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Foto: Rico Prauss

»An einem Denkmal für Finanzminister Schäuble werden sich unsere Enkel nicht erfreuen«

Interview der Woche von Dietmar Bartsch, Sahra Wagenknecht,

 

Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch, die 1. und der 2. stellvertretende Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, sprechen im Interview der Woche über Schuldenmacherei und Investitionsstau, über Steuersparmodelle à la Juncker und ein Zukunftsprogramm für Europa, über friedenspolitische Grundsätze und Selbstaufgabe, über Fremdenfeindlichkeit und rechten Protest, über Partnerschaft und Vasallentreue sowie über die neue Wirtschafts-NATO namens TTIP

 

DIE LINKE stellt erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik einen Ministerpräsidenten. Anfang Dezember wählte der Thüringer Landtag Bodo Ramelow. Der sieht darin einen Wendepunkt für DIE LINKE. Wo geht die Reise 2015 hin?

Dietmar Bartsch: Die PDS erreichte zur Landtagswahl in Thüringen 1990 ganze 9,7 Prozent, DIE LINKE schaffte 2014 28,2 Prozent. Diese Entwicklung ist sensationell und Ergebnis beharrlicher Arbeit. Für mich gehören zum Beispiel der 6. Mai 2012 und der 5. Dezember 2014 zusammen und sind fast gleich bedeutsam. Vor knapp drei Jahren stellte DIE LINKE in Thüringen nach Stichwahlen drei Landrätinnen, eine Oberbürgermeisterin und weitere Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, jetzt wurde Bodo Ramelow zum Ministerpräsidenten gewählt. Mit der rot-rot-grünen Koalition in Thüringen und der Fortführung der SPD-LINKEN-Regierung in Brandenburg haben wir neue Gestaltungsmöglichkeiten, auch bundespolitisch. Das wird ernst genommen. Parallel zur Regierungsbildung in Erfurt predigte der Bundespräsident Zweifel, wollte die Kanzlerin ihre unbotmäßigen Landeskinder züchtigen und der Bundestagspräsident griff tief in die Mottenkiste der Stigmatisierung der Linken. Wir sollten Ministerpräsident Bodo Ramelow und unsere Ministerinnen und Minister solidarisch begleiten und mit Erwartungen auf dem Teppich bleiben. Maßstab sind die anspruchsvollen Koalitionsverträge, nicht die Parteiprogramme.

Die Kanzlerin hat schroff auf die Wahl von Bodo Ramelow reagiert. Die rot-rot-grüne Koalition in Thüringen sei eine Bankrotterklärung der SPD. Sie sah darin ein Vorzeichen für die Bundestagswahl 2017. Vizekanzler Gabriel hingegen wiegelte ab, die Wahl habe keine Auswirkungen auf den Bund.

Sahra Wagenknecht: Dass DIE LINKE einen Ministerpräsidenten stellt, ist ein normaler demokratischer Vorgang. Umso absurder ist es, wie insbesondere von CDU und CSU versucht wird, die Wahl Bodo Ramelows zum Untergang des Abendlandes hochzustilisieren, und wie die SPD auch in dieser Frage herumeiert. Das zeigt auch, welche Unsicherheit in den Reihen der Bundesregierung herrscht, was die zukünftige Machtkonstellation im Bund betrifft. Es geht jetzt aber nicht um Konstellationsspielereien für die Bundestagswahl 2017. Entscheidend ist, dass die neue Thüringer Regierung zeigen kann, dass sie eine gerechte und soziale Politik im Interesse der Menschen macht.

Gabriel kritisierte in diesem Zusammenhang DIE LINKE. Die SPD werde ihre außenpolitischen Grundsätze nicht verkaufen – auch nicht für die Aussicht, ins Kanzleramt zu kommen. Ist die Außenpolitik der Knackpunkt für Rot-Rot-Grün auf Bundesebene?

Sahra Wagenknecht: DIE LINKE kann ihre friedenspolitischen Grundsätze nicht aufgeben, ohne sich selbst aufzugeben. Doch warum sollte man sich nicht auf eine friedliche Außenpolitik unter Ausschluss von Bundeswehreinsätzen im Ausland einigen können? Gerade erst hat eine Umfrage gezeigt, dass die Mehrheit der Bevölkerung den Afghanistaneinsatz der Bundeswehr negativ bewertet. Auch der Export von Waffen in Krisengebiete muss ein Ende haben. Diese Punkte sind für uns nicht verhandelbar. Wenn die Friedensbewegung stärker wird, kann sie Grüne und SPD vielleicht wieder zur Vernunft bringen, denn auch in deren Reihen gab es früher für diese Positionen Rückhalt. Auch in der Europapolitik ist es überfällig, eine Abkehr von der unsozialen Kürzungspolitik durchzusetzen, die Europa in den Abgrund führt. Wer es ernst meint mit dem Kampf gegen Massenarbeitslosigkeit und mit dem ökologischen Umbau, der muss ausreichende öffentliche Investitionsprogramme auf den Weg bringen. Dies ist mit der CDU/CSU nicht durchsetzbar, sondern nur mit uns. Gleiches gilt für die Ablehnung unsozialer Freihandelsabkommen oder für einen menschlichen Umgang mit Flüchtlingen, die in Europa Schutz suchen.

Die außenpolitische Situation bleibt auch 2015 brisant. Wie sehen Sie Rolle der deutschen Politik angesichts der vielen Konflikte? Und wie lässt sich die zum Beispiel die Situation in der Ukraine deeskalieren?

Sahra Wagenknecht: Deutschland muss sofort zu einer konstruktiven Ostpolitik im Geiste Willy Brandts zurückkehren. Kritik an Merkels Eskalationspolitik wird zwar selbst von einer geballten Phalanx ehemaliger Spitzenpolitiker artikuliert, unter anderem von Hans-Dietrich Genscher, Roman Herzog oder Horst Teltschik, dem außenpolitischen Berater Kohls. Aber es ist beängstigend, dass die Bundesregierung und die Leitmedien an ihrer einseitigen Parteinahme im Ukrainekonflikt festhalten. Die Fraktionen der aktuellen Kiewer Regierungsparteien sind durchsetzt von Rechtsradikalen und Kommandeuren der nationalistischen Milizen. Das Regierungsprogramm und die Rhetorik sind auf Krieg getrimmt.
Die Unterstützung einer solchen ukrainischen Regierung, die sich auf faschistische Kräfte stützte und stützt, ist ein ungeheuerlicher - und für das Verhältnis zu Russland sehr folgenreicher - Tabubruch in der deutschen Außenpolitik. Eine Deeskalation müsste damit beginnen, dass man die ukrainische Regierung dazu bewegt, den Konflikt friedlich zu lösen. Eskalierende Maßnahmen, wie bilaterale Waffenlieferungen von NATO-Staaten, die vom IWF oder durch deutsche Kreditbürgschaften indirekt finanziert werden, müssen sofort gestoppt werden. Ebenfalls müssten sämtliche Sanktionen gegen Russland sofort aufgehoben werden.

Trotz der Hinweise durch Edward Snowden geht die Massenüberwachung der Bevölkerung durch Geheimdienste weiter. Die Zusammenarbeit von NSA und BND ist nach wie vor nicht geklärt, die Kanzlerin schweigt. Müssen sich die Menschen einfach daran gewöhnen, dass ihre Telekommunikation überwacht wird?

Dietmar Bartsch: Auf der Demo vor 25 Jahren auf dem Berliner Alex äußerte Gregor Gysi die Hoffnung, „die Bemerkung, das möchte ich Dir lieber nicht am Telefon sagen, sollte für immer der Geschichte angehören.“ Das ist ein frommer Wunsch geblieben. Aber diesen Zustand dürfen wir nicht hinnehmen. Zum Schutz der Würde des Menschen, hierzulande oberste Staatsräson, gehört der Schutz der Privatsphäre. Massenhafte Überwachung und Rechtsstaat gehen ebenso wenig zusammen wie transatlantische Partnerschaft und Vasallentreue. Die jüngsten Haushaltsberatungen zeigten, dass die Bundesregierung weit davon entfernt ist, entsprechende Konsequenzen zu ziehen. Verglichen mit den Mitteln für das Bundeskriminalamt und das Bundesamt für Verfassungsschutz liegt der Etat für den Datenschutz bei gerade einmal zwei beziehungsweise vier Prozent.

Was als Bankenkrise begann, ist inzwischen zu einer europäischen Wirtschafts- und Finanzkrise geworden. Die Konjunktur in der Eurozone schwächelt, die Arbeitslosigkeit in Südeuropa, insbesondere unter Jugendlichen, ist hoch. Der politische Streit dreht sich inzwischen um die Frage: Weiter sparen oder investieren? Was ist richtig und warum?

Sahra Wagenknecht: Als Erstes müssen die Kürzungen von Löhnen, Renten und Sozialausgaben in allen betroffenen Ländern sofort gestoppt und zurück genommen werden. Diese Maßnahmen strangulieren die gesamte Wirtschaft in der Eurozone. Dazu kommen die wachstumshemmenden Folgen der gigantischen Investitionslücke in Deutschland und Europa. Aber Junckers so genanntes Investitionsprogramm ist erstens von der angestrebten Höhe vollkommen unzureichend. Und zweitens ein Umverteilungsprogramm von unten nach oben. Mit einem aus bestehenden Töpfen zusammengekratztem öffentlichem Betrag in Höhe von lediglich 21 Milliarden Euro soll privates Kapital in fünfzehnfacher Höhe angelockt werden. Wie soll das gehen? Der Steuerzahler soll für die Verluste der privaten Investoren in Haftung genommen werden. Statt dieser Trickserei brauchen wir in der Eurozone ein öffentliches Zukunftsprogramm für dringend notwendige Investitionen und Ausgaben von mindestens 500 Milliarden Euro im Jahr. Damit es sofort losgehen kann, sollte das billige Geld der EZB als Anschubfinanzierung eingesetzt und nicht mehr sinnlos in die Banken gepumpt werden. Danach sollte die Finanzierung aus den Einnahmen einer höheren Besteuerung von Millionären und Milliardären gesichert werden.

Wenn Investitionen nötig sind, wie können sie finanziert werden? Und müssen dafür neue Schulden aufgenommen werden?

Dietmar Bartsch: DIE LINKE propagiert keine Schuldenmacherei. In Mecklenburg-Vorpommern, in Brandenburg und im Land Berlin haben wir in Regierungsverantwortung anerkannt solide Haushaltspolitik gemacht. Aber die „schwarze Null“ im Haushalt darf nicht die Zukunft verbauen. An einem Denkmal für Finanzminister Schäuble werden sich unsere Enkel nicht erfreuen. Wenn wir ihnen kaputte Städte und Gemeinden, marode Gesundheits-, Kultur- und Bildungseinrichtungen hinterlassen, haben wir nichts gekonnt. Ehe wir allerdings über neue Schulden nachdenken, müssen wir über Einnahmen reden. Damit steht unweigerlich die Umverteilung auf der Tagesordnung. Der LINKEN geht es ausdrücklich nicht um allgemeine Steuererhöhungen. Wir wollen jene viel stärker in die Pflicht nehmen, die über extrem große private Vermögen verfügen.


Die Krise in Europa wird begleitet von Steuervermeidung internationaler Großkonzerne in Milliardenhöhe, organisiert über Steueroasen wie Luxemburg. Wie lässt sich das politisch eindämmen?

Sahra Wagenknecht: Jedenfalls nicht durch den jetzigen EU-Kommissionschef Juncker. Mit ihm wird der Bock zum Gärtner gemacht. Stattdessen wäre bei der Unternehmens- und Reichenbesteuerung eine EU-weite Koordinierung anzustreben. Sollte das nicht möglich sein, ist dem Steuerdumping der Konzerne auf nationaler Ebene ein Riegel vorzuschieben, indem Patent- und Lizenzgebühren sowie Zinsen, die im Empfängerland nicht mit mindestens 25 Prozent besteuert werden, nicht länger steuerlich abzugsfähig sind, das heißt in Zukunft vollständig der Gewinnbesteuerung unterliegen. Allein diese Maßnahme würde Deutschland zwischen 50 und 100 Milliarden Euro zusätzliche Steuereinnahmen pro Jahr bringen. Die Einkommens-, Vermögens- und Erbschaftsbesteuerung sollte an die Staatsbürgerschaft geknüpft werden, um auch hier verbreiteten Steuersparmodellen der Oberklasse die Grundlage zu entziehen.

Die Kluft zwischen Reich und Arm wächst laut OECD in Deutschland und anderswo ungebrochen weiter. Wie viel ökonomische Ungleichheit kann eine demokratische Gesellschaft verkraften?

Dietmar Bartsch: Wir sind Zeugen absurder Entwicklungen: Seit der 2008 ausgebrochenen Krise steigt die Zahl der Vermögens- und Einkommensmillionäre beständig. Die 500 reichsten Familien in Deutschland verfügen über ein Vermögen von 615 Milliarden Euro. Das sind zwei Bundeshaushalte. Da muss das Geld abgeholt werden, wo sonst?! Andererseits entpuppt sich das regierungsamtlich gefeierte „Jobwunder“ als potemkinsches Dorf, hinter dem massenhaft Leiharbeit und andere prekäre Beschäftigungen stecken, die wiederum Kinder- und Altersarmut hervorrufen. Der Zugang zu guter Bildung hängt auch vom Geldbeutel ab, so wird Zukunft verspielt. Ich bin kein Verfechter von Gleichmacherei, aber die horrende Verteilungsungerechtigkeit zählt zu den größten politischen Herausforderungen.

"Pegida", "Dügida", "Hogesa" – so lauten die Abkürzungen für neue rechte Protestbewegungen. Auf der Parteiebene ist es die AfD – wie muss DIE LINKE auf sie reagieren?

Dietmar Bartsch: Für Fremdenfeindlichkeit und rechten Protest, der sich gegen die Schwächsten richtet, darf es keine Toleranz geben. Menschen, die zu uns kommen, weil sie in ihrer Heimat um Leib und Leben fürchten müssen, sind nicht schuld, dass viele hierzulande um Arbeit, Einkommen und Zukunft bangen. Hier geht eine Saat auf, die nicht zuletzt Unionspolitiker legten, die populistisch vor angeblichen Asylbetrügern und „kriminellen Ausländern“ warnten. Im Bundestagswahlkampf 2013 rief die CSU: „Wer betrügt, der fliegt.“ Zeitgleich wünschte übrigens die NPD: „Guten Heimflug!“ Ich finde es großartig, dass die erste Amtshandlung der Ramelow-Regierung darin bestand, einen  Abschiebestopp für Flüchtlinge im Winter zu verfügen. Von der rechtspopulistischen AfD müssen wir uns klar abgrenzen. Auf parlamentarischer Ebene kann es keine gemeinsamen Anträge, Absprachen oder gar Bündnisse geben, das gilt von der Kommune bis ins Europäische Parlament.

Protest gibt es in weiten Teilen der Bevölkerung auch gegen Freihandelsabkommen wie TTIP, CETA oder TiSA. Er richtet sich vor allem gegen das Aufweichen sozialer und ökologischer Standards und gegen den sogenannten Investorenschutz. Die ehemalige US-Außenministerin Hillary Clinton hat gesagt, TTIP sei eine Art „Wirtschafts-NATO“. Wie bedeutsam sind diese Abkommen und welche Interessen stecken dahinter?

Sahra Wagenknecht: Die genannten Freihandelsabkommen sind ein Angriff auf Umwelt- und Sozialstandards, öffentliche Dienstleistungen, Mindestlöhne, die Versorgung mit günstigen Medikamenten, die Stabilität der Finanzmärkte, aber auch auf Demokratie und Rechtsstaat. Mit der geplanten Investitionsschiedsgerichtsbarkeit unter Umgehung demokratischer Entscheidungsprozesse sollen US-Konzernen Klagen ermöglicht werden, die existierende soziale und ökologische Standards aushebeln. Der Begriff der „Wirtschafts-NATO“ trifft es ganz gut: So wie die NATO ihre geostrategischen Interessen militärisch durchsetzt, soll TTIP dazu dienen, die Interessen europäischer und US-amerikanischer Konzerne rücksichtslos durchzusetzen. Dabei wären alleine internationale Organisationen berechtigt, weltweite Standards zu vereinbaren. TTIP ist Ausdruck einer aggressiven und imperialistischen Politik, die sich sowohl gegen die Interessen der ärmeren Länder als auch gegen die Interessen der Beschäftigten und Verbraucher hierzulande und in den USA und Kanada richtet. Das Abkommen muss gestoppt werden, so wie es mithilfe der Europäischen Bürgerinitiative versucht wird. Entscheidend ist jedoch, dass die Bundesregierung sich gegen TTIP positioniert. SPD-Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel muss jetzt Farbe bekennen und seiner verbalen Kritik an TTIP endlich konkrete Taten folgen lassen. TTIP muss verhindert werden!