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»Sie sind die Bundeskanzlerin der Lobbyisten«

Rede von Gregor Gysi,

Rede von Gregor Gysi während der Haushaltsdebatte über den Etat 2011 des Bundeskanzleramtes

Herr Bundestagspräsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Frau Bundeskanzlerin Merkel, ich muss Ihnen ja eines lassen: Sie haben heute hier ein beachtliches Kämpfertum gezeigt. Zu welchen Fähigkeiten Frust und Verzweiflung doch so führen können!

(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN - Thomas Oppermann (SPD): Stimmt!)

Auf der anderen Seite muss ich Ihnen sagen, Frau Merkel, dass Sie einen Eid geleistet haben, und zwar Schaden vom deutschen Volk zu wenden und Gerechtigkeit gegenüber jedermann zu üben. Ich muss Ihnen sagen, dass Sie diesen Eid permanent verletzen. Sie sind keine Kanzlerin der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, der Rentnerinnen und Rentner, der Hartz-IV-Empfängerinnen und Hartz-IV-Empfänger

(Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Die wählen häufiger uns als Sie!)

und auch nicht der kleinen und mittleren Unternehmerinnen und Unternehmer. Sie sind die Bundeskanzlerin der Bankenlobbyisten, der Pharmalobbyisten, der Lobbyisten der privaten Krankenversicherung und nun in einem kaum vorstellbaren Ausmaß auch der Atomlobbyisten.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Lobbyisten entscheiden in Deutschland inzwischen darüber, was sie bekommen und was sie zu leisten bereit sind. Wenn diese das nicht zugestehen, passiert das Ganze auch nicht.

(Unruhe)

Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Gysi, darf ich Sie einen kleinen Augenblick unterbrechen? - Darf ich die Kolleginnen und Kollegen, die noch nicht genau wissen, ob sie dem weiteren Verlauf der Debatte folgen können oder wollen, oder jedenfalls nicht wissen, von wo aus, Kollegen Flosbach und Dautzenberg zum Beispiel     Hallo!

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Rösler schwatzt auch!)

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Herr Präsident, die Uhr läuft die ganze Zeit weiter.

Präsident Dr. Norbert Lammert:
Sie wissen doch, dass ich Ihnen gegenüber immer eine besondere Großzügigkeit aufbringe, die am Ende Ihrer Redezeit auch regelmäßig gebraucht wird.

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Ich würde sagen: Wir verhandeln unter Lobbyisten: eine Minute.

Präsident Dr. Norbert Lammert:
Gehen Sie einmal davon aus, dass das auch diesmal wieder zugestanden wird.

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Okay, wir haben uns auf eine Minute verständigt. Das ist in Ordnung.

(Heiterkeit)

Darf ich weitermachen?

Präsident Dr. Norbert Lammert:
Selbstverständlich. Ich nehme die Verständigung zur Kenntnis.

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Ich bin übrigens sehr beruhigt, Herr Bundestagspräsident; die hören nicht nur mir nicht zu, sondern auch Ihnen nicht zu. Darüber sollten wir einmal länger nachdenken.

Ich komme zu meinem Punkt zurück. Frau Bundeskanzlerin, Sie verhandeln mit den Lobbyisten und diese legen genau fest, was sie machen müssen. Nur das, was sie zugestehen, tun sie. Haben Sie einmal mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern über deren Steuern verhandelt? Haben Sie einmal mit der Innung der Friseurmeisterinnen und Friseurmeister darüber verhandelt, was sie zu geben bereit sind? Haben Sie einmal vielleicht mit einer Vertretung von Hartz-IV-Empfängerinnen und Hartz-IV-Empfängern darüber gesprochen, ob sie wirklich bereit und interessiert sind, das Elterngeld loszuwerden? Nein, mit diesen Leuten reden Sie nicht. Sie verhandeln nur mit Lobbyisten, und das beschädigt die Demokratie in einem kaum vorstellbaren Ausmaß.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich sage es ganz offen: Diese Bundesregierung hat durch ihre Art der Politik die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland gefährdet. Wenn dieses komische Bundesamt für Verfassungsschutz etwas taugte, dann würde es sich um die Regierung kümmern und nicht um die Linke;

(Beifall bei der LINKEN)

denn die Linke ist eine Bereicherung für die freiheitlich-demokratische Grundordnung in Deutschland.

(Beifall bei der LINKEN)

Aber es hat sich in unserer Gesellschaft etwas verändert. Was sich verändert hat, wird bei Stuttgart 21 deutlich. Sie haben hier vom Tunnelbau erzählt. Sie wollen Milliarden in einem sinnlosen Projekt versenken, obwohl es viel günstigere Varianten gibt. Dazu stehen Sie bloß nicht. Aber das Interessante ist etwas anderes. Alle Verträge sind geschlossen. Man sagt: Rechtlich ist gar nichts mehr zu machen. - Früher führte so etwas dazu, dass die Bürgerinnen und Bürger jeden Widerstand aufgaben und sich sagten: Es hat ja keinen Sinn mehr. - Dann kamen bloß noch hundert Leute; es wurde irgendwie langweilig. Heute werden es täglich mehr. Die lassen sich das nicht mehr bieten.

(Beifall bei der LINKEN)

Es gibt einen rebellischen Geist in der Bevölkerung, und das nehmen Sie nicht zur Kenntnis.
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben nach Ihren Verhandlungen mit der Atomlobby von einer Energierevolution gesprochen. In Wirklichkeit haben Sie natürlich nur gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen provoziert. Dann haben Sie gesagt, Sie hätten endlich Langfristigkeit hineingebracht, nämlich bis zum Jahr 2050. Wie kommen Sie denn darauf, noch im Jahr 2050 Kanzlerin zu sein? Schon im Jahr 2013 wird sich das ändern, und dann wird das ganze Gesetz wieder gekippt werden.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich sage nur zwei Dinge inhaltlich dazu:
Erstens. Die Frage des Endlagers ist bis heute nicht gelöst. Über Gorleben braucht man an sich gar nicht zu diskutieren, weil es eben indiskutabel ist.
Zweitens. Sie beherrschen die Atomkraftwerke im Falle einer Katastrophe nicht. Bei jedem Flugzeugunglück kennen wir die Zahl der Toten   was schon schlimm genug ist. Aber wenn uns jemals ein AKW um die Ohren fliegt, können wir gar nicht einschätzen, was passiert. Wir wissen nicht, ob man in diesem Land überhaupt noch leben kann oder über wie viele Generationen man hier nicht mehr leben kann. Wenn man im Unglücksfall eine Technik nicht beherrscht, hat man sich von ihr zu verabschieden, statt sie per Laufzeitverlängerung noch weiter einzusetzen.

(Beifall bei der LINKEN)

An die Adresse von SPD und Grünen sage ich: Als Sie damals den Atomkompromiss geschlossen haben, haben wir gesagt, die Fristen sind viel zu lang. Eure Mehrheit im Bundestag hält nicht so lange. Irgendwann gibt es wieder eine Mehrheit von Union und FDP. Dann wird der Atomkompromiss wieder rückgängig gemacht.   Das haben Sie uns ja nicht geglaubt. Wenn Sie die Dinger damals dichtgemacht hätten, könnten heute ihre Laufzeiten nicht verlängert werden. Dann wäre Schluss gewesen.

(Beifall bei der LINKEN)

Nun sagt ja die Bundesregierung, Atomenergie sei als Brückentechnologie unverzichtbar. Deshalb müsse man noch länger auf sie zurückgreifen. Diese Behauptung ist falsch. Die Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen hat gerade nachgewiesen, dass wir im ersten Halbjahr 2010 einen Überschuss von 11 Milliarden Kilowattstunden produziert haben. Das ist genau so viel, wie die sieben ältesten und marodesten Atomkraftwerke produzieren. Das heißt, wenn wir sie schließen würden, müssten wir nicht eine einzige Kilowattstunde Strom importieren. Das verschweigen Sie.

(Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Was verstehen Sie von Strom?)

Eben hat die Bundeskanzlerin erklärt, von den Gewinnen, die zweifellos bei den Energieriesen entstehen, wolle man einen großen Teil abschöpfen. Sie sagten einmal, die Hälfte wollten sie abschöpfen. Nun habe ich mir das einmal angesehen:
Die Zusatzgewinne liegen mindestens bei 67 Milliarden Euro, aber nur unter der Bedingung, dass die Preise gleich bleiben. Aber nicht einmal ein einziges CDU-Mitglied glaubt, dass die Preise gleich bleiben. Wenn man die realen Schätzungen bezüglich Preissteigerungen nimmt, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass die Gewinne bei 127 Milliarden Euro liegen werden.
Welche Abgaben haben Sie nun beschlossen?
Da gibt es zum einen die Brennelementesteuer. Ursprünglich hatten Sie gesagt, Sie wollten für jedes Jahr Laufzeitverlängerung 2,3 Milliarden Euro haben. Daraufhin hat die Atomlobby gesagt, das sei ihr erstens zu viel und zweitens zu lange. Daraufhin haben Sie gesagt: Na gut, wenn ihr das nicht wollt, nehmen wir eben nur 1,5 Milliarden Euro.   Mit diesem einen Punkt war die Atomindustrie dann einverstanden, wollte aber nur sechs Jahre lang zahlen. Nun haben Sie auch diese Frist von sechs Jahren akzeptiert. Das heißt, der Staat nimmt 9 Milliarden Euro auf diese Art und Weise ein.

Zum anderen haben Sie gesagt, es müsse noch eine Zusatzabgabe für die erneuerbaren Energien entrichtet werden. Diese Forderung basiert ja auf Ihrer fantastischen Idee, zu glauben, dass die Atomindustrie die erneuerbaren Energien fördert. Sie haben also gefordert, dass die Atomindustrie hierfür 15 Milliarden Euro zahlen soll. Nun habe ich mir all dies genauer angesehen und festgestellt: In Ihrem Geheimvertrag steht auch drin   das haben Sie der Öffentlichkeit nur noch nicht gesagt  , dass bei jedem Atomkraftwerk Sicherheitsmaßnahmen in Höhe von 500 Millionen Euro durchzuführen sind, dass aber die Betreiber, wenn diese Sicherheitsmaßnahmen teurer werden, diese Mehrkosten von der Abgabe für erneuerbare Energien abziehen dürfen. Der zuständige Bundesumweltminister selber schätzt aber die Kosten für Sicherheitsmaßnahmen pro AKW auf 1,2 Milliarden Euro. Das heißt, von den 15 Milliarden Euro werden 700 Millionen Euro pro AKW abgezogen. Dann bleiben von Ihren 15 Milliarden Euro gerade einmal 3 Milliarden Euro übrig.

9 Milliarden Euro plus 3 Milliarden Euro macht 12 Milliarden Euro. Die Hälfte von 127 Milliarden Euro oder auch nur von 67 Milliarden Euro sieht jedoch gänzlich anders aus; das kann man durch einfachste Berechnungen herausfinden. Es sind also nur Peanuts, die die Atomlobby zu bezahlen hat, während sie Gewinne in riesiger Höhe erwirtschaften kann. Das zeigt, wie Sie Politik betreiben.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Noch eine Kleinigkeit: Die Brennelementesteuer, über die ich zuerst gesprochen habe, darf die Atomindustrie zum großen Teil von der Körperschaft- und Gewerbesteuer absetzen. Der Atomindustrie ist es völlig wurscht, wie sie das absetzt. Wenn sie diese Steuer nun von der Gewerbesteuer, die ja die Kommunen bekommen, absetzt, wird das dazu führen, dass die Kommunen noch pleiter werden, als sie ohnehin schon sind.

(Zuruf von der FDP: Noch pleiter?)

  Ja, wenn das ginge.   Dann kommt noch etwas hinzu: Viele Stadtwerke sind von anderen Rahmenbedingungen ausgegangen und haben Investitionen vorgenommen. Diese Investitionen können sie jetzt zum Teil abschreiben; so entstehen weitere Verluste in Höhe von 4,5 Milliarden Euro. Im Wettbewerb um die Stromerzeugung haben die Stadtwerke nun gar keine Chancen mehr.

Herr Bundesminister Brüderle, Sie haben behauptet, die Stromkosten würden um 8 Milliarden Euro niedriger liegen. Das wäre schön. Doch RWE hat gleich klargestellt, das komme gar nicht infrage, man sehe das ganz anders. Herr Brüderle, ich muss es einfach einmal sagen: Sie haben Unsinn erzählt. In Wahrheit ist es doch so, dass sich die vier Energieriesen, die wir haben, einmal kurz telefonisch verständigen und dabei entscheiden, wie die Bürgerinnen und Bürger und die Unternehmen abgezockt werden sollen. Das ist die Realität, mit der wir es zu tun haben.

(Beifall bei der LINKEN)

Ihr Atomvertrag verstößt aus mindestens drei Gründen gegen die Verfassung:
Erstens haben Sie beim Geheimvertrag den Bundestag ausgeschlossen. Das steht im Widerspruch zum Grundgesetz.
Zweitens haben Sie den Vertrauensschutz für Investitionen der Kommunen verletzt.
Drittens wollen Sie den Bundesrat ausschließen. Das geht beim besten Willen nicht; denn es ist auch eine Angelegenheit der Länder und der Kommunen. Deshalb wollen fünf SPD-geführte Landesregierungen - darunter zwei, an denen wir beteiligt sind - logischerweise eine Klage beim Bundesverfassungsgericht erheben. Ich hoffe auch, dass die Unterschriften aus der Mitte des Bundestages für ein Normenkontrollverfahren ausreichen. So geht es nicht! Wir dürfen dies den Bürgerinnen und Bürgern nicht zumuten.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber dieser Stil Ihrer Politik ist nicht neu. Wie sah es bei den Banken aus? Ich darf daran erinnern, dass wir innerhalb einer einzigen Woche über 480 Milliarden Euro entschieden haben. Dagegen sind für die Beratung des Bundeshaushalts, der 320 Milliarden Euro umfasst, mehrere Monate nötig. Das ist aber noch nicht einmal das Problem. Das Problem ist: Sie haben festgelegt, dass eine Handvoll Leute, die alle nicht im Bundestag sitzen, über die Verwendung des Geldes entscheiden. Es gibt einen Ausschuss des Bundestages, der geheim tagt. Er darf aber nichts entscheiden, sondern nur Fragen stellen. Die Antworten, die er bekommt, darf er uns noch nicht einmal mitteilen. Das ist eine Entmachtung des Bundestages, die der Bundestag selbst beschlossen hat. Genau das ist grundgesetzwidrig.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Frau Kanzlerin, heute sprechen Sie doch allen Ernstes von der Bankenabgabe. Ich bitte Sie! Sie wollen nur gut 1 Milliarde Euro haben. Außerdem ist das Konzept völlig falsch angelegt, weil die Sparkassen mit einbezahlen sollen. Sie haben aber nichts mit dieser Krise zu tun, und deshalb sind sie diesbezüglich auch nicht zahlungspflichtig. Das Geld in Höhe von 1 Milliarde Euro soll ja nicht zum Schuldenabbau genutzt werden, sondern es soll in einen Fonds gesteckt werden, damit bei der nächsten Krise darauf zugegriffen werden kann. Sie wissen nämlich, dass Sie nichts unternommen haben, damit es keine nächste Krise gibt. Angesichts von 480 Milliarden Euro brauchen wir etwa 480 Jahre, bis wir das Geld zusammenhaben. Das ist wirklich eine sehr langfristige Politik.

(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN)

Jetzt erleben wir erneut einen Fehler im Zusammenhang mit der HRE. Wie sind Sie über uns hergefallen, als wir damals gesagt haben: Sie können nicht nur eine Bank verstaatlichen; wenn Sie verstaatlichen wollen, dann müssen Sie, wie dies in Schweden geschehen ist, alle große Banken verstaatlichen! Darauf haben Sie gesagt: Das geht nicht. Ihre Logik ist zu einfach. Die HRE, die uns allen gehört, ist hoch verschuldet. Zum Beispiel fordert die Deutsche Bank von der HRE 20 Milliarden Euro. Jetzt müssen alle Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Deutschland über die HRE 20 Milliarden Euro an die Deutsche Bank zahlen. Von diesem Geld werden riesige Gewinnausschüttungen an Großaktionäre und Boni bezahlt. So geht es nicht! Wenn man die Schulden übernimmt, dann muss man auch von den Einnahmen profitieren. Weil Sie konservativ sind, hätten Sie, nachdem das Geld zurückgeflossen ist, meinetwegen - das kann man auch anders sehen - reprivatisieren können. Nichts zu tun, war ein schwerwiegender Fehler.

(Beifall bei der LINKEN)

Jetzt wird an einem Wochenende entschieden, dass weitere 40 Milliarden Euro an die HRE fließen müssen, weil das Geld nicht gelangt hat. 40 Milliarden Euro - ich bitte Sie! Das passiert mir nichts, dir nichts und ohne Zustimmung des Bundestages. Ich darf Sie erinnern: Noch vor kurzem wurde erklärt, die HRE sei gesund. Jetzt stellt sich heraus, sie ist doch noch schwerwiegend krank. Das Ganze ist indiskutabel.

Nun komme ich zur Pharmaindustrie und zu den privaten Krankenkassen. Ich nenne zwei Beispiele: Das erste Beispiel. Herr Rösler, Sie hatten vorgesehen, dass eine Kommission, die aus Vertreterinnen und Vertretern der Krankenkassen sowie der Ärztinnen und Ärzten besteht, über neue Arzneimittel entscheiden soll. Dann meldeten sich die Pharmahersteller bei Ihnen in einem Brief, in dem stand: Nein, das wollen wir nicht; wir wollen, dass Sie, Herr Rösler, darüber alleine entscheiden. Daraufhin sagten Sie: Ich bin frei von Sachkenntnis; also entscheide ich ab jetzt alleine darüber. Sie haben es genau so gemacht, wie es die Leute von der Pharmaindustrie wollten; denn es geht Ihnen nicht um den Fortschritt der medizinischen Versorgung, sondern um Wirtschaftsinteressen. Das ist reinste Klientelpolitik.

Das zweite Beispiel. Sie haben einen Vertreter der privaten Krankenkassen in Ihre Grundsatzabteilung berufen. Nun legen Sie einen Gesetzentwurf vor, der an zwei Stellen interessant ist. Gutverdienende Angestellte mussten bisher mindestens drei Jahre in der gesetzlichen Krankenkasse sein, bevor sie zu einer privaten Krankenkasse wechseln durften. Nun kommen Sie mit dem Argument „Freiheit“ und sagen: Das geht nicht; diese Personen sollen darüber frei entscheiden und schon nach einem Jahr wechseln können. Das ist Ihre Argumentation.

(Christian Lindner (FDP): Die privaten Krankenkassen sollen nicht ausgetrocknet werden!)

- Passen Sie auf!
Nun passiert Folgendes: Bis jetzt dürfen die gesetzlichen Krankenkassen gegen einen Zusatzbeitrag zum Beispiel eine zusätzliche Zahnversorgung, eine Auslandsversicherung, eine Chefarztbehandlung sowie ein Einbett- oder Zweibettzimmer im Krankenhaus anbieten. Da sagen Sie, die Freiheitsverfechter: Das sollen die gesetzlichen Krankenkassen zukünftig nicht mehr anbieten dürfen, sondern nur die privaten. Da verletzen Sie die ganze Logik. Sie wollen ausschließlich, dass die privaten Krankenversicherungen besser verdienen und die gesetzlichen Krankenkassen geschwächt werden. Das ist alles, was dabei herauskommt. Tolle Lobbyarbeit!

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir hatten nach der Finanzkrise eine Staatsschuldenkrise. Im Jahre 2010 beträgt die Neuverschuldung 65 Milliarden Euro.

(Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Das stimmt doch gar nicht!)

Bei Ihrem ganzen Sparpaket, das Sie vorgelegt haben, beträgt der Anteil der Lasten für Arbeitslose und Geringverdienende 37 Prozent; 37 Prozent Ihres Entlastungsvorschlags übernehmen Arbeitslose und Geringverdienende. Was sagen Sie? Sie wollen die Bezugsdauer des Elterngeld von einem Jahr streichen. Die SPD wird sich erinnern: Sie hat in der Großen Koalition zugestimmt, die Bezugsdauer des Elterngeldes von zwei Jahren auf ein Jahr zu reduzieren. Da sagt diese Regierung natürlich: Dann streichen wir auch noch die Bezugsdauer für das verbliebene Jahr.

Aber davon einmal abgesehen: Das ist eine Maßnahme gegen Kinder und gegen Eltern. Außerdem sagen Sie   jetzt kommt Ihr wahnsinniges Argument  : Das soll eine Lohnersatzleistung sein. Da Hartz IV-Empfänger vorher nicht gearbeitet haben, brauchen sie auch kein Elterngeld.   Dann erklären Sie doch einmal, weshalb die nicht berufstätige Ehefrau eines Millionärs nach wie vor Elterngeld bekommt, die Hartz-IV-Empfängerin hingegen nicht. Das können Sie nicht erklären. Das ist grob unsozial und ungerecht.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Jetzt kommen Sie mit Ihren Bildungschipkarten, auch die Bundeskanzlerin heute wieder. Wissen Sie, wie viele Bescheide das für die Jobcenter bedeutet? 17 Millionen im Jahr; denn es gibt 1,7 Millionen Kinder. Na, das wird ja lustig. Sie müssen die Anzahl der Beschäftigten in den Jobcentern verdoppeln, und dann müssen wir ungefähr doppelt so viele Sozialrichterinnen und Sozialrichter einstellen. Wahnsinn!

Dann wollen Sie das Übergangsgeld ALG I zu Hartz IV, also zu ALG II, streichen. Was heißt das? Nehmen wir eine Ingenieurin, die ganz gut verdient hat. Wenn sie arbeitslos wird, bekommt sie ein Jahr lang Arbeitslosengeld, mit dem sie ihren Lebensstandard nicht halten kann, aber so einigermaßen über die Runden kommt. Wir alle haben gesagt: Es geht nicht, dass sie dann gleich in Hartz IV fällt; da muss es doch wenigstens einen Übergang geben. Jetzt streichen Sie den Übergang und sagen: Einen Tag später soll sie arm sein, und sie muss einfach sehen, wie sie hinkommt.

Dann streichen Sie die Rentenbeiträge für Hartz-IV-Empfängerinnen und Hartz-IV-Empfänger. Das bedeutet nicht nur, dass die Betroffenen geringere Renten beziehen, sondern das bedeutet auch, dass der gesetzlichen Rentenkasse jährlich 1,8 Milliarden Euro entzogen werden. Wie wollen Sie das eigentlich erstatten?

Darüber hinaus entscheiden Sie, dass der Heizkostenzuschlag für Wohngeldempfänger gestrichen wird. Außerdem beschließen Sie   dazu hat sich auch der Bundesfinanzminister geäußert  : Insgesamt müssen die Ausgaben für aktive und passive Leistungen für Hartz-IV-Empfänger um 16 Milliarden Euro bis zum Jahre 2014 gekürzt werden. Wissen Sie, was das heißt, Frau Bundeskanzlerin? Das heißt, dass die Maßnahmen für Bildung, für Training etc. für Hartz-IV-Empfängerinnen und Hartz-IV-Empfänger zusammengestrichen werden. Sie haben eben gesagt: keine Kürzung bei Bildung. Dennoch beschließen Sie die größte Kürzung bei Bildung für Hartz-IV-Empfängerinnen und Hartz-IV-Empfänger, das heißt bei denjenigen, die sie am dringendsten benötigen.

(Beifall bei der LINKEN)

Außerdem machen Sie den öffentlich geförderten Beschäftigungssektor in Berlin und Brandenburg tot. Warum eigentlich? Was ist denn so schlimm daran, statt Arbeitslosigkeit eine vernünftige Tätigkeit zu bezahlen, mit der die Leute zufrieden sind und wirklich einmal Geld verdienen? Ich verstehe es nicht.

(Beifall bei der LINKEN)

Nun sagen SPD und Grüne und auch Teile der Union, das Ganze sei sozial nicht ausgewogen. Das stimmt. Aber, lieber Herr Gabriel, das reicht doch nicht. Es geht nicht darum, dass die Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfänger etwas bezahlen und der Banker auch etwas bezahlt. Es gilt das reine Verursacherprinzip. Diejenigen, die die Krise verursacht haben und die Nutznießer der Krise sind, sollen das bezahlen und keine Hartz-IV-Empfängerin, kein Geringverdienender, keine Arbeitnehmerin, kein Arbeitnehmer. Das ist unser Standpunkt.

(Beifall bei der LINKEN)

Oder Sie weisen mir nach -  Herr Kauder, Sie werden das ja können -, wie groß der Schuldanteil einer Hartz-IV-Empfängerin oder ihres Kindes oder eines Geringverdienenden an der Finanzkrise und damit an der Staatsverschuldung ist. Erklären Sie es mir. Der Schuldanteil liegt bei null.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Herr Gysi, falsch! Der liegt nicht bei null, er ist null!)

Ziehen Sie die heran, die das Ganze verursacht haben, und nicht diejenigen, die damit nichts zu tun haben!

(Beifall bei der LINKEN)

In derselben Zeit hat das Geldvermögen in Deutschland, das zunächst abgenommen hatte, wieder zugenommen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung -  keine linke Einrichtung -  hat festgestellt: Es gibt jetzt 51 000 Vermögensmillionäre mehr als vor einem Jahr. Es sind jetzt insgesamt 861 000. Nicht einen einzigen Cent müssen sie für die Krise bezahlen, obwohl sie reicher geworden sind; vielmehr sollen die Hartz-IV-Empfängerinnen und  Empfänger das Ganze bezahlen. Das können Sie nicht vermitteln, weder in Stuttgart noch in Berlin.

(Beifall bei der LINKEN)

Durch die Regierung von SPD und Grünen, durch die Regierung von Union und SPD und durch die Regierung von Union und FDP gehen dem Bund, den Ländern und den Kommunen jährlich 30 Milliarden Euro Steuereinnahmen verloren. Deshalb sind die Kommunen so pleite. Deshalb kann man dort nicht mehr regeln, wie das Krankenhaus, die Kindertagesstätte und vieles andere bezahlt werden.

Wir brauchen Steuergerechtigkeit. Dafür brauchen wir eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes bei der Einkommensteuer. Dafür brauchen wir eine Millionärssteuer. Die Einführung einer solchen Steuer wird inzwischen sogar von Millionären vorgeschlagen - denen ist das peinlich-; aber Sie verlangen sie natürlich nicht. Wir brauchen eine Erhöhung der Erbschaftsteuer bei großen Erbschaften, eine Erhöhung der Körperschaftsteuer sowie die Einführung einer Bankenabgabe - einer richtigen Bankenabgabe - und der Finanztransaktionsteuer. Wenn Sie mir schon nicht glauben, dann glauben Sie doch einmal Obama, nicht bei allen Fragen, aber wenigstens bei dieser. Dazu sagt er klar: Die Banken haben das zu bezahlen. Den Mut dazu hat in diesem kleinen Deutschland keiner der Regierenden. Das finde ich wirklich skandalös.

(Beifall bei der LINKEN)

Nun gibt es eine weitere Zahl vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, die ebenfalls interessant ist. Dort sagt man: 22 Prozent der Deutschen leben mit einem Einkommen von unter 860 Euro monatlich, davon übrigens 31 Prozent im Osten. Ich sage das nur deshalb, weil keiner von uns, weder von den Linken noch von der FDP, in der Lage ist, sich ein Leben mit 860 Euro Monatseinkommen vorzustellen. Das ist die Wahrheit. Hier werden Dinge entschieden, bei denen wir alle selber niemals in der Lage wären, sie zu leisten.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Einkommensschere geht immer weiter auseinander. Jetzt verdient die Industrie, jetzt verdient die Wirtschaft. Deshalb sage ich: Wir brauchen nun endlich höhere Löhne für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sodass die Binnenwirtschaft angekurbelt wird.
Frau Bundeskanzlerin, Sie sagen, Sie hätten die Arbeitslosigkeit von 5 Millionen auf 3 Millionen gesenkt. Warum verschweigen Sie denn, dass wir nicht mehr, sondern weniger Vollzeitbeschäftigte in sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen haben? Zugenommen hat die Anzahl der 400-Euro-Jobs, der 1,50-Euro-Jobs und der statistischen Tricks. Das ist alles. Es gibt aber keinen wirklichen Abbau der Arbeitslosigkeit. Es gibt keinen Grund für Sie, darauf stolz zu sein.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie haben über 20 Jahre deutsche Einheit gesprochen. Es ist unbestritten, dass seitdem eines ausgeschlossen ist; das ist übrigens die größte Leistung, die am seltensten betont wird. Wir standen seit 1949 in der Gefahr, dass es einen Krieg zwischen beiden deutschen Staaten gibt, mit verursacht von den Weltmächten. Anschließend hätte es das deutsche Volk gar nicht mehr gegeben. Seit dem 3. Oktober 1990 ist dies ausgeschlossen. Das ist der größte Gewinn für alle an dieser deutschen Einheit.

(Beifall bei der LINKEN)

Ein Weiteres. Niemand wird bestreiten, dass die Menschen aus der früheren DDR nun mehr Freiheit und Demokratie haben.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Sie haben aber auch mehr soziale Unsicherheit. Ich würde jetzt gerne über die Fehler bei der Währungsunion und vor allen Dingen bei der Deindustrialisierung des Ostens sprechen; aber der Herr Bundestagspräsident wird sagen, dass meine Redezeit gleich zu Ende ist.

Präsident Dr. Norbert Lammert:
Jedenfalls schaffen Sie das nicht in der einen zusätzlichen Minute, auf die wir uns großzügigerweise verständigt haben.

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Richtig. Dann schaffe ich aber, Folgendes zu sagen: Ein weiterer Fehler bestand darin, dass die Eliten nicht vereinigt worden sind. Vor allem bestand ein Fehler darin, dass Sie sich den Osten nicht angesehen haben.

(Jörg van Essen (FDP): Das stimmt doch gar nicht!)

Wenn Sie zehn Strukturen aus dem Osten als weiterhin geeignet empfunden und für ganz Deutschland eingeführt hätten, dann hätten die Frau in Passau,

(Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Passau kennen Sie doch gar nicht!)

der Mann in Frankfurt am Main und der Mann in Kiel eine andere Erinnerung an die deutsche Einheit, nämlich dass durch die deutsche Einheit auch ihre oder seine Lebensqualität in diesen zehn Punkten erhöht worden ist. Das haben Sie keinem Westdeutschen gegönnt; außerdem haben Sie das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen beschädigt. Das ist bis heute sehr traurig. Dadurch haben wir nach wie vor große Probleme.
Jetzt sage ich Ihnen eines: Zur Einheit gehört endlich die gleiche Rente für die gleiche Lebensleistung sowie der gleiche Lohn für die gleiche Arbeit und die gleiche Arbeitszeit.

(Beifall bei der LINKEN)

Wer das nicht will, will auch keine Einheit.
Frau Bundeskanzlerin Merkel, Sie kommen aus Ostdeutschland. Wenn ich mich frage, was Sie als Kanzlerin für die Vertiefung der deutschen Einheit getan haben, dann komme ich zu dem Ergebnis: gar nichts.

(Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Was haben Sie denn getan?)

Sie behaupten das Gegenteil und glauben es mir nicht.

Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU):
Herr Kollege.

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Letzter Satz. - Nicht Sie, sondern meine Partei steht für Frieden, soziale Gerechtigkeit, Demokratie und - endlich - für eine wirkliche deutsche Einheit.

(Beifall bei der LINKEN - Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

- Ich wollte, dass Sie sich einmal aufregen können. Jetzt können Sie es.

(Anhaltender Beifall bei der LINKEN)