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Backstage bei der Bundespräsidentenwahl

Periodika von Bodo Ramelow, Dietmar Bartsch, Sahra Wagenknecht,

Am Samstagnachmittag, dem 11. Februar, gegen 16.30 Uhr, betritt Anni Seidl die Eingangshalle des Reichstags. An der Garderobe im Erdgeschoss gibt sie Mantel, Schal und Gehstock ab. Dann erhält sie eine Chipkarte, die sie als Mitglied der Bundesversammlung zur Wahl des zwölften Bundespräsidenten ausweist, und in einem schwarzen Etui die Stimmkarten für die Wahl. Auch ein kleines Präsent darf sie einstecken, eine weiße Porzellanmedaille. „Die verschenke ich“, scherzt sie. Dann fährt sie mit dem Fahrstuhl in die dritte Etage hoch. Dort, im Clara-Zetkin-Saal der Fraktion DIE LINKE, kommen die linken Wahlfrauen und Wahlmänner zusammen.

Als sich Gesine Dannenberg kurz darauf in den Saal begibt, sitzen bereits viele Delegationsmitglieder in den Stuhlreihen. Altersmäßig trennt die beiden Frauen mehr als ein halbes Jahrhundert. Die Berlinerin Anni Seidl kam im Jahr 1934 zur Welt, Adolf Hitler war damals seit einigen Monaten an der Macht. Gesine Dannenberg, die aus dem Spreewald in Brandenburg stammt, ist im Jahr 1989 geboren, dem Jahr, als die Berliner Mauer fiel. Doch als sie sich am Vorabend der Bundespräsidentenwahl das erste Mal begegnen, überwiegen augenblicklich die Gemeinsamkeiten.

Für beide Frauen ist die Bundesversammlung eine Premiere. Beide empfinden es als eine Ehre, daran teilnehmen zu können. „Es ist toll, Demokratie hautnah erleben zu dürfen“, sagt die Jüngere. Die Ältere ist „sehr gespannt auf die Atmosphäre der Bundesversammlung“. Und beide Frauen haben jüngst Christoph Butterwegge persönlich kennengelernt, bei Veranstaltungen in Berlin und in Potsdam.

Anni Seidl, eine emeritierte Professorin der Humboldt-Universität, sieht in Christoph Butterwegge einen „politisch denkenden Wissenschaftler“, der die soziale Ungleichheit erfolgreich thematisiert habe. Gesine Dannenberg, Lehramtsstudentin für Englisch und Politische Bildung an der Universität Potsdam, betont die Unterschiede zu Frank-Walter Steinmeier, dem Kandidaten der Großen Koalition, den sie ebenfalls bei einer Veranstaltung getroffen hatte. „Frank-Walter Steinmeier hat die Agenda 2010 und Hartz IV gerechtfertigt und verteidigt Abschiebungen nach Afghanistan“, erzählt sie. Christoph Butterwegge sei dazu „eine klare politische Alternative – und zwar von links“.

Um 17.45 Uhr verfolgen die beiden Frauen die kleine Pressekonferenz vor dem Fraktionssaal, an der Christoph Butterwegge sowie die beiden Vorsitzenden der Fraktion DIE LINKE, Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch, teilnehmen. Sie lauschen, als Dietmar Bartsch darauf hinweist, dass der linke Kandidat erfolgreich eine Debatte über soziale Gerechtigkeit angestoßen habe, und Sahra Wagenknecht erklärt, man hoffe für die morgige Wahl auf eine kleine Überraschung.

In der Delegationsbesprechung, die ab 18 Uhr im Fraktionssaal stattfindet, werden zunächst die Ehrengäste begrüßt, darunter die Antifaschistin Beate Klarsfeld. Dann ergreift Christoph Butterwegge das Wort und bilanziert die zurückliegenden 82 Tage, die seit seiner Nominierung vergangen sind. In mehr als 100 Interviews und rund 50 Veranstaltungen, unter anderem in Kirchen und Konzertsälen, sei es gelungen, etwas in den Köpfen zu bewegen. „Es geht nicht nur um Armut, sondern um soziale Ungleichheit, national und global“, sagt er. Es sei Zeit für eine Agenda der Solidarität. „Wer sich um die Demokratie sorgt, muss den Sozialstaat wiederherstellen“, erneuert er eine seiner zentralen Botschaften.

Am darauffolgenden Sonntag, dem 12. Februar, gehören Anni Seidl und Gesine Dannenberg zu den ersten, die erneut auf der Fraktionsebene im Bundestag eintreffen. Die beiden Frauen begrüßen sich herzlich, drängen sich gemeinsam durch das Dickicht der Fernsehkameras und Fotostative, plaudern mit Bodo Ramelow, dem Ministerpräsidenten von Thüringen. Um 11.20 Uhr stellen sie sich gemeinsam mit den anderen Delegationsmitgliedern für ein Gruppenfoto auf.

Pünktlich um 11.30 Uhr nehmen sie erneut ihre Plätze im Fraktionssaal ein, wo sie von Petra Sitte, der Parlamentarischen Geschäftsführerin der Fraktion DIE LINKE, begrüßt werden. Krankheitsbedingt fehle nur ein einziger Abgeordneter, berichtet sie. Dann folgen letzte organisatorische Informationen. Nach wenigen Minuten wird die Versammlung aufgehoben. Im Pulk mit den anderen begeben sich Anni Seidl und Gesine Dannenberg zum Plenarsaal des Deutschen Bundestags. In der ersten Reihe sitzt Christoph Butterwegge, in der Reihe dahinter nehmen Sahra Wagenknecht, Dietmar Bartsch und Petra Pau, die Vize-Präsidentin des Parlaments, Platz. Anni Seidl und Gesine Dannenberg sitzen weiter hinten.

Geheime Abstimmung

Pünktlich um 12 Uhr beginnt die Bundesversammlung, eröffnet durch eine Ansprache von Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU). „Wer Abschottung anstelle von Weltoffenheit fordert, wer sich sprichwörtlich einmauert“, proklamiert er, „darf sich nicht wundern, wenn es ihm andere gleichtun – mit all den fatalen Nebenwirkungen, die aus dem 20. Jahrhundert bekannt sind.“ Da erheben sich fast alle Mitglieder der Bundesversammlung und klatschen, auch Anni Seidl und Gesine Dannenberg. Nur in den Reihen der AfD rührt sich keine Hand. Dann startet der erste Wahlgang. Alphabetisch werden die Mitglieder der Bundesversammlung aufgerufen, um in geheimer Wahl abzustimmen.

Neben Christoph Butterwegge stehen vier weitere Männer zur Wahl. Frank-Walter Steinmeier (SPD), einst Kanzleramtschef, dann langjähriger Außenminister, ist der turmhohe Favorit. Seine Kandidatur wird von CDU/CSU, SPD, FDP und Teilen der Grünen unterstützt. Für die AfD tritt Albrecht Glaser an. Die Freien Wähler haben den TV-Richter Alexander Hold nominiert. Und die Satirepartei Die Partei schlägt Engelbert Sonneborn vor.

Um 14.14 Uhr verkündet Lammert das Ergebnis. Zuerst ruft er das Resultat für Christoph Butterwegge auf: 128 Stimmen entfallen auf ihn, weit mehr, als linke Wahlfrauen und -männer anwesend sind. Applaus brandet auf angesichts dieses Erfolgs. „Ich freue mich sehr“, wird Gesine Dannenberg später berichten. Auch Anni Seidl ist zufrieden: „Das ist mehr, als wir erwartet hatten.“ Dann gibt Lammert das Ergebnis für Frank-Walter Steinmeier bekannt: 931 Stimmen, die notwendige Mehrheit steht. Steinmeier lässt sich gratulieren und Blumen reichen. Er nimmt die Wahl an, tritt ans Pult in der Saalmitte und hält eine kurze Rede. Dann beendet Lammert die Bundesversammlung.

Die Wahlfrauen und Wahlmänner, die für DIE LINKE an der Versammlung teilgenommen haben, kommen gegen 15 Uhr nochmals im Fraktionssaal zusammen. Christoph Butterwegge erhält einen Strauß roter Blumen und viel Applaus, auch von Gesine Dannenberg und Anni Seidl, deren Wege sich bald darauf trennen. Doch bei dieser einen Begegnung zwischen dem ältesten und dem jüngsten Mitglied der Delegation soll es nicht bleiben. Beim Abschied schlägt Anni Seidl ein baldiges Wiedersehen vor und lädt Gesine Dannenberg zu einer historischen Stadtführung in Berlin ein.