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Chemiewaffen und »Patriots«

Im Wortlaut von Jan van Aken,

Gastkommentar

Von Jan van Aken

 

 

 

Genau einen Tag, bevor die NATO einen Militäreinsatz in der Türkei beschließt, vermelden US-amerikanische Geheimdienste, dass Assad in Syrien jetzt seine Chemiewaffen einsatzbereit mache. Was für ein Zufall. Das erinnert doch sehr an die Biowaffenlügen, mit denen die USA-Regierung vor ziemlich genau zehn Jahren den Irak-Krieg begann. Heute ist es nicht ein Colin Powell vor dem Sicherheitsrat, sondern ein anonymer Informant in der »New York Times«. Der Effekt ist der gleiche: Die deutschen Medien überbieten sich in Chemiewaffen-Panik, Obama und Westerwelle schicken Warnungen nach Syrien. Wer mag jetzt noch etwas gegen deutsche Soldaten und »Patriot«-Raketen in der Türkei sagen?

Fakt ist, dass es gar keinen Zusammenhang zwischen syrischen Chemiewaffen und deutschen »Patriots« gibt. Ja, das Assad-Regime verfügt sehr wahrscheinlich über chemische Waffen. Das hat im Juli sogar ein Sprecher des syrischen Außenministeriums zugegeben. Es könnte auch stimmen, dass westliche Geheimdienste jetzt beobachtet haben, wie Chemiewaffen von verschiedenen Standorten in Syrien wegbewegt und an einem anderen Ort konzentriert wurden. Das wäre aber wenig überraschend, denn natürlich will das Assad-Regime auf jeden Fall vermeiden, dass Chemiewaffen in die Hände der bewaffneten Rebellen fallen. Deshalb ist es plausibel, dass sie an die sichersten Standorte verlegt werden. Daraus aber zu schlussfolgern, dass die Waffen einsatzbereit gemacht würden, ist pure Spekulation. Hinweise darauf gibt es gar keine.

Auf der anderen Seite ist es höchst unwahrscheinlich, dass Assad seine Chemiewaffen im Bürgerkrieg einsetzt. Er weiß genau, dass der Westen dann sofort militärisch eingreifen und somit jeder Chemiewaffeneinsatz das sofortige Ende seines Regimes bedeuten würde.

Und es ist, militärisch betrachtet, ein schlechter Witz, dass nun ausgerechnet das Raketenabwehrsystem »Patriot« Schutz vor den Chemiewaffen Assads bieten soll. Denn die Raketen sind ausschließlich geeignet, ballistische Raketen oder Flugzeuge abzufangen. Und niemand – auch das Weiße Haus nicht – wird ernsthaft annehmen, dass Assad eine Scud-Rakete mit Giftgas auf Rebellen abschießen würde. Die militärische Waffe der Wahl wären dann Granaten oder Bomben, die mit Giftgasen bestückt sind. Davon abgesehen geht nicht einmal Ankara selbst davon aus, dass Assad die Türkei vorsätzlich angreift – nicht mit dem sporadischen und irrtümlichen Artilleriebeschuss der letzten Wochen und erst recht nicht mit Marschflugkörpern, die dann auch noch Giftgase transportieren.

Wir sollten uns hüten, jetzt auf das Chemiewaffen-Getöse einzusteigen und damit einen Bundeswehreinsatz samt »Patriot«-Stationierung in der Türkei zu rechtfertigen. Das eine hat mit dem anderen gar nichts zu tun – genauso wenig, wie es vor zehn Jahren Biowaffen in Irak gab. Und wir sollten nie vergessen, dass der Irak-Krieg, der mit einer Biowaffenlüge begann, mit über 500 000 Toten endete und ein Land hinterlassen hat, das sich absehbar nicht von den Folgen erholen wird.

neues deutschland, 6. Dezember 2012