richter geblieben«, schickte der Anwalt da hinterher.
Ja, warum ist er eigentlich nicht?

Das Grundgesetz kann wehrhaft machen

Der Saal in der Kulturscheune ist gefüllt. Rechts vom Eingang sitzen jene jungen Männer und Frauen, an denen das Auto kurz vorher vorbeigefahren war. Kurz vor halb acht kommt der Veranstalter und macht von seinem Recht Gebrauch. »Verlassen Sie bitte die Veranstaltung«, sagt er an die rechts Sitzenden gewandt. »Sie sind hier nicht erwünscht.« Am Eingang steht ein Polizist. Die jungen Rechten werden erst wütend, und dann gehen sie. Sechzehn Stühle sind auf einmal leer, wie eine ältere Frau erschrocken feststellt. So viele waren das also. Und wo gehen die jetzt hin, die Rechten?

Wolfgang Neskovic, Jahrgang 48, in Lübeck aufgewachsen, Sohn eines serbischen Maurers und einer deutschen Schneiderin, war tatsächlich mit Leib und Seele Richter. So sagt er es. Er war mit Leidenschaft ein linker Sozialdemokrat und dann ein linker Grüner. In einfacher Logik gedacht, wäre er jetzt also ein linker Linker. Eine solche politische Biografie verführt die einen zu denken, so jemandem könne man nicht trauen. Und die anderen zu glauben, so jemand habe nur eine Weile gebraucht, bis er endlich die richtige politische Heimat gefunden hat. Möglich, dass die einen irren und die anderen falsch liegen. Wolfgang Neskovic sagt: »Ich habe nicht mich und auch nicht meine Überzeugungen verlassen. Mir sind die Parteien abhanden gekommen.«

Endlich kann, mit einiger Verspätung, die Veranstaltung in der Kulturscheune anfangen. Rund 30 Menschen hören zu, was der Abgeordnete Neskovic zum Sozialstaat zu sagen hat. Auf den ersten Blick liegen zwischen dem Mann am Rednerpult und den Menschen auf den Stühlen Welten. Die können wahlweise der Distanz zwischen dem Regierungsviertel in Berlin und Fürstenwalde, beruflichem Erfolg und Arbeitslosigkeit, gestalterischem Spielraum und fatalen Zwängen entsprechen. Sie können aber auch einfach nur eine ganz normale Fremdheit beschreiben. Der erste Blick sagt nicht viel, aber er wiegt schwer. Wolfgang Neskovic baut Brücken. Er erzählt, wie er aufgewachsen ist. Dass ihm als Kind und Sohn eines Serben soziale Ausgrenzung nicht fremd war. Dass er als Junge den Film »Die zwölf Geschworenen« gesehen hat und wie sehr der ihn beeindruckte. Dass er einer hartnäckigen Lehrerin die Möglichkeit verdankt, Abitur gemacht zu haben.

Und dass er sich frühzeitig in das Grundgesetz verliebt hat. Er erzählt von seinem ersten Fall: Eine junge Friseurin liebt einen Italiener, und der Italiener liebt Autos. Er kauft sich einen Alfa Romeo, die Friseurin bürgt aus Liebe für den Kredit, der Italiener verschwindet samt Auto, die Friseurin bleibt mit den Schulden zurück. »Ich habe gesagt, das Grundgesetz fordert den Sozialstaat, und der findet Ausdruck unter anderem in der pfändungsfreien Einkommensgrenze. Die Bank handelte sittenwidrig, als sie die Frau in die Bürgschaft nahm. Sehen Sie«, sagt Wolfgang Neskovic, »das Grundgesetz kann uns wehrhaft machen, auch jetzt, wo der Kapitalismus rasende Fahrt macht.« Über diese Brücke gehen die Zuhörenden. Sie sind ein wenig bezaubert von dem elegant gekleideten Mann da vorn am Rednerpult. Er redet ihnen nicht von Zwängen und Kompromissen, sondern von Rechten und Möglichkeiten.

Tatsache ist, immer waren es Kompromisse, die den Mann bewogen, eine Partei zu verlassen. Die Sozialdemokraten haben 1995 einen Asylkompromiss beschlossen, später zum Großen Lauschangriff ja gesagt und dann begonnen, Auslandseinsätze der Bundeswehr richtig zu finden. Die Grünen schickten nur wenige Jahre später Bundeswehrsoldaten ins Kriegsgebiet Kosovo. Dies seien die Grenzen gewesen, sagt der einstige Richter. Er habe den Rubikon nicht überschreiten wollen. Seine Parteien schon. Vielleicht hat ihn das vorsichtig gemacht. Vielleicht aber auch nur klüger. Nun ist er ein Parteiloser und hat ein Mandat inne, das ihn zu jeder Zeit als Parteinehmenden öffentlich macht. Er ist mehr drin, als er jemals war, aber er kann weniger vereinnahmt werden. Das macht nicht allen Freude. Es gehört zum Wesen von Parteien, andere zu vereinnahmen. Für die Organisation, Ideen, Programme, für eine Vorstellung von Disziplin und das Streben nach Einfluss und Macht. Parteien müssen so sein. Sonst wären sie überflüssig. Zumindest in einer Parteiendemokratie. Wenn einer wie Neskovic doch und trotzdem für eine Partei, der er nicht angehört, im Bundestag sitzen kann, ist das eine Ausnahme. Keine schlechte, sagt er. Und es gibt Leute, die sind vor allem deshalb in dieser Partei, weil die solche Ausnahmen zulässt.

In Fürstenwalde urteilt der einstige Richter über eine sozialfeindliche Politik. Er redet von 1,1 Millionen sogenannten Aufstockern, Menschen, die trotz Arbeit auf staatliche Zuwendungen angewiesen sind. Weil der Lohn nicht zum Leben reicht, und weil man hierzulande wegen Armut früher sterben kann. »Man kann von 347 Euro nicht in Würde leben«, sagt der Politiker, und das wissen auch alle, die im Saal sitzen. Aber dass er das weiß, der nicht von 347 Euro leben muss, macht sie ein bisschen froh. Vielleicht kann man hoffen. Und wenn es doch sogar im Grundgesetz steht.

Sozialstaat als Sozialfall

Das Grundgesetz ist seine schärfste Waffe. In seiner ersten Rede im Bundestag hat Wolfgang Neskovic gesagt: »Dieses Grundgesetz bildet geradezu eine Aufforderung für den Demokratischen Sozialismus.« Er hat Rousseau zitiert, dessen Worte im Fraktionssaal der Linken an der Wand hängen: »Der Schwache braucht den Staat und das Recht - sie schützen ihn vor dem Starken.« Und seine einstigen Parteifreunde von der SPD haben gewettert.

In Fürstenwalde redet Neskovic über Ungerechtigkeit. Wer mit ihm redet, weiß, dass der Mann sich scheut, das Wort Gerechtigkeit einer Definition preiszugeben. Ungerechtigkeit sei fassbar, Gerechtigkeit ein Abstraktum, sagt er. Nach dem langen Abend in der Kulturscheune bleiben ein kleines Glücksgefühl und eine große Müdigkeit. Der Sozialstaat als Sozialfall ist, was den eigenen Kräf tehaushalt anbelangt, eine heftige Tour. Und vielleicht stimmt der Satz »Man kann es gar nicht oft genug sagen« ja auch nicht. Wer weiß schon, wie oft Menschen bereit sind, zuzuhören? Wo sie sich so durchs Leben plagen müssen.

Spätabends ist Fürstenwalde eine hübsche, kleine und leere Stadt. Berlin scheint so weit weg zu sein wie Takatukaland. Dort wird am Tag darauf die Haushaltsdebatte fortgesetzt. Eine unendliche Abfolge beschworener Sachzwänge. Die Leute, die in der Fürstenwalder Kulturscheune saßen, werden das erst im kommenden Jahr zu spüren bekommen.

Von Kathrin Gerlof

Neues Deutschland, 27. Dezember 2007