Heike Hänsel (DIE LINKE): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Wir sprechen heute im Vorfeld der Überprüfung der sogenannten Millenniumsentwicklungsziele im September über die bisherigen Erfolge bzw. Misserfolge beim Erreichen der selbstgesteckten Ziele. Die Bilanz, das haben wir schon gehört, ist durchwachsen. Jetzt werden viele Vorschläge gemacht, manche sind konkret, manche weniger konkret, was man denn verbessern könnte. Mir fehlt in der gesamten Diskussion ein kritischer Blick auf die Millenniumsentwicklungsziele selbst.
Viele Menschen, die heute hier zuhören, wissen sicher gar nicht ganz genau, was die Millenniumsentwicklungsziele überhaupt sind. Das liegt unter anderem am Zustandekommen dieser Ziele. Das ist nämlich weitgehend ein Prozess ohne Beteiligung der Zivilgesellschaft. Acht Ziele wurden von Institutionen wie der OECD, dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank entwickelt und sind von den Regierungen der Entwicklungsländer und der Industriestaaten umzusetzen.
Wir waren aber bei der weltweiten Armutsbekämpfung schon einmal weiter.
In den 90er Jahren wurden nämlich UN-Beschlüsse mit der Mobilisierung von Menschen verbunden, zum Beispiel im Rahmen des Rio-Prozesses für nachhaltige Entwicklung. Die Ideen wurden in die Kommunen getragen; in vielen Städten und Gemeinden entstanden sogenannte lokale Agenda-21-Gruppen, die sich mit dem Zusammenhang von weltweiter Armut, Klimawandel und unserem Konsummodell und dem Ressourcenverbrauch in den reichen Industriestaaten beschäftigt haben. Die Millenniumsentwicklungsziele dagegen sprechen diese Strukturen gar nicht mehr an. Sie sagen nichts über Ursachen der Armutsbekämpfung und Strategien zur Armutsbekämpfung. Deshalb fordern wir: Wenn wir von Armutsbekämpfung sprechen, müssen wir auch von den strukturellen Ursachen der Armut sprechen.
(Beifall bei der LINKEN)
Damit kommen wir zu dem heute herrschenden Weltwirtschaftssystem. Allein durch die Finanz- und Wirtschaftskrise sind laut Aussagen der Weltbank im letzten Jahr mindestens 100 Millionen Menschen mehr in Armut zurückgefallen. Das ist eine größere Anzahl als Deutschland Einwohnerinnen und Einwohner hat. Deshalb ist es auch fatal, dass Sie, Herr Niebel, nun neue Weichen in der Entwicklungszusammenarbeit stellen wollen und mit Ihren neoliberalen wirtschaftspolitischen Vorstellungen, die Armut erzeugen, Armut bekämpfen wollen. Sie werden nicht müde, hier und in den Entwicklungsländern die freie Marktwirtschaft als Entwicklungsmodell zu propagieren.
(Zuruf von der FDP: Soziale Marktwirtschaft, Frau Kollegin! Das ist ein Unterschied!)
Was bedeutet das konkret für die Länder des Südens? Ich möchte zwei Beispiele nennen. Erstens. Die Bundesregierung verhandelt im Rahmen der EU über ein Freihandelsabkommen mit Indien. Die Europäische Union will in diesem Zusammenhang das Patentrecht verschärfen, was zum Ergebnis hat, dass billige Nachahmerprodukte erst viel später und deutlich teurer produziert werden können. Die Bundesregierung vertritt ganz im Sinne der freien Marktwirtschaft
(Miriam Gruß (FDP): Soziale Marktwirtschaft!)
die Interessen der Pharmakonzerne gegen die Interessen von Millionen von Menschen, die bisher keinen Zugang zu billigen Medikamenten haben. Das ist ein Skandal.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Bärbel Kofler (SPD) - Miriam Gruß (FDP): So ein Unfug!)
Dies läuft drei Millenniumsentwicklungszielen gleichzeitig zuwider, nämlich denen, die sich mit Kindersterblichkeit, Müttergesundheit und dem Kampf gegen Aids und Malaria beschäftigen.
Ein zweites Beispiel: Die Bundesregierung hat sich im Rahmen der EU für ein Freihandelsabkommen mit Kolumbien und Peru stark gemacht, das bereits unterzeichnet wurde. Darin geht es unter anderem um bessere Möglichkeiten des Imports von Palmöl aus Kolumbien in die EU. Davon profitieren ebenfalls große Konzerne, die in Kolumbien Ölpalmen auf Land anbauen, das Kleinbauern gehörte, die vertrieben wurden. Mittlerweile gibt es in Kolumbien mehr als 4 Millionen vertriebene Menschen, die in größter Armut in den Slums der großen Städte leben. Das Brisante ist, dass die kolumbianische Armee an diesen Vertreibungen beteiligt ist und die illegalen Ölpalmenplantagen auch noch schützt. Ich frage mich, wie sich Angela Merkel gestern dazu geäußert hat, als sie sich mit dem kolumbianischen Präsidenten getroffen hat. Ich habe nichts von Kritik an dieser Politik, die konkret zu Armut beiträgt, gehört. Auch das ist völlig inakzeptabel.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ein ganz entscheidender Punkt, der in der Diskussion viel zu kurz kommt, ist, dass wir nicht von Armutsbekämpfung sprechen können, ohne über Krieg zu sprechen. Viele arme Menschen leben in Kriegs- und Krisenregionen und werden so lange nicht aus der Armut herauskommen, solange diese Kriege andauern. Das zeigt sich unter anderem am Beispiel Afghanistan. Trotz neun Jahren Aufbauhilfe gehört Afghanistan zu einem der ärmsten Länder der Welt und hat eine der höchsten Kindersterblichkeitsraten weltweit. Deshalb gilt für uns: Wir müssen dringend ein neues Millenniumsentwicklungsziel formulieren: den Krieg als Mittel der Politik zu überwinden.
(Beifall bei der LINKEN)
Die Rüstungsausgaben von mehr als 1 Billion Dollar übersteigen die weltweiten Entwicklungsausgaben um das Zehnfache. Das ist im Zusammenhang mit Armutsbekämpfung völlig inakzeptabel.
Die Millenniumsentwicklungsziele sind ein Minimalkonsens, an dem es viel zu kritisieren gibt. Die Ausgabenpolitik der Bundesregierung wird aber nicht viel dazu beitragen, diesen Minimalkonsens zu erreichen. Dazu gehören auch, das wurde bereits erwähnt, zahllose nicht gehaltene Versprechen, zum Beispiel auf G-8-Gipfeln. Mittlerweile haben wir den Überblick über die zahlreichen Zusagen und nicht eingehaltenen Versprechen verloren. So hat Angela Merkel in Kanada 80 Millionen Euro für Mütter- und Kindergesundheit in Aussicht gestellt. Davon ist im neuen Haushalt aber nichts zu sehen. Es wird eine Nullrunde geben und höchstens umgeschichtet. Das ist ein Armutszeugnis für den Entwicklungshilfeminister.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und der SPD)
Herr Niebel, es legt den Verdacht nahe, dass Sie im Rahmen Ihrer Institutionenreform deshalb ständig von Effizienz in der Entwicklungszusammenarbeit sprechen, um sich vor einer substanziellen Erhöhung des Entwicklungshaushalts zu drücken. Genau deswegen hat die Fraktion Die Linke einen Antrag eingebracht. Wir wollen das 0,7-Prozent-Ziel für Entwicklungsausgaben bis zum Jahr 2015 verbindlich gesetzlich festlegen, damit Ihre Politik der Trickserei und Täuschung bei den Entwicklungsausgaben ein Ende hat.
(Beifall bei der LINKEN Miriam Gruß (FDP): So ein Blödsinn!)