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Jan Korte, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der Linksfraktion, spricht während einer Fraktionssitzung

Das Ende der Marktgläubigkeit

Im Wortlaut von Jan Korte, Der Spiegel,

Die Coronakrise ist ein Stresstest für unsere Gesellschaft. Lange vor der Revolution ehemaliger FDP-Wähler sollten zurecht die Systemrelevanten in Pflege und Service revoltieren. Zeit für eine neue Ära der Solidarität. Ein Gastbeitrag von Jan Korte

 

 

Im Sommer 2019 hat die Bertelsmann Stiftung vorgeschlagen, die Anzahl der Kliniken in der Bundesrepublik zu halbieren. Damit würde man eine "bessere Ausstattung, eine höhere Spezialisierung sowie eine bessere Betreuung durch Fachärzte und Pflegekräfte" erreichen. Eine irre Logik: Statt den Standard der Kliniken zu verbessern, mit mehr Personal, wird gekürzt und konzentriert. Jetzt eine kleine Denksportaufgabe: Wie viele Tote mehr würde es heute geben, wenn die Empfehlung umgesetzt worden wäre? Die Coronakrise zeigt auf brutalste Weise, dass das Dogma "Markt vor Staat" völlig am Ende ist. CDU/CSU, SPD, Grüne und besonders die FDP haben den Sozialstaat in den letzten Jahrzehnten verächtlich gemacht und in großen Teilen zerstört.

Dass nun die FDP vor einer Revolution der Mittelschicht warnt, ist verständlich. Schließlich geht es in erfolgreichen Revolutionen oft den Verantwortlichen für Missstände an den Kragen. Wessen Idee war es denn, den Menschen zur Altersvorsorge Aktienanlagen zu empfehlen, statt an einer funktionierenden Rente für alle zu arbeiten? Wer hat das Gesundheitssystem auf Profit getrimmt, sodass jetzt Menschen aus allen Schichten, bis auf ein paar Superreiche, Sorgen vor seiner Überlastung haben? Und wer hat das rettende Netz des Sozialstaats zerrissen, das auch dem kleinen Unternehmer noch einen Rest Sicherheit gegeben hat? Die FDP ist schon lange nicht mehr die Partei des Handwerks und des kleinen Mittelstandes, wie sie es gern vorgibt. Denn diese würden von einem funktionsfähigen Staat, der Millionäre und Konzerne ordentlich besteuert und damit Kommunen dringend notwendige Investitionen ermöglicht, profitieren. Die FDP führt einen Abwehrkampf gegen die sich immer weiter verbreitende Einsicht, dass eine auf Ich-AGs basierende Gesellschaft, in der jeder seines Glückes Schmied ist, kaputt ist und reihenweise Menschen und ihre Beziehungen zerstört. Ich komme aus einer anderen Tradition, die heißt: Gemeinsam sind wir stark.
Zum Autor

Jan Korte, geboren 1977, ist erster parlamentarischer Geschäftsführer der Bundestagsfraktion DIE LINKE.

Die Coronakrise ist ein Stresstest für unsere Gesellschaft. Denn lange vor der Revolution ehemaliger FDP-Wähler werden die revoltieren, die unsere Gesellschaft gerade am Leben halten: die Systemrelevanten. Die Pflegerinnen und Pfleger, die MitarbeiterInnen im Einzelhandel, die Post- und PaketbotInnen oder die Reinigungskräfte. Ihnen werden seit Jahren Respekt, Geld und bessere Arbeitsbedingungen vorenthalten. Und diese Revolte ist gerechtfertigt.

Nicht erst seit Beginn der Coronakrise baden diese Menschen die Verheerungen der Marktlogik in unserer Gesellschaft aus, es begann lange vorher. Ich habe an meiner Mutter, die ihr Arbeitsleben lang Krankenschwester war, erlebt, wie sie ihre Arbeit in einem heilen Sozialstaat als Erfüllung wahrgenommen hat, später, nach der Ausrichtung auf Profit, aber nur noch als Schufterei. Ich erinnere an die systematische Verhinderung von Betriebsräten bei Lidl. Oder die Akkordarbeit von scheinselbstständigen PaketbotInnen, die am Samstagabend an der Haustür klingeln und sich dafür auch noch entschuldigen, weil sie die Tour einfach nicht schneller geschafft haben. Sie müssen sich nicht entschuldigen, das müssten andere tun, die sich aber schon lange abgewöhnt haben - wenn sie es je taten – sich für ihren Umgang mit Menschen zu schämen. Dieser asoziale Zustand ist Ergebnis von 15 Jahren Merkel plus Schröders rot-grüner Abrissregierung. Dies als kleiner Hinweis an die ganzen Merkel-Fans bei den Grünen und in Berliner Journalistenkreisen.

Applaus reicht nicht aus. Jetzt gilt: mehr Geld, mehr Sicherheit, zudem eine Perspektive auf bessere Arbeitsbedingungen. Der Bundestag hat in den letzten Tagen gezeigt, wozu er in der Lage ist, wenn es drauf ankommt. Ich meine: Am Ende der nächsten Sitzungswoche sollte ein Sofortaufschlag auf die Löhne von z. B. Krankenhauspersonal beschlossene Sache sein, grundlose Befristungen, Leiharbeit und Ich-AGs hingegen Geschichte. Warum nicht nächste Sitzungswoche einen Vierjahresplan zur vollständigen Entprivatisierung des Gesundheitswesens beschließen?

In außergewöhnlichen Zeiten passieren Fehler. Umso wichtiger, dass wir die Chancen, die sich bieten, nutzen und die Weichen richtig stellen: Damit die Wirtschaft wieder dem Gemeinwohl dient, damit es sich wieder lohnt, für diese Gesellschaft einzutreten. Wenn ich heute mit ganz normalen Leuten rede, höre ich: "Das zahlen am Ende sowieso wieder wir". So darf es nicht wieder laufen. Diesmal müssen es die Reichen und die milliardenschweren Konzerne sein, die in harten Zeiten die Last für die Schwachen tragen. Wenn Bundesminister gerade abfeiern, dass Menschen solidarisch mit ihren Nachbarn sind und denen helfen, die es brauchen: Warum nicht den ganzen Staat wieder so organisieren? Dann kann am Ende dieser furchtbaren Krise, in der es jetzt darum geht, Menschenleben zu schützen, eine Chance liegen: Drei Jahrzehnte in der deutschen und internationalen Politik, in der der Markt alles war, der Mensch und die Gemeinschaft aber nichts, zu beenden. Und für unsere Kinder eine neue Ära der Solidarität und der Demokratie einzuleiten.

Der Spiegel,