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Betroffene und Experten werden ignoriert

Im Wortlaut,

Fachleute kritisierten auf einer öffentlichen Anhörung im Bundestag die intransparente Hartz-IV-Politik der Bundesregierung

Von Fabian Lambeck

Wie soll die vom Bundesverfassungsgericht geforderte transparente Neuberechnung der Hartz-IV-Regelsätze umgesetzt werden? In einer öffentlichen Anhörung des Bundestagsausschusses für Arbeit und Soziales kritisierten Experten aus Sozialverbänden auch die Geheimniskrämerei der Regierung.

Seit dem Hartz-IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom Februar dieses Jahres steht die Bundesregierung unter Druck. Die Karlsruher Richter setzten dem Gesetzgeber eine Frist bis zum 31. Dezember - dann muss die Berechnung der Regelsätze in einem »transparenten und sachgerechten Verfahren« erfolgen. Besonders bei Kindern müsse sich die neue Berechnung stärker an der Realität orientieren, so der damalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier. Bislang legte man die Sätze in einem kaum nachvollziehbaren Verfahren fest. Wie die geforderte Neuberechnung erfolgen soll, ist derzeit noch völlig unklar. Die Bundesregierung spielt auf Zeit. Im zuständigen Bundesarbeitsministerium heißt es, man müsse zuerst die Ergebnisse der Einkommens- und Verbraucherstichprobe (EVS) abwarten. Die im Fünf-Jahres-Turnus in 60 000 Haushalten erhobenen EVS-Daten dienen als Grundlage für die fragwürdige Regelsatzfestsetzung. Dabei orientiert man sich am Ausgabeverhalten der ärmsten 20 Prozent der Bevölkerung, die nicht Hartz IV beziehen. Darunter sind allerdings viele verdeckte Arme, die so wenig verdienen, dass ihnen eigentlich Sozialleistungen zustünden. Deshalb ziehe diese Fixierung auf die EVS »Zirkelschlüsse« nach sich, wie Matthias Birkholz (LINKE) in der Bundestags-Anhörung am Montag kritisierte.

Der Grünen-Abgeordnete Markus Kurth wollte von den anwesenden Experten wissen, ob es eine Möglichkeit gebe, die verdeckte Armut aus den EVS-Daten herauszurechnen. Die Wirtschaftswissenschaftlerin Irene Becker empfahl, »individuelle Armutsgrenzen zu ziehen«. So sollten nur die unteren 20 Prozent berücksichtigt werden, die über dieser Einkommensgrenze liegen. Dabei krankt das EVS-Modell an einem grundsätzlichen Defizit: Es berücksichtigt nicht den speziellen Bedarf von Kindern, wie Anette Stuckmeier vom Statistischen Bundesamt einräumte. Man könne den an der EVS teilnehmenden Haushalten nicht zumuten, die Verbraucherdaten der Kinder extra zu erfassen, so Stuckmeier. Wenig Begeisterung zeigten die Fachleute für die Pläne von Union und FDP, die von Karlsruhe geforderten höheren Leistungen für Kinder mit Sachleistungen wie etwa Bildungsgutscheinen zu erbringen. So betonte Dietrich Engels vom Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik, der Verwaltungsaufwand für die Ausgabe verschiedener Gutscheine sei zu hoch. Auch der Kinderschutzbund sah »keinen Grund, zu einem Sachleistungsprinzip zu kommen«. Geldleistungen müssten weiterhin Vorrang haben.

Einig waren sich die Experten in ihrer Kritik an der Bundesregierung. Mehrmals wurde am Montag gefordert, das Bundesarbeitsministerium solle Experten von Betroffenenorganisationen, Wohlfahrtsverbänden sowie der Kommunalen Spitzenverbände in die Neuberechnung der Kinderregelsätze einbinden. Auch die Ausschussvorsitzende Katja Kipping (LINKE) kritisierte, dass die Regierung »ohne erkennbare Einbeziehung von Expertise oder Betroffenen« an einer gesetzlichen Grundlage zur Ermittlung des soziokulturellen Existenzminimums arbeite. Am heutigen Mittwoch befasst sich der Ausschuss für Arbeit und Soziales erneut mit dem Thema.

Neues Deutschland, 19. Mai 2010