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Schwarz-gelbes Spardiktat holt Krise nach Deutschland

Rede von Gregor Gysi,

Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

Herr Rösler, ich habe Ihrem Bericht zugehört. Aber wissen Sie, was mich am meisten ärgert? Bevor Sie Ihren Bericht dem Kabinett zeigen und bevor Sie ihn gestern dem Ausschuss gezeigt haben und heute dem Plenum, beraten Sie mit allen Wirtschaftsbossen, ob der Jahreswirtschaftsbericht so in Ordnung sei. Mein Gott! Brauchen Sie immer die Genehmigung der Wirtschaftsbosse? Wann stellen wir denn endlich wieder das Primat der Politik über die Wirtschaft her statt des Primats der Wirtschaft über die Politik? Das wird wirklich höchste Zeit.

(Beifall bei der LINKEN)

Ihr Bericht ist schöngefärbt; das wissen Sie. Das liegt natürlich an der Wahl in Niedersachsen. Deshalb sprechen Sie auch heute hier. Aber nun muss ich Ihnen eines sagen, meine Damen und Herren von der FDP: Willy Brandt hat bei einer Bundestagswahl damit angefangen, seine Wählerinnen und Wähler aufzufordern, mit den Zweitstimmen der FDP zu helfen, damit sie über die 5-Prozent-Hürde kommt. McAllister und die CDU in Niedersachsen machen jetzt dasselbe. Ich weiß nicht, ob Frau Merkel und die CDU bei der Bundestagswahl auch dasselbe machen werden. Das heißt, Ihr Ergebnis basiert nicht auf eigener Leistung, sondern auf Leihstimmen. Wir haben es viel schwerer, weil weder Union noch SPD ihre Wählerinnen und Wähler jemals aufrufen würden, mit der Zweitstimme die Linke zu wählen. Wir müssen das ganz alleine schaffen. Ich will nur darauf hinweisen, dass wir hier eine größere Leistung erbringen.

(Beifall bei der LINKEN)

Noch etwas: Das Ding hat eine Kehrseite. Wenn Union und FDP in den Landtag Niedersachsen einziehen   damit rechnen jetzt viele  , haben Sie von Rot-Grün in Niedersachsen höchstwahrscheinlich keine Mehrheit. Jetzt müssten Sie Ihre Wählerinnen und Wähler doch aufrufen, mit der Zweitstimme die Linke zu wählen. Da Sie das aber nicht machen werden, ersetze ich Sie und sage es ihnen selbst.

(Beifall bei der LINKEN)

Kommen wir einmal zu dem Bericht. Das Bruttoinlandsprodukt ist immer der Gradmesser für die Leistungsfähigkeit einer Wirtschaft. Das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts sinkt von 3 Prozent im Jahr 2011 über 0,7 Prozent im letzten Jahr nach Ihrer Einschätzung, Herr Rösler, 2013 auf 0,4 Prozent. Darf ich vielleicht noch an etwas erinnern? Sie haben den Fiskalpakt beschlossen. Im Fiskalpakt steht, dass ein Staat nicht mehr als 60 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts als Schulden haben darf. Gleichzeitig ist geregelt, dass man, wenn man darüber liegt   wir liegen bei über 80 Prozent  , die Schulden pro Jahr um 5 Prozent zu senken hat. Ich weiß noch, dass ich, als Herr Schäuble und ich beim Bundesverfassungsgericht saßen, gefragt habe, welche Kürzungen eigentlich geplant sind; denn die Regelung bedeutet ja, dass wir die Schulden jährlich um 25 Milliarden Euro senken müssen. Darauf hat er geantwortet, dass das, was ich sage, völlig falsch sei, weil ja die Wirtschaftsleistung, das Bruttoinlandsprodukt, so zunehmen kann, dass der Schuldenstand gemessen daran geringer wird; ich will das gar nicht weiter erklären.

(Zuruf von der FDP: Da hat er recht!)

  Ja, das stimmt.   Nur, das Problem ist: Dann brauchen wir eine Wirtschaftsleistungssteigerung von 1 Prozent pro Jahr. Sie gehen in Ihrer Prognose aber von einem Wachstum von 0,4 Prozent aus. Wir hatten auch schon einmal Jahre mit Minuswerten. Was ist denn dann? Sie müssen die Schulden abbauen. Das heißt, dann werden Sie wieder Sozialkürzungen vornehmen. Man hört ja auch schon von Geheimplänen im Bundesfinanzministerium, Stichwort „Witwenrente“ und vieles andere.

(Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): Richtig!)

Genau so geht es nicht!

(Beifall bei der LINKEN)

Ich sage Ihnen auch: Sie dürfen nicht vergessen, dass das sinkende Wachstum der Wirtschaftsleistung   0,4 Prozent Wachstum in 2013 ist doch wirklich nicht erheblich   damit zu tun hat, dass wir in einer Euro-Finanzkrise sind und dass Sie eine völlig falsche Politik gegenüber Südeuropa machen. Sie bauen Südeuropa ab. Die Wirtschaftsleistung nimmt dort ab. Die Steuereinnahmen nehmen ab. Von „sozial“ kann man gar nicht mehr reden. Es wird immer extremer unsozial. Die Folge ist, dass die Exporte Deutschlands in diese Länder zurückgehen. Ich habe mir das bei Opel angesehen. Bei Opel ist die Krise angekommen; die Opelaner in Bochum werden aus diesen Gründen kaputtgemacht. Übrigens: Ich habe auch mit dem Betriebsratsvorsitzenden von VW gesprochen. Der hat gesagt, VW habe einen dramatischen Rückgang der Verkäufe nach Italien, Portugal usw., aber könne das noch ausgleichen durch eine Steigerung des Exports nach China, nach Brasilien und in die USA.
Wir leben doch über unsere Verhältnisse. Dieses Ungleichgewicht zwischen Export und Import innerhalb der Euro-Zone kann nicht funktionieren. Wir alle wissen, dass der Export wahrscheinlich nachlassen wird. Dann gibt es nur eine mögliche Gegenmaßnahme: Sie müssen die Binnenwirtschaft stärken. Die können Sie nur stärken, wenn Sie sich endlich sozialer verhalten und die Renten, Löhne und Sozialleistungen erhöhen. Es gibt keinen anderen Weg, um die Binnenwirtschaft zu stärken; das wissen Sie auch.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich komme zum Arbeitsmarkt. Herr Rösler, was mich am meisten ärgert, ist, wenn Sie überall sagen: Es gibt jetzt eine wunderbare Arbeitslosenstatistik. Im nächsten Jahr wird es nur 60 000 Arbeitslose mehr geben.   Immerhin sagen Sie ja, dass es mehr geben wird. Wissen Sie, was mich daran so stört? Wenn man es sich genauer ansieht, stellt man fest: Das Problem ist, dass die Zahl der Vollzeitarbeitsplätze in den letzten zehn Jahren abgenommen hat, Herr Kauder. Es sind 1,6 Millionen weniger geworden. Wenn Sie sagen könnten, dass es mehr geworden sind, dann könnten Sie stolz sein. Es sind aber weniger geworden. Das Einzige, was zugenommen hat, ist die prekäre Beschäftigung. Deshalb können Sie eine bessere Statistik vorweisen.

(Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Sie haben mir nicht zugehört!)

Ein Viertel aller Beschäftigten arbeitet im Niedriglohnsektor; das sind 7,9 Millionen. Davon sind 4,66 Millionen Vollzeitbeschäftigte. Diese Zahl hat seit 2005 um 677 000 zugenommen. Die Leiharbeit weitet sich aus. Machen Sie etwas, um diese zu begrenzen? Nein, nichts! Sie lassen alles laufen. Im Jahre 2003 hatten wir einmal 5,5 Millionen Minijobs. Jetzt sind es 7,4 Millionen. Sie weiten dies noch aus, indem Sie die Verdienstgrenze von 400 Euro auf 450 Euro erhöht haben. Die Zahl der Teilzeitbeschäftigten stieg um 1,6 Millionen; jetzt haben wir 8,7 Millionen.
Zudem haben wir 1,3 Millionen Aufstockerinnen und Aufstocker. Wissen Sie, was die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler über die Jobcenter jährlich für die Aufstockerinnen und Aufstocker zahlen? 10 Milliarden Euro. Man muss sich das einmal vor Augen führen: Herr Brüderle, da geht ein Arbeitnehmer eine ganze Woche, einen Monat, ein Jahr den ganzen Tag arbeiten und verdient damit so wenig, dass er zum Jobcenter gehen muss, um zusätzlich Steuergelder zu erhalten. Das ist ein Skandal. Wer einen Vollzeitjob hat, muss Anspruch auf einen Lohn haben, von dem er in Würde leben kann. Das wird höchste Zeit.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dafür brauchen wir den flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn. Ich garantiere Ihnen, dass der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn trotz des Widerstandes der FDP spätestens im Jahre 2014 beschlossen wird. Sie kommen gar nicht umhin. Man kann sich einem solchen Trend auf Dauer nicht widersetzen.

Auf der anderen Seite müssen wir uns mit den Reallöhnen beschäftigen. Die Reallöhne sind in den letzten zehn Jahren um 4,5 Prozent gesunken. Bei den 10 Prozent, die am schlechtesten verdienen, ist der Reallohn sogar um 9 Prozent gesunken. Die Armut nimmt zu.

(Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): Quatsch!)

  Natürlich nimmt sie zu.   Zwar ist die Arbeitslosenquote von 11,7 auf 7,1 Prozent gesunken; doch in derselben Zeit, so das Statistische Bundesamt, ist das Armutsrisiko von 14,6 Prozent auf 15,3 Prozent gestiegen. Wie kommt das, wenn Sie doch eine so tolle Arbeitslosenstatistik haben? Wieso nimmt die Armut zu? Ich sage Ihnen: Dass Vollzeitbeschäftigte von Armut bedroht sind, hat es früher nicht gegeben. Jetzt aber ist es Realität.

Mich interessiert auch die andere Seite. Man könnte darüber diskutieren und sagen: Na gut, das Vermögen in Deutschland nimmt insgesamt ab. Wenn das Vermögen abnimmt, muss man sich überlegen, wie man es gerechter verteilen kann.   Aber das Gegenteil ist der Fall. 1992 hatten wir in Deutschland ein Vermögen von 4,6 Billionen Euro; im Jahre 2012 betrug es 10 Billionen Euro. Seit der Finanzkrise im Jahre 2007 gab es eine Zunahme von 1,4 Billionen Euro. Hier hat eine gigantische Umverteilung von unten nach oben stattgefunden. Darum kommen Sie nicht herum. 0,6 Prozent der Haushalte in Deutschland besitzen ein Vermögen von 1,9 Billionen Euro; das sind 20 Prozent. Die unteren 50 Prozent der Haushalte besaßen 1998 einen Anteil von 4 Prozent am Gesamtvermögen; heute ist es nur noch ein Anteil von 1 Prozent. Erklären Sie doch einmal diesen 50 Prozent der Haushalte, weshalb sie immer stärker in Armut gestürzt werden? Warum berichten Sie so etwas nicht, Herr Rösler?

(Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Weil das nicht stimmt!)

Sie betreiben nur Schönfärberei. Das ist meines Erachtens nicht hinzunehmen. Sie weigern sich, Vermögen zu besteuern. Meinen Sie nicht, dass es Zeit wird, dass die Kosten für die Finanzkrise von denjenigen getragen werden, die sie erstens verursacht haben und die zweitens davon profitieren?

(Beifall bei der LINKEN   Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Welcher Mittelständler hat das denn verursacht?)

  Ich rede nicht vom Mittelständler. Ich rede von den wirklich Vermögenden.   Herr Fuchs, wir fordern eine Vermögensteuer von 5 Prozent auf ein privates Vermögen von mehr als 1 Million Euro. Mein Gott, die merken gar nicht, wenn das abgebucht wird. Es würde aber ein Stück weit mehr Gerechtigkeit in Deutschland entstehen.

(Beifall bei der LINKEN)

Dasselbe gilt übrigens auch für Griechenland. Sie müssen einmal den griechischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, den Rentnerinnen und Rentnern, den Frauen, die entbinden wollen, erklären, warum sie die Krise zu bezahlen haben. Welchen Schuldanteil haben diese Menschen an der Krise?

Ich erinnere mich daran, wie Herr Schäuble begründet hat, dass zur Sanierung des Haushaltes das Elterngeld für Hartz-IV-Empfänger gestrichen wird. Da habe ich Sie gefragt, Herr Kauder, was die Hartz-IV-Empfänger falsch gemacht haben. Sie sollten sich hier hinstellen und die fünf Gründe nennen, warum die Hartz-IV-Empfänger die Krise verursacht haben. Das konnten Sie nicht. Es waren nämlich doch die Ackermänner, die die Krise verursacht haben. Aber genau die werden nicht herangezogen. Das ist das Problem der sozialen Ungerechtigkeit bei uns.

(Beifall bei der LINKEN - Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Die Hartz-IV-Empfänger werden immer weniger wegen der guten Wirtschaftspolitik!)

Jetzt steuern wir auf eine Altersarmut zu, und Sie von der CSU und der FDP weigern sich, etwas dagegen zu unternehmen. Selbst der Vorschlag von Frau von der Leyen zur Zuschussrente wird abgelehnt. Das Rentenniveau soll bei 43 Prozent liegen. Viele verdienen nur noch 1 000 Euro. Ich sage Ihnen, hier entsteht eine Armut, die nicht zu rechtfertigen ist.

(Beifall bei der LINKEN)

Herr Rösler, Sie haben den Jahreswirtschaftsbericht geschönt und ein bisschen frisiert. Dasselbe haben Sie schon mit dem Armuts- und Reichtumsbericht gemacht. Der bleibt trotzdem skandalös. Ich will gar nicht sagen, an welche Zeiten mich das erinnert, in denen Berichte derart getürkt wurden. Das haben Sie doch nicht nötig.

Präsident Dr. Norbert Lammert:
Da haben Sie aber fast Glück, dass dafür auch gar keine Zeit mehr besteht.

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Herr Bundestagspräsident, ich werde mir jetzt einmal notieren, wann Sie Geburtstag haben. Dann werde ich Ihnen eine neue Uhr schenken.

(Heiterkeit)

Ich muss Ihnen Folgendes erklären: Es gibt hier Leute, die elf Minuten reden, und das kommt mir dann wie eine halbe Stunde vor. Bei mir rennt Ihre Uhr immer.
Aber ich danke Ihnen trotzdem. Alles Gute.

(Beifall bei der LINKEN - Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Für mich waren das jetzt 30 Minuten!)