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Sozialen Phänomenen kann man nicht mit Verschärfung des Strafrechts begegnen

Rede von Sevim Dagdelen,

Dem Bundestag liegt ein ganzes Bündel an Gesetzesvorlagen vor, die vermeintlich Opferinteressen und Opferrechte verbessern sollen. Doch das tun sie weitgehend nicht. Für DIE LINKE gilt unmissverständlich, dass Opfer Schutz brauchen und einen Anspruch darauf haben. Das gilt auch in Fällen von Nachstellung, Einschüchterung und Gewalt, seien es Kinder, Frauen oder Männer. Doch lässt sich dem vordergründig sozialen Phänomenen des Stalking, der Zwangsverheiratung und der Genitalverstümmelung nach Auffassung der LINKEN. nicht mit immer neuen Schärfungen des Strafrechts in adäquater Weise begegnen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Dem Bundestag liegt ein ganzes Bündel an Gesetzesvorlagen vor, die vermeintlich Opferinteressen und Opferrechte verbessern sollen. Doch das tun sie weitgehend nicht. Wir sind uns einig: Opfern von Straftaten ist beizustehen und ihnen ist der gebotene Schutz und die Fürsorge des Staates zu sichern. In diesem Sinne kann DIE LINKE. auch dem Leitbild, das dem Antrag der FDP zu Gunde liegt zustimmen. Aber. Es bestehen erhebliche Bedenken bezüglich der Umsetzungsvorstellungen, wie sie namentlich im Entwurf für das zweite Opferrechtsreformgesetz der Bundesregierung und in den Regelungsvorschlägen des Bundesrates zur Stärkung des Opferschutzes niedergelegt sind.
Zentraler Kritikpunkt ist, dass die gesetzgeberische Motivation zum Opferschutz unseres Erachtens gerade dort auf den Kopf gestellt wo er am nötigsten ist. Nämlich dort, wo es um die Betroffenheit der Schwächsten geht. Denn der vermeintlich angestrebte Schutzreflex wird ins Gegenteil verkehrt und wirkt sich gar in Gefährdung aus.
In diesem Punkt wird die systematische Fehlsteuerung des strafrechtsorientierten Umsetzungskonzepts besonders deutlich. Das Problem stellt sich dabei sowohl in gesamtsystematischer Sicht als auch in Hinblick auf die sensible Statik und das Wirksystem des modernen rechtsstaatlichen Strafrechts. Der Gesetzgeber darf nicht einfach die Maximen, Funktions- und Wirkweise und die beabsichtigte Beschränktheit des Strafrechts im Regelungseifer vernachlässigen oder etwa folgenreich verschieben. Er muss vielmehr darauf achten, dass das scharfe Schwert des Strafrechts dem Staat nicht im Handumdrehen entgleitet. DIE LINKE hält deshalb an einer progressiven aber gleichsam strafrechtskritischen Haltung fest.
Mit den Worten des Kriminologen und ehemaligen Richters am Bundesverfassungsgericht Winfried Hassemer gesprochen, ist es "von zentraler Bedeutung, dass das Strafverfahren nicht, wie es früher einmal war, in die Hände des Opfers zurückgelegt wird. Es muss auf jeden Fall beim Gewaltverbot für das Opfer bleiben - das ist der Kern des modernen Strafrechts. Dem Opfer ist untersagt, Rache zu nehmen. Ohne dieses Prinzip kann es keine Gerechtigkeit geben. Jegliche Änderung an diesem Prinzip würde unserem Gerechtigkeitsempfinden flagrant zuwiderlaufen."
Daraus folgt für DIE LINKE., dass sehr darauf geachtet werden muss, die Balance des Strafverfahrens nicht "peu à peu" aufzuheben. Wo bei Opferrechten nachjustiert wird müssen im Sinne eines fairen Verfahrens und der Waffengleichheit, die Beschuldigtenrechte nachgestellt werden. Denn es ist klar: erst das Strafverfahren soll gerade und vor allem objektiv ermitteln, ob der Beschuldigte Täter der vorgeworfenen Tat ist und derjenige, der vorgibt, in seinen Rechten durch den Beschuldigten betroffen zu sein, auch wirklich Opfer ist. Keinesfalls darf aber das Paradigma des Strafverfahrens auf den Hund kommen.
Denn je massiver "Opferrechte" ausgeweitet werden, desto weniger ist sichergestellt, dass die Täterfeststellung am Ende des Verfahrens (nur) auf ermittelten Tatsachen und nicht auf einer Übermacht des "Opfers" im Verfahren beruht. Das Argument, dass die Nebenklage der Staatsanwaltschaft wertvolle Unterstützung leiste, taugt nur zum Beweis, dass das System unterfinanziert ist und eine Staatsanwaltschaft kaum noch personelle und sachliche Ressourcen für eine effiziente Verfolgung hat. Wir sind gegen eine haushälterisch bedingte quasi-Privatisierung des Strafverfahrens und den Wiedereinzug des Rachegedankens auf dem Ticket des Opferschutzes.
Einzelregelungen des Gesetzes sind darüber hinaus zum Teil misslungen. So wird vollkommen indiskutabel der Untersuchungshaftgrund der Wiederholungsgefahr "präzisiert", im Kern jedoch erweitert. In Anbetracht der berechtigten Forderungen nach der Abschaffung -!- dieses polizeilich-präventiven Haftgrundes ist die se Änderung geradezu skandalös. Die Erweitung der Nebenklageanschlussbefugnis sowie die Ausweitung durch einen Auffangtatbestand sind gleichermaßen nicht angezeigt. Bleibt noch zu erwähnen, dass die durchaus sinnvolle Herausnahme der gewerblichen Schutzrechte aus dem Katalog der Nebenklagedelikte im ursprünglichen Entwurf nunmehr durch die Formulierungshilfe - es war nicht anders zu erwarten, der Druck durch Lobbyverbände aus der Wirtschaft war massiv - wieder aufgehoben wurde.
Wir wiederholen daher unsere Forderungen - wer Opferschutz ernst nimmt, stattet die Justiz mit den personellen und sachlichen Mitteln aus, um Strafverfolgung effektiv zu gewährleisten; der sorgt für Beratungsstellen und psychologische Betreuungsangebote; der fördert bestehende Instrumente wie den Täter-Opfer-Ausgleich. Von formalen Rechten im Strafprozess werden Wunden nicht heilen.
Eine Stärkung der Opferposition ließe sich etwa auch durch die Erweiterung der Antrags delikte erreichen, sodass etwa in familiären oder anderen engeren persönlichen Bezügen die Selbstbestimmung des Opfers Vorrang erhält. Allerdings hat hier in letzter Zeit eher eine Entmachtung der Individuen zu Gunsten einer Ermächtigung der staatlichen Verfolgungsbehörden stattgefunden.
Mit diesem Blick ins Strafrechtsgrundsätzliche ist aber nicht Genüge getan meine Damen und Herren. Ich habe noch ein paar Sätze zu den sozialen Phänomenen des Stalking, der Zwangsheirat und der Genitalverstümmelung zu verlieren.
Für DIE LINKE gilt unmissverständlich, dass Opfer Schutz brauchen und einen Anspruch darauf haben. Das gilt auch in Fällen von Nachstellung, Einschüchterung und Gewalt, seien es Kinder, Frauen oder Männer. Doch lässt sich dem vordergründig sozialen Phänomenen des Stalking, der Zwangsverheiratung und der Genitalverstümmelung nach Auffassung der LINKEN. nicht mit immer neuen Schärfungen des Strafrechts in adäquater Weise begegnen. Denn entweder führt die Dauer von Verfahren -siehe oben!- am Ziel eines raschen effektiven Opferschutzes vorbei. Wenn sie denn überhaupt auf einer rechtsstaatlich einwandfreien Grundlage stattfinden. Ich erinnere da an unsere Debatte zum Stalking-Straftatbestand. Oder aber die Maßnahme schießt von vornherein in hohem Bogen, teilweise billigend in Kauf genommen, über ihr Ziel hinaus.
Für die Fälle der Zwangsverheiratung und der weiblichen Genitalverstümmelung, kann darin der genauso untaugliche wie menschliche Schicksale verhöhnende Versuch gesehen werden, eine Integrationspolitik mit dem Strafrecht zu betreiben. Die LINKE. unterstützt nachdrücklich das Ziel, die unmenschliche und frauenverachtende Praxis der Genitalverstümmelung zu bekämpfen. Allerdings ist der vorliegende interfraktionelle Gesetzentwurf ein erneutes Beispiel dafür, dass das Strafrecht kein geeignetes Mittel zur Lösung gesellschaftlicher Probleme ist. Es steht zu befürchten, dass die schädlichen Nebenfolgen des Gesetzentwurfs dessen positive Folgen weit überwiegen. Hierdurch droht letztlich das Mädchen, dessen Schutz beabsichtigt wird, zur eigentlichen Leidtragenden zu werden.
Familiärer Hintergrund, gesellschaftliche Einbettung und die sozio-ökonomischen Bedingungen der Handlungsweisen und Beteiligten werden hingegen ausgeblendet. Vielmehr wird mit aus der Hüfte geschossenen Law- and Order Antworten sozialen Fragen begegnet. Der steinige Weg der
Präventions- und Aufklärungsarbeit wird um den Preis der Abschiebung und doppelter Traumatisierung gemieden.
Unsere Position zum Gruppenantrag über die Strafbarkeit der Genitalverstümmelung, Drs. 16/12910 haben wir aktuell in einem Entschließungsantrag formuliert, der die Forderungen und Vorschläge unseres Antrages "Weibliche Genitalverstümmelung verhindern - Menschenrechte durchsetzen" (Drucksache 16/4152) erneut aufgreift. Sonach ist das Problem nicht das Fehlen eines Straftatbestandes. Dass eine Verfolgung regelmäßig ausbleibt ist einmal mehr ein Vollzugsproblem.
Die beabsichtigte Regelung schafft hingegen neue inakzeptable Probleme. Die Ausgangsfrage, wie das Verbot weiblicher Genitalverstümmelung vor dem Hintergrund der familiären Tat-Konstellation überhaupt wirksam durchgesetzt und täter- und opfergerecht zu lösen ist, bleibt unbeantwortet.
Die Folge der Änderung wäre eine regelmäßige Straferwartung von drei Jahren für die Tatbeteiligten Eltern genauso wie für die oder den Ausführenden. Mit verheerenden aufenthaltsrechtlichen Folgen. Eine Verurteilung zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe zieht nach § 53 Aufenthaltsgesetz zwingend die Ausweisung des Täters nach sich. Lediglich im Falle von nach § 55 Aufenthaltsgesetz privilegierten Personen kommt eine Herabstufung zur Regelausweisung in Betracht. Aufgrund der Abhängigkeit des aufenthaltsrechtlichen Status des Kindes von dem der Eltern, droht damit das Opfer mit seinen Eltern gemeinsam ausgewiesen zu werden. Hierdurch würde nicht nur aufgrund der medizinischen und sozialen Gegebenheiten in vielen der betroffenen Ländern die Verletzung des Opfers noch vertieft. Die Bekämpfung von Genitalverstümmelung durch Ausweisung und Abschiebung lehnt DIE LINKE. deshalb ab!
Schließlich begegnet die Erstreckung des deutschen Strafanspruchs durch die angestrebte weltweite Geltung völkerrechtlichen Bedenken. Bedeutete es doch letztlich einen Übergriff in die Souveränitätsrechte fremder Staaten, wenn deren Staatsangehörige sich unerwartet und unvorhersehbar der Strafgewalt der BRD ausgesetzt sähen, wenn die Person, an der die Handlung vorgenommen wird, zur Zeit der Handlung ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland hat. Stellen Sie sich vor ein in Deutschland niedergelassener Arzt würde sich wegen einer in Deutschland ausgeführten Behandlung an einem Staatsangehörigen seines Reiselandes plötzlich auf Grund der dortigen Rechtslage nicht im Hotel, sondern im Polizeigewahrsam wiederfinden.
Anstelle strafrechtlicher Sanktionssymbolik und Existenzen vernichtender Abschiebung, ist für uns ein präventiv-aufklärungsorienierter Lösungsansatz der richtige Weg!
Ein erster Schritt zu einem wirkungsvollen Opferschutz wäre ein an den realen Interessen der Opfer ausgerichtetes Asyl- und Aufenthaltsrecht um den Leiden der betroffenen Mädchen entgegenzutreten. Auf europäischer Ebene sollte ein einheitlicher Abschiebestopp für Mädchen und Frauen, die eine Genitalverstümmelung erlitten haben oder denen eine solche droht, beschlossen werden. Zudem dürften Länder, in denen Genitalverstümmelung verbreitet ist, nicht als sichere Drittstaaten eingestuft werden.
Zu einer differenzierteren Betrachtung und guten Problemlösung zum Thema Zwangsheirat hatte meine Fraktion vor sattsam drei Jahren mit ihrem Antrag "Für einen Schutz der Opfer von Zwangsverheiratungen, für die Stärkung ihrer Rechte und die längerfristige Bekämpfung der Ursachen patriarchaler Gewalt" unter der Drs. 16/1564 eingeladen. Auch dieser wurde bekanntlich abgelehnt. Stattdessen ist die Bundestagsmehrheit den kostengünstigen aber verheerenden Irrweg einer strafrechtlichen Lösung letztlich sozialer und ökonomischer Probleme gegangen.
Demgegenüber ist aber nach wie vor wichtig zu betonen, dass Zwangsverheiratung lediglich eine Form patriarchaler Gewalt ist. Allerdings haben Zwangsverheiratungen von Frauen und Mädchen besonders mit Migrationshintergrund erst in den letzten Jahren eine größere Beachtung in der Öffentlichkeit erlangt. Genauere und verlässliche Zahlen und Erkenntnisse über den Umfang und die Gestalt von Zwangsheiraten in Deutschland liegen dessen ungeachtet immer noch nicht vor. Fest steht jedoch, dass die konkret Betroffenen dringender Hilfe und Unterstützung bedürfen, denn das Recht auf Selbstbestimmung und freie Wahl der Lebenspartnerin oder des Lebenspartners ist ein unteilbares Menschenrecht!
Ein Maßnahmekatalog zur grundlegenden Stärkung der Rechtsposition und Handlungsoptionen der Opfer von Zwangsverheiratungen beinhaltet: aufenthaltsrechtliche Korrekturen und Maßnahmen zu ihrem effektiven Schutz, zur Beratung und Information, sowie allgemeine Präventions-, Schulungs- und Aufklärungsmaßnahmen.
Jedoch dürfen Maßnahmen zur Verhinderung von Zwangsheiraten und Genitalverstümmelung und zum Schutz der Opfer nicht zu ungerechtfertigten Pauschalisierungen und zur Ausgrenzung von Migrantinnen/Migranten in Deutschland instrumentalisiert werden.
So wenig wir der damaligen strafrechtsorientierten Lösung etwas abringen konnten, so wenig Anlass sehen wir heute erneut diese Stell- nein!- Daumenschraube zu drehen.
Unser Fazit: eine gute Motivation wird zur fragwürdigen Legitimation teilweise schlecht durchdachter und ausgeführter dafür umso nebenfolgenreicherer Maßnahmen. Der so wichtige Opferschutz wird somit zur kleinen Münze einer realitätsfernen Symbolpolitik, nach dem schlichten Motto: "Die tun was!"