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Balkanische Lektionen

Im Wortlaut von Sevim Dagdelen,

Kosovo und die Parteilichkeit der NATO

Diese Woche wurde ein Kronzeuge in einem Kriegsverbrecherprozeß gegen den kosovo-albanischen Parlamentarier Fatmir Limaj in einem Park in Deutschland tot aufgefunden. Auswärtiges Amt und Bundeskriminalamt verweigern mit Verweis auf die Zuständigkeit des jeweils anderen weitere Auskünfte. Es steht zu vermuten, daß Agim Zogaj keines natürlichen Todes starb und die Informationen über den im Zeugenschutzprogramm in der BRD untergebrachten Mann direkt aus der ermittelnden EU-Mission in Pristina (EULEX) kamen.

Zugleich haben deutsche und US-amerikanische Truppen die Situation im Nordkosovo massiv eskaliert. Auch wenn es unterschiedliche Darstellungen zum Tathergang gibt, steht fest, daß am Dienstag Soldaten der NATO-geführten KFOR auf serbische Demonstranten geschossen haben. Den Serben werden Steinwürfe und »versuchte Provokationen« zur Last gelegt. Dies rechtfertigte offenbar, daß die Soldaten mit scharfer Munition gegen Zivilisten vorgingen. KFOR verweigert sich allen Forderungen nach einer internationalen Untersuchung der Vorfälle.

Was haben diese beiden Ereignisse miteinander zu tun? Die NATO und die Mehrheit der EU-Staaten, die die einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovo anerkannt haben, stehen unverbrüchlich an der Seite der kosovo-albanischen Untergrundbewegung UCK. Während mutmaßliche kosovo-albanische Kriegsverbrecher gedeckt werden, schießt man auf serbische Demonstranten. Serbien, obwohl von neoliberalen Sozialdemokraten regiert, wird regelrecht gedemütigt. Die EU-Beitrittsperspektive wird inzwischen direkt mit dem Verzicht auf das Kosovo verbunden. Zu wichtig ist die Rolle eines willfährigen NATO-Staates im Herzen des Balkans für dessen Neuordnung.

Es wird immer deutlicher, daß die völlige Kontrolle des Kosovo nur ein erster Schritt sein wird, um mit dem Spielen der albanischen Karte die Völker des Balkans noch weiter aufeinanderzuhetzen. Frei nach dem bewährten imperialen Prinzip »Teile und herrsche«. Dafür wird jetzt offenbar auch noch eine ethnische Säuberung des Nordkosovo mit befördert. Serben sollen demnach nur bleiben dürfen, wenn sie sich dem Völkerrechtsbruch beugen. Wer »provoziert«, auf den wird geschossen. Die Bundeswehr steht dabei in der ersten Reihe und handelt in der Tradition von 2004, als sie bei den ethnischen Säuberungen gegen Serben im Kosovo einfach wegschaute. Parteilichkeit ist oberste Maxime.

Eine friedliche Zukunft der Völker auf dem Balkan wird es nur gegen die imperialen Mächte geben. Wer auf Fairneß bei den EU-Beitrittsverhandlungen hofft, macht sich im besten Falle Illusionen. Und wer die NATO nicht als Kriegsführungsbündnis mit Neuordnungsinteressen auf dem Balkan wahrnimmt, ist im besten Falle naiv. Das sind die balkanischen Lektionen dieser Zeit.

 

Von Sevim Dağdelen, Sprecherin für internationale Beziehungen

junge Welt, 30. September 2011