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Anpassungsprogramme, Rezession und soziale Notlagen in Griechenland

Nachricht von Alexander Ulrich,

Auswertung der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage des Abgeordneten Alexander Ulrich u.a. und der Fraktion Die Linke zu Anpassungsprogrammen, Rezession und sozialen Notlagen in Griechenland

Bereits im Dezember 2012 hatten wir die Bundesregierung mit einer Kleinen Anfrage über die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in Griechenland befragt, insbesondere im Zusammenhang mit den Kürzungspaketen. Die Antwort war insgesamt aufschlussreich. Es wurde deutlich, dass das Kürzungsdiktat der Troika Griechenland in die Rezession treibt und die öffentliche Verschuldung nicht senkt, sondern immer weiter erhöht. Das war längst offenkundig, aber aus der Feder der Bundesregierung hatte die faktische Aussage, dass die neoliberale Krisenpolitik in Griechenland gescheitert ist, dennoch einen gewissen Neuigkeitswert. Der Antwort war auch zu entnehmen, dass sich die sozialen Probleme in Griechenland in wenigen Jahren massiv zugespitzt haben.

Unsere Fragen und die Antworten der Regierung vom Dezember sind hier zu lesen. Einen auswertenden Kommentar gibt es hier.

Bei den Antworten auf viele der von uns gestellten Fragen wurde wie gewohnt ein starkes Bemühen der Regierung deutlich, möglichst wenig Informationen über die Folgen ihrer Krisenpolitik preiszugeben. In vielen Antworten zeigte sie sich als zynischer Meister der Zahlen-Jonglage und gekonnter Umschiffung kritischer Aussagen. Insbesondere der Austausch mit MitstreiterInnen aus Griechenland war in dieser Hinsicht sehr aufschlussreich. Marica Frangakis (Syriza, Euromemo) und Thanos Contargyris (Attac Hellas) haben die Antwort der Regierung kommentiert. Diese Kommentare stehen hier zum Download bereit.

Im Februar haben wir eine weitere Anfrage gestellt, um an jenen Stellen nachzuhaken, an denen die Antworten aus unserer Sicht unbefriedigend waren. Die Antwort auf diese Anfrage liegt nun vor und kann hier als PDF abgerufen werden. Dass Informationsniveau ist vollkommen inakzeptabel. Die Regierung umgeht konsequent der Nennung zahlreicher Fakten, nach denen sie gefragt wird. Gegenüber der griechischen Bevölkerung, die von massiven Lohn- und Sozialkürzungen, einem kollabierenden Gesundheitssystem, Armut, Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit geplagt sind, kann die Antwort der Bundesregierung nur als ignorant und zynisch betrachtet werden. Nichtsdestotrotz enthält sie auch einige interessante Informationen. Im Folgenden werden verschiedene Teilebereiche der Antwort ausgewertet um einerseits die interessanten Informationen aufzubereiten und andererseits den Vorwurf eines ignoranten, zynischen Stils mit Inhalt zu füllen.

Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit

Angesichts der hohen Jugendarbeitslosigkeit wurde in der EU jüngst eine so genannte „Jugendgarantie“ beschlossen. Damit verpflichten sich die Mitgliedsländer, allen Jugendlichen spätestens nach vier Monaten Arbeitslosigkeit ein Jobangebot zu machen. Angesichts einer Jugendarbeitslosigkeitsquote von über 60 Prozent fragten wir die Bundesregierung, wie diese Garantie in Griechenland eingehalten werden könnte (Frage 4).

Die Bundesregierung weist in ihrer recht umfassenden Antwort auf diese Frage zunächst darauf hin, dass Griechenland zuletzt 786 Millionen Euro aus dem Europäischen Sozialfonds für die Schaffung von Arbeitsplätzen erhalten habe. Nun ist im Jahr 2012 aber die Jugendarbeitslosigkeit deutlich gestiegen, woraus sich schließen lässt, dass diese Mittel nicht ansatzweise ausreichen, um die negativen Auswirkungen der Rezession auf die Jugendbeschäftigung auszugleichen. Kein Wunder. 786 Millionen Euro sind knapp 4.000 Euro pro jugendlichem Arbeitslosen in Griechenland. Allerdings stehen diese Mittel nicht ausschließlich für die Schaffung von Arbeitsplätzen für Jugendliche, sondern allgemein für die Schaffung von Arbeitsplätzen, zur Verfügung. Plausibler ist also eine Projektion auf alle Arbeitslosen. Damit schrumpfen die Mittel pro Kopf auf gut 500 Euro im Jahr zusammen.

Zudem verweist die Bundesregierung darauf, dass im Rahmen der EU-Haushaltspolitik beschlossen wurde, sechs Milliarden Euro zur Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit in der EU bereitzustellen. Die Hälfte davon kommt allerdings aus den Mitteln des Sozialfonds, sodass es sich lediglich um eine Umschichtung, nicht aber um eine Steigerung der Aufwendungen für die Schaffung von Arbeitsplätzen handelt. Die restlichen drei Milliarden Euro für die gesamte EU bedeuten weitere 500 Euro pro jugendlichem Arbeitslosen.

Diese Mini-Initiativen in Kombination mit einer politischen Linie, die insgesamt die Rezession immer weiter vorantreibt, werden die Probleme nicht lösen. Sie werden sie nicht einmal spürbar verkleinern. Deswegen ist wohl die dritte Antwort der Bundesregierung die ehrlichste: Für Mitgliedsstaaten in denen gerade tiefgreifende Kürzungspakete durchgesetzt werden, wird die Möglichkeit einer „graduellen Implementierung der Jugendarbeitslosigkeit“ vorgesehen. Das heißt, die EU drückt ein Auge zu, wenn Griechenland die Jugendarbeitslosigkeit nicht so schnell abbaut wie vorgesehen. Nett von der EU. Aber das Problem der Jugendarbeitslosigkeit lässt sich so nicht lösen.

Ausgaben- und Einnahmeseite des Staates

Aus der Antwort der Bundesregierung vom Dezember ging hervor, dass die Steuereinnahmen des Staates infolge der Rezession deutlich zurückgehen. Die Regierung gab zugleich den Hinweis auf eine geplante Steuerreform, durch die die Einnahmen wieder stabilisiert werden sollen. Diese Reform umfasst auch eine Bekämpfung von Steuerhinterziehung. Marica Frangakis ließ uns wissen, dass diese Maßnahmen lediglich drei Prozent des gesamten Konsolidierungsprogramms ausmachen. Der Beitrag von Steuerhinterzieher_innen zur Haushaltskonsolidierung bleibt also verschwindend gering.

Daraufhin haben wir im Februar weitere Fragen zur Gewichtung von Ausgabenkürzungen und Einnahmesteigerungen gestellt (Frage 8). Die Antwort hat durchaus Substanz: 84 Prozent des Programms beziehen sich auf die Ausgabenseite - also Abbau von öffentlicher Beschäftigung, Löhnen, Sozialleistungen und Renten.

Bei den restlichen 16 Prozent spielt die Reform der Besteuerung selbstständiger Arbeit laut der Bundesregierung eine besondere Rolle. Nach den Auswirkungen auf Selbstständige mit einem Einkommen nahe der Armutsgrenze und jene mit einem jährlichen Einkommen von über 100.000 Euro gefragt (Frage 10), gab die Bundesregierung an, dass es künftig nur noch zwei Steuersätze gebe: 25 Prozent für Einkommen unter 50.000 Euro und 33 Prozent für höhere Einkommen. Um die Frage nach den Auswirkungen auf verschiedene Einkommensklassen vollständig zu beantworten, hätte die Regierung jedoch auch die Steuersätze vor der Reform einbeziehen müssen. Das tut sie nicht, weil dann deutlich würde, dass die Steuerlast lediglich für Selbstständige mit geringem Einkommen erhöht wird. Für jene, die mehr als 100.000 Euro verdienen, sinkt die Belastung um ca. ein Drittel (von 45 Prozent auf 33 Prozent).

Im Dezember hatte die Bundesregierung auch die Steuererhöhung für Motoröl als Beispiel für eine Stärkung der Staatseinnahmen angeführt. Über Heizöl hatte sie nicht gesprochen. Wir haben daher expliziter nachgefragt, wie sich die Besteuerung für Heizöl von 2010 bis 2012 entwickelt hat (Frage 9). Der Wintersatz hat sich in etwa verdreifacht. Da unsere griechischen Mitstreiter_innen darauf hingewiesen hatten, dass viele Menschen im Norden des Landes sich dies nicht leisten können und daher frieren müssen, haben wir die Bundesregierung zugleich nach einer Einschätzung über die Auswirkungen der Steuerreform auf die wärmetechnische Versorgung gefragt. Diese Frage blieb jedoch gänzlich unbeantwortet.

Entwicklung der Kaufkraft

Einer der zentralen Vorwürfe an die Kürzungspolitik ist, dass die Kaufkraft der Bevölkerung dadurch massiv sinkt und so eine Rezessionsspirale in Gang gesetzt wird. Wir hatten bereits im Dezember nach der Entwicklung des öffentlichen und privaten Konsums in Griechenland gefragt. Die Antwort ist ein weiteres Beispiel für Zahlen-Jonglage: Der Konsum ging 2012 um fast acht Prozent zurück, und die Erwartungen für 2013 sind nicht besser. Die beiden vorangegangen Jahre, in denen auch schon erheblich gekürzt wurde, werden jedoch ausgeklammert. Wir haben daher im Februar explizit nach den Daten für 2010 und 2011 gefragt. Ergebnis: Bereits in diesen Jahren ist der private Konsum um 6,2 bzw. 7,7 Prozent zurückgegangen. Der öffentliche Konsum ging um 8,7 bzw. 5,2 Prozent zurück. Der Zeitraum 2010 bis 2013 besteht also aus vier aufeinanderfolgenden Jahren, in denen die Kaufkraft rapide gesunken ist. Es ist vollkommen offensichtlich, dass man so keine wirtschaftliche Entwicklung in Gang setzen kann.

Im Übrigen erwartet die Bundesregierung in den Jahren 2013 und 2014 laut ihrer Antwort auf Frage 12 einen weiteren Rückgang der Pro-Kopf-Einkommen um rund 20 Prozent. Das Preisniveau wird indes kaum sinken. Die Kaufkraft fällt also weiter ins Bodenlose. Nachdem bereits fast 25 Prozent der griechischen Wirtschaft weggebrochen sind, ist eine Trendwende bis auf weiteres nicht in Sicht.

Teilzeit und befristete Beschäftigung

Mit Frage 6 der Anfrage vom Januar erkundigten wir uns nach der Entwicklung so genannter atypischer Beschäftigungsverhältnisse in Griechenland. Teilzeitbeschäftigung ist auf dem Vormarsch. Anfang 2010 waren 16,0 Prozent der Beschäftigten in Teilzeitarbeitsverhältnissen. Zwei Jahre später lag die Quote bereits bei 19,1 Prozent - Tendenz steigend.

Ein klassisches Beispiel für mehr oder weniger gekonnte Zahlen-Jonglage sind die Angaben der Regierung zu befristeten Arbeitsverhältnissen. Anfang 2010 betrug der Anteil der Arbeitnehmer mit zeitlich begrenzen Verträgen 29,0 Prozent. Zwei Jahre später betrug er noch 25,5 Prozent. Der Anteil befristeter Beschäftigung ist also „deutlich zurückgegangen“. Das liest sich so, als gäbe es in Griechenland einen Trend zu mehr unbefristeter, sicherer Beschäftigung. Dieser lässt sich allerdings nur dann so deuten, solange man keine Zahlen zur Gesamt-Beschäftigung einbezieht. Im Jahr 2010 lag die Arbeitslosigkeit in Griechenland noch bei 12,9 Prozent. Bis 2012 hatte sie sich fast verdoppelt. Natürlich sind von der in der Krise aufgekommenen neuen Arbeitslosigkeit vor allem befristet Beschäftigte betroffen, weil sie leichter zu kündigen sind bzw. Verträge einfach nicht verlängert werden. Die Zahlen der Bundesregierung sagen also nicht aus, dass es mehr unbefristete Arbeit gibt, sondern dass die befristet Beschäftigten besonders hart von der Krise betroffen sind, weil sie die ersten sind, die ihre Jobs verlieren.

Ausgaben für Arbeitslosenunterstützung

Im Dezember haben wir die Bundesregierung u.a. gefragt, wie sich nach ihrer Kenntnis „seit 2010 durch die mit der Rezession einhergehende steigende Arbeitslosigkeit auf die Ausgaben für die Arbeitslosenunterstützung“ entwickelt haben. Der Antwort war zu entnehmen, dass die steigende Arbeitslosigkeit die Staatskasse arg belastet. So betrugen die Ausgaben für Arbeitslosenunterstützung im Jahr 2007 759 Millionen Euro. Bis 2011 sind sie auf 2.151 Millionen Euro in die Höhe geschnellt - trotz deutlicher Leistungskürzungen. Wir hatten auch gefragt, wie sich die Ausgaben entwickelt hätten, wenn es keine Kürzungen gegeben hätte. Die Antwort: Griechenland wäre pleite gegangen und die Arbeitslosenunterstützung insgesamt nicht mehr finanzierbar gewesen. Eine steile These angesichts dessen, dass es ja gerade die Kürzungspolitik war, die die Arbeitslosigkeit in die Höhe getrieben hat.

Da diese Antwort unbefriedigend ist, hatten wir die Frage im Januar anders formuliert: „Wie hoch liegen die realisierten bzw. erwarteten Einsparungen in Griechenland durch Anpassungsmaßnahmen bei der Arbeitslosenunterstützung?“ (Frage 2) Die Antwort: „Entsprechende Daten liegen nicht vor“. In anderen Worten: Man kürzt die Arbeitslosenhilfe ohne eine Idee davon zu haben, wie stark der Haushalt dadurch entlastet wird. Das ist vollkommen unglaubwürdig.

Gesundheitsversorgung der Bevölkerung

Auch beim Thema Gesundheit haben wird nochmal nachgehakt. Während in Griechenland Rentnerinnen und Rentner das Gesundheitsministerium stürmen oder vor Apotheken Selbstmord begehen, argumentierte die Bundesregierung, dass trotz drastischer Einschnitte auf eine Wahrung und Verbesserung des allgemeinen Zugangs zu Gesundheitsdienstleistungen geachtet wird.

In Frage 14 der aktuellen Anfrage haben wir uns nun nach dem Level der Ausgaben für Gesundheit im internationalen Vergleich erkundigt. 2010 gab der „verschwenderische“ griechische Staat 6,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für das Gesundheitswesen aus. Bis 2015 soll dieser Wert auf 6,2 Prozent sinken. Zum Vergleich: Auch in Deutschland wurde in den letzten zehn Jahren die Gesundheitsversorgung verschlechtert. Dennoch betrugen die Ausgaben in Relation zum BIP 2010 immer noch 8,0 Prozent. Bis 2015 wird eine Steigerung auf 8,4 Prozent erwartet.

Kapitalverkehrskontrollen

Im Dezember hatten wir die Bundesregierung bereits zur Kapitalflucht und den Potenzialen von Kapitalverkehrskontrollen befragt. Aus der Antwort ging hervor, dass von 2009 bis 2012 rund ein Drittel der griechischen Bankeinlagen aus Griechenland abgezogen wurde. Das ist zweifelsohne ein großes Problem für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Zur Frage nach Kapitalverkehrskontrollen antwortete die Regierung lediglich: „Die Kapitalverkehrsfreiheit ist eine der Grundfreiheiten der Europäischen Union“. Richtig. Eine andere Grundfreiheit der Europäischen Union ist übrigens die Personenverkehrsfreiheit. Interessant ist, dass die Bundesregierung derzeit sehr engagiert ist, diese Freiheit für Bulgaren und Rumänen außer Kraft zu setzen, weil sie „Armutszuwanderung“ befürchtet. Der starke Glaube an die Grundfreiheiten der EU ist daher ein recht unglaubwürdiges Argument.

Im Februar haben wir die Frage anders gestellt: Welche potenziellen Auswirkungen hätten Kapitalverkehrskontrollen gehabt, so man sie in Griechenland eingeführt hätte. Die Antwort: „An Spekulationen über hypothetische Wirkungen nicht ergriffener Maßnahmen beteiligt sich die Bundesregierung nicht.“ Danke.

Gefragt haben wir die Bundesregierung auch nach einer Einschätzung zu den Kapitalverkehrskontrollen, die Island im Kontext der Krise vorübergehend eingeführt hatte - ganz offenkundig eine sehr erfolgreiche Maßnahme. Die Antwort: „Island ist kein Mitglied der Europäischen Union. Die Einführung von Kapitalverkehrskontrollen in Island stellte eine vorübergehende Notmaßnahme dar, um eine schlagartige Kapitalflucht zu verhindern.“ Das ist richtig und bekannt, aber keine Antwort auf die Frage.

Fazit

Alles in allem bleibt zweierlei festzustellen: 1) Die neoliberale Krisenpolitik der Bundesregierung verschärft die Finanz- und Schuldenkrise und verursacht zugleich massive soziale Notlagen. Es geht ganz offenkundig nicht darum, die Krise zu überwinden. Es geht darum, die Kosten nach unten umzuverteilen. 2) Der Informationsgehalt der Regierungs-Antworten ist vollkommen inakzeptabel. Die Ausweichmanöver und Zahlenverdrehereien bringen eine unerträglich zynische und ignorante Haltung gegenüber den Folgen dieser Krisenpolitik zum Ausdruck. Zurecht werden sämtliche Besuche deutscher Regierungsvertreter in Südeuropa von Massenprotesten begleitet. Als Fraktion DIE LINKE sind wir solidarisch mit den Menschen, die unter den Folgen dieser Politik zu leiden haben und Widerstand dagegen leisten.

 

linksfraktion.de, 7. März 2013