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Arme werden ärmer

Im Wortlaut von Niema Movassat,

Die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise hat auch die Länder des globalen Südens mit voller Wucht getroffen

Von Niema Movassat

Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise ist längst nicht vorüber. In Industriestaaten führt sie, Stichwort »Sparpakete«, zur weiteren Umverteilung. Milliardensummen wurden und werden zur »Rettung« der Banken gezahlt, eine Zeche, die die Steuerzahler noch Jahrzehnte belasten wird. Eventuell kostet die Krise am Ende sogar den Euro – eine lange Zeit völlig undenkbare Konsequenz. In Vergessenheit gerät dabei leicht, daß diese Krise auch für die sogenannten Entwicklungsländer gravierende Auswirkungen hat und haben wird.

Zahlreiche Staaten des Südens wähnten sich anfangs noch auf der sicheren Seite, glaubten, die Finanzmarktverwerfungen würden sie kaum betreffen. So erklärte Äthiopiens Regierungschef Meles Zenawi Ende 2008, da es in Addis Abeba keine Börse gebe und nur jeder zehnte Bürger überhaupt ein Sparkonto besitze, sei das Land sicher vor der Krise. Die Auswirkungen der kreditfinanzierten Massenspekulation schienen weit weg.

Dies änderte sich schnell. Laut einer Weltbank-Studie von 2009 verringerte sich in 94 von 116 untersuchten Entwicklungsländern das Wirtschaftswachstum. Hinzu kam eine massive Kreditklemme. Die Weltbank schätzt, daß umgerechnet zwischen 270 und 700 Milliarden US-Dollar zur Finanzierung von Investitionen und Konsum fehlten, da Privatbanken kaum noch Geld an die Länder des Südens geben. Nach einer Analyse der entwicklungspolitischen Organisationen erlassjahr.de und Kindernothilfe droht sieben afrikanischen Staaten bereits die Zahlungsunfähigkeit. Dazu gehören Benin, Burundi, Liberia, Moçambique und Niger. Weitere sechs weisen demnach ein hohes Risiko für einen Staatsbankrott auf.

Eine gravierende Krisenwirkung war der Rückgang der Rohstoffnachfrage. Viele Entwicklungsländer sind abhängig von der Ausfuhr derartiger Produkte. So gingen beispielsweise die Gewinne Nigers aus seinem Uran­exportgeschäft um die Hälfte zurück. Die Elfenbeinküste mußte als weltweit größter Kakaoexporteur mit Subventionen in Höhe von 150 Millionen Euro den Marktpreis stabilisieren, um seine Produzenten vor dem Ruin zu schützen. Der um 40 Prozent gefallene Preis für Eisenerz brachte den Senegal und Mauretanien in Bedrängnis.

Rücküberweisungen von Arbeitsmigranten sind ein zentraler Wirtschafts- und Finanzfaktor vieler der ärmeren Staaten. Die Summen, die monatlich an die Familien »zu Hause« fließen, machen in den Ländern des Südens meist einen bedeutenden Teil des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus (z.B. in Haiti etwa 20 Prozent, in Honduras 24,5 Prozent). Weltweit belaufen sich die privaten Überweisungen der Arbeitsnomaden jährlich auf umgerechnet rund 282 Milliarden US-Dollar. Da viele dieser Menschen in extrem prekären Beschäftigungsverhältnissen ohne Kündigungsschutz arbeiten, waren sie meist die ersten, die in der Finanzkrise ihren Job verloren. Die Unterstützungszahlungen brachen in der Folge massiv ein.

Verheerend wirkte sich auch die Spekulation mit Nahrungsmitteln aus. Nach dem Platzen der Immobilienblasen konzentrierten sich Akteure der Finanzmärkte auf Börsengeschäfte mit agrarischen Rohstoffen. Die Deutsche Bank warb mit einem Flyer, der mittels Papiertüten einer Bäckereikette in Frankfurt am Main verteilt wurde: »Freuen Sie sich über steigende Preise? – Alle Welt spricht über Rohstoffe – mit dem Agriculture Euro Fonds haben Sie die Möglichkeit, an der Wertentwicklung von sieben der wichtigsten Agrarrohstoffe zu partizipieren« hieß es da.

Im Zuge solcher Spekulationen stieg zwischen Ende 2006 und März 2008 der Preis für die Grundnahrungsmittel Reis und Getreide um 126 Prozent. Dies ließ die Anzahl derjenigen, die weltweit in extremer Armut leben, weiter steigen – zwischen 2007 und 2008 betraf das etwa 140 Millionen Menschen, und die Gesamtzahl der Betroffenen erhöhte sich auf 963 Millionen. Die UN-Handels- und Entwicklungsorganisation (UNCTAD) schätzte sogar, daß bis zu 74 Prozent des Anstiegs der Nahrungsmittelpreise auf Spekulation zurückzuführen sind.

Zwischen 2007 und 2009 ging der Kapitalfluß in die Entwicklungsländer um etwa 40 Prozent zurück. Staatliche Mittel für den Bildungs- und Gesundheitssektor sowie im Bereich sozialer Sicherung wurden gekürzt. Dabei haben sich die Industriestaaten verpflichtet ihre sogenannte ODA-Quote (Anteil der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit im Verhältnis zum BIP) auf 0,7 Prozent anzuheben. Die EU-Staaten haben verbindlich zugesagt, dies bis 2015 erreichen zu wollen. Dennoch sank die Summe der globalen Entwicklungshilfezahlungen von 2008 auf 2009 um knapp drei Milliarden US-Dollar. Für 2010 rechnet die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, OECD, mit einem weiteren Rückgang um ca. elf Milliarden US-Dollar. Auch Deutschland hat 2010 seine Entwicklungshilfe um geschätzte zwölf Prozent zurückgefahren.

Zwar gab es 2010 Anzeichen für eine Erholung der makroökonomischen Kennzahlen einiger Entwicklungsländer. Das Deutsche Institut für Entwicklungspolitik konstatierte sogar: »Sie (die Staaten) haben sich als bemerkenswert widerstandsfähig erwiesen.« So wird Afrikas Wirtschaft nach dem krisenbedingten Wachstumseinbruch im Jahr 2009 dieses Jahr um vorrausichtlich 4,5 Prozent zulegen, für das kommende Jahr wird ein Plus von 5,2 Prozent erwartet. Doch auch das liegt hinter dem Trend vor der Krise.

Jenseits der makroökonomischen Daten bleiben strukturelle Probleme wie die hohe Abhängigkeit von Nahrungsimporten und die damit verbundene Verwundbarkeit – oder wurden, etwa durch die Spekulation mit Nahrungsmitteln und Land, noch verschärft. Ungeachtet aller Lehren aus der Finanzmarktkrise setzt die EU in Verhandlungen mit Entwicklungs- und Schwellenländern über Handels- und Partnerschaftsabkommen weiter auf Liberalisierung von Finanzmärkten, Deregulierung und Privatisierung. Genau jene neoliberalen Konzepte also, die wesentlich zur globalen Krise geführt hatten.

junge Welt, 23. Dezember 2011