Zum Hauptinhalt springen

ADHS: Medikamente sind der bequeme Weg

Im Wortlaut von Martina Bunge,

Von Martina Bunge, gesundheitspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag




Im Jahr 2011 wurde ADHS bei einer Dreiviertelmillion Menschen in Deutschland, davon bei 620.000 Mädchen und Jungen diagnostiziert. Bei Jungen wird die Diagnose dreimal häufiger gestellt als bei Mädchen und die Hälfte aller wird medikamentös – in der Regel mit Ritalin – behandelt. Ritalin ist ein Medikament, das auf das Gehirn wirkt und dort chemische Prozesse verändert – im Grunde eine Droge oder ein Psychopharmakon mit erheblichen Nebenwirkungen. Seit 2006 ist die Diagnose ADHS um 42 Prozent gestiegen – bei rückläufigen Geburtenraten.
Was passiert hier? Haben wir immer mehr kranke Kinder?

Was ist eine Krankheit?

Man spricht von einer bestimmten Krankheit, sei es eine Lungenentzündung oder eine Migräne, wenn gewisse Symptome vorhanden sind, eine Heilung grundsätzlich möglich scheint und eine ausreichende Abweichung von der Normalität vorliegt. Hinzu kommt, dass die Ursachen der Symptome im Innern des Menschen liegen und nicht in seiner Umwelt. Schon bei körperlichen Beschwerden ist der Krankheitsbegriff unbestimmt, bei psychischen Beschwerden ist die Abgrenzung zum Normalen noch fraglicher ebenso die Sicherheit, dass die Krankheitsursache wirklich im Innern liegt.

Was ist AHDS?

Die Symptome von ADHS sind Unaufmerksamkeit, motorische Unruhe und Impulsivität. Jeder Erwachsene kennt sie ab und zu, aber vor allem für Kinder sind sie typisch. Daher wird zur Diagnose dieser Erkrankung bewertet, wie stark die Symptome von der Normalität abweichen und leider oft, wie sehr die Symptome, die Kinder davon abhalten, bestimmte Anforderungen, zum Beispiel in der Schule, zu erfüllen. Die Diagnose ist äußerst anfällig für Daumenpeilerei bis hin zur Willkür. Das wird dadurch belegt, dass z.B. in Würzburg ADHS dreimal häufiger als im Bundesdurchschnitt diagnostiziert wird. ADHS wird in Deutschland kontrovers diskutiert. Auf der einen Seite verteidigen vor allem Ärzte die Diagnosen und Therapien, die auf der anderen Seite von Sozialwissenschaftlern, Psychologen oder Hirmforschern kritisiert werden.

Kinder ruhigstellen ist der bequeme Weg

Damit es berechtigt ist, ADHS als Krankheit medikamentös zu behandeln, muss die Ursache im Innern der Kinder liegen und Medikamenten zugänglich sein. Daher wird ADHS gerne als anlagebedingt oder neurobiologische Krankheit bezeichnet, statt das kindliche Verhalten als logische Konsequenz äußerer Bedingungen zu verstehen und unser Schulsystem, Lebensgewohnheiten und Anforderungen an Kinder in Frage zu stellen.

ADHS deutlich seltener als Krankheit zu begreifen, wäre der unbequeme Weg, der zur Heilung dazu zwingt, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu hinterfragen:

  • Ist es sinnvoll, Kinder schon im Kindergarten chinesisch lernen zu lassen, um ihre gesellschaftliche Verwertbarkeit oder Jobchancen zu erhöhen?
  • Bieten wir Kindern in Schulen vernünftige Lernumgebungen und individuelle kindgerechte Anforderungen?
  • Haben Kinder ausreichend Bewegungsmöglichkeiten?
  • Sind die Arbeitsverhältnisse der Eltern so, dass ein entspanntes Familienleben möglich ist?


Bei ADHS wird derzeit der bequeme Weg gegangen. Statt gesellschaftliche Reformen in Angriff zu nehmen, werden Kinder zu Kranken erklärt und mit Medikamenten stillgestellt, die der Pharmaindustrie Umsätze bescheren. Es wird Zeit, ADHS als Krankheitssymptom unserer Gesellschaft zu begreifen und andere als medikamentöse oder Placebotherapien einzuleiten.


linksfraktion.de, 4. Februar 2013