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Ausgrenzung weiter an der Tagesordnung

Im Wortlaut,

Verbände kritisieren Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland

Von Ulrike Henning

Am 26. März 2009 trat in der Bundesrepublik die UN-Behindertenrechtskonvention in Kraft. Verbände und Politiker nahmen den gestrigen Jahrestag zum Anlass, auf Versäumnisse bei der Umsetzung des Abkommens hinzuweisen.

Mehr Selbstbestimmung und Partizipation sowie die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen fordert ein Bündnis aus 78 behindertenpolitisch arbeitenden Verbänden in Deutschland. Mit dessen Analysen und Forderungen liegt erstmals ein Bericht über die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention aus der Sicht der Zivilgesellschaft vor. Zwar gibt es Bemühungen – vor allem seitens der öffentlichen Verwaltungen und Einrichtungen –, Barrieren in Städten, Gebäuden, beim Transport oder im Internet zu beseitigen. Dennoch fehlt es auf vielen Gebieten für die acht bis zehn Millionen Betroffenen in Deutschland oft an praktikabler, flexibler und unbürokratischer Unterstützung für ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.

Behinderte in Deutschland sind in Bezug auf ihre Menschenrechte noch immer nicht genauso geschützt wie nicht behinderte Bürger. So können sie bei hohem Assistenzbedarf aus Kostengründen zwangsweise in ein Heim eingewiesen werden. Zu einem selbstbestimmten Leben gehört aber auch die freie Wahl von Wohnort und Lebensform. Entmündigung und Ausgrenzung behinderter Menschen sind durch Systeme wie Sonderschulen und Werkstattarbeit seit Jahrzehnten institutionalisiert. Der Wechsel zur Inklusion, das heißt, zu einer möglichst umfassenden Beteiligung an Bildung und am Arbeitsleben, ist immer noch schwierig und hat viele Widerstände zu überwinden.

Bestes Beispiel ist die schulische Einbeziehung von Kindern mit sogenanntem erhöhtem Förderbedarf. Das Inkrafttreten der UN-Konvention vor vier Jahren ändert nichts daran, dass das Recht behinderter Kinder auf den gemeinsamen Schulbesuch mit ihren nicht behinderten Altersgefährten erst nach und nach in Gesetze der Bundesländer überführt wird. Neben der Möglichkeit, Regelschulen zu besuchen, bleiben die Förderschulen weiter bestehen. Die Familien haben oberflächlich betrachtet die Wahl. Häufig werden sie aber gedrängt, ihr Kind doch lieber einer Förderschule anzuvertrauen. Diese hätten bessere Möglichkeiten, die Entwicklung zu unterstützen, sie seien weniger stressig für die Kinder. Befürworter der Inklusion meinen, dass die Schüler in den Fördereinrichtungen eher unterfordert sind. Dafür spricht, dass nicht einmal drei Viertel der Abgänger einen Hauptschulabschluss schaffen, entsprechend gering sind die Aussichten auf einen Ausbildungsplatz. Andererseits sind viele Regelschulen bisher weder personell noch konzeptionell auf den gemeinsamen Unterricht vorbereitet. Bis jetzt besuchen nur 29 Prozent der Kinder mit Behinderungen Regelschulen.

Die Misere setzt sich in der Arbeitswelt fort. Kritisiert und auf den Punkt gebracht wurde das zu Beginn dieser Woche auf einer Bundestagsanhörung zur beruflichen Teilhabe von DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach: »Schwerbehinderte Menschen werden von der Bundesregierung und vielen Unternehmen im Stich gelassen. Jedes dritte Unternehmen beschäftigt fast gar keine schwerbehinderten Menschen, jedes zweite hält sich nicht an die gesetzlich vorgeschriebene Quote von fünf Prozent.« Entsprechend hoch sind Arbeitslosigkeit und Armut unter den Behinderten in Deutschland. Insbesondere unter den Schwerbehinderten ist die Arbeitslosigkeit mit fast 15 Prozent fast doppelt so hoch wie im Durchschnitt des Landes. Der DGB forderte die Bundesregierung daher auf, die Ausgleichsabgabe für Unternehmen mit mehr als 20 Beschäftigten, die die Beschäftigungsquote von fünf Prozent nicht erfüllen, mindestens zu verdoppeln.

Auch bei den Bürgerrechten sind gleiche Bedingungen für alle nicht gewährleistet. Trotz gegenteiliger Versprechen aus der Regierungskoalition bleiben Menschen, die unter Vollbetreuung stehen, wohl auch von der bevorstehenden Bundestagswahl ausgeschlossen. Eine Chance zur Änderung bestand mit einem Antrag der Linksfraktion zum Bundeswahlgesetz in der letzten Woche im Bundestag. Der Antrag wurde aber abgelehnt.

Die Inkonsequenz bei der Umsetzung der UN-Konvention in Deutschland kritisierte Ilja Seifert, behindertenpolitischer Sprecher der LINKEN im Bundestag: »Die Bundesregierung meint noch immer, dass es nur marginaler Veränderungen bedarf, um eine inklusive Gesellschaft herzustellen, in der jede und jeder Einzelne nicht nur irgendeinen, sondern ihren oder seinen Platz findet.«

neues deutschland, 27. März 2013