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Ankara muss Krieg gegen eigene Bevölkerung sofort stoppen

Im Wortlaut von Heike Hänsel,

 

Von Heike Hänsel, stellvertretende Fraktionsvorsitzende

 

Abgeriegelte Städte, verzweifelte Menschen und überall Polizei und Armee: Bei einem Besuch im Südosten der Türkei hat sich mir ein erschreckendes Bild geboten. Zwei Tage lang war ich mit Abgeordneten aus Dänemark und Finnland sowie Solidaritätsgruppen aus Griechenland und Spanien in Diyarbakir unterwegs, um mich vor Ort über die aktuelle Situation zu informieren. Dabei wurde vor allem eines deutlich: Die türkische Regierung muss die barbarische Politik der Abriegelung und monatelangen Ausgangssperren in den kurdischen Städten im Südosten des Landes sofort beenden. Darauf drängten bei einer Solidaritätskonferenz auch der Vorsitzende der linksgerichteten Partei HDP, Selahattin Demirtas.

Vor Ort musste ich erfahren, dass Frauen und Kinder die Hauptleidtragenden des Krieges sind, den die AKP-Regierung von Recep Tayyip Erdogan gegen einen Teil der eigenen Bevölkerung führt. In Diyarbakir kreisten Tag und Nacht Armeehubschrauber über der Altstadt Sur, Schüsse waren zu hören. Ein Teil von Sur ist bereits seit 80 Tagen unter einer 24-stündigen Ausgangssperre. Bisher können einige der Angehörigen nicht einmal die Leichen der Getöteten bergen. Eine Mutter beklagte, dass der Leichnam ihrer 16jährigen Tochter seit 42 Tagen in Sur auf der Strasse liegt.

Viele EinwohnerInnen sind schon geflohen, der östliche Teil von Sur ist dem Erdboden gleichgemacht. Hunderte Häuser sind zerstört und Lastwagen transportieren den Schutt weg. Offenbar will die türkische Regierung dort nun neue teure Häuser aufbauen und neue Leute ansiedeln – eine brachiale politische Gentrifizierung, die offenbar ein Ziel hat: den politischen Widerstand in der Region zu brechen.

Uns selbst wurde ebenfalls der Zugang zur Altstadt von Diyarbakir versagt, so dass wir unsere Beobachterfunktion nicht wahrnehmen konnten. Ebenso geht es nach Berichten von Menschenrechtsorganisationen auch Ärzten, Anwälten und sogar Journalisten. Bereits in der Vergangenheit wurden mehrfach Journalisten in Cizre und Sur durch Scharfschützen schwer verletzt. Selbst auf Zivilisten mit weißen Fahnen wird geschossen. Nach den Massakern in Cizre hat sich einmal mehr der Verdacht auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit genährt. Die internationale Delegation, mit der ich vor Ort war, fordert daher ein sofortiges Ende der militärischen Belagerungspolitik, Zugang für Sanitäter und Ärzte sowie eine internationale Untersuchungskommission über das Vorgehen der türkischen Armee gegen Zivilisten. Nachdem unsere Delegation ihre Abschlusserklärung vorgestellt hatte, machten wir uns auf den Weg zur Altstadt Sur von Diyarbakir. Dort wurden wir bereits nach wenigen hundert Metern auf offener Straße von der Polizei gestoppt, im Hintergrund standen Wasserwerfer. Erst nach einigen Verhandlungen konnten wir weitergehen, wurden dann aber vor dem Eingangstor nach Sur endgültig aufgehalten. Wir gaben unsere Presseerklärung direkt an Ort und Stelle ab.

Nach diesen Erfahrungen ist einmal mehr klar, dass die Linke in Europa die HDP in ihrem Kampf für Demokratie und einen neuen Friedensprozess in der Türkei unterstützt. Das war auch die Botschaft der Solidaritätskonferenz in Diyarbakir, an der neben Selahattin Demirtas auch der Vorsitzende der LINKEN, Bernd Riexinger, teilgenommen haben.

Das Schweigen der Bundesregierung zur Kriegspolitik von Erdogan ist ein Skandal, zumal es dabei nur um den schmutzigen Deal der Flüchtlingsabwehr geht.

Es ist offensichtlich, dass Präsident Erdogan ein immer größeres Sicherheitsrisiko für die gesamte Region wird. Vor allem seine Androhung, Bodentruppen nach Syrien zu schicken, birgt die Gefahr einer direkten Konfrontation zwischen der NATO und Russland. Jegliche Forderung nach einer Flugverbotszone oder Pufferzone im Norden Syriens muss zurückgewiesen werden. Zudem gibt es mittlerweile belastbare Beweise, dass die Türkei terroristische Gruppen wie die Al-Nusra-Front und Ahrar-Al-Sham offen mit Waffen unterstützt und nach wie vor Rückzugsgebiet für die Kämpfer des Islamischen Staates ist. Diese Kamikaze-Politik muss gestoppt werden, deswegen fordern wir die Einstellung jeglicher Finanzhilfen, Waffenexporte und militärischen Zusammenarbeit mit der Türkei. Stattdessen muss endlich Druck auf die türkische Regierung ausgeübt werden, damit der Friedensprozess mit der PKK wiederbelebt wird.

 

linksfraktion.de, 23. Februar 2016