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Regierungspolitik führt zur katastrophalen sozialen Lage bei Migrantinnen und Migranten

Rede von Sevim Dagdelen,

Obwohl die wesentlichen Handlungsfelder und die Knackpunkte seit Jahrzehnten bekannt sind, hat sich im Leben der Migrantinnen und Migranten nicht viel verändert. Es ging in den letzten Jahrzehnten nie wirklich um Teilhabe und Integration von Migrantinnen und Migranten oder auch von Flüchtlingen in unserer Gesellschaft.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Der alarmierende Befund, insbesondere im Hinblick auf die Zukunftsperspektiven von 1 Mio. ausländischer Kinder und Jugendlicher im Bundesgebiet, macht umfassende Anstrengungen dringlich, um größten individuellen und gesamtgesellschaftlichen Schaden abzuwenden.
Dieses Zitat stammt nicht etwa aus dem vorliegenden Siebten Bericht über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland, ich zitiere den ersten Ausländerbeauftragten, Heinz Kühn, der diesen Appell schon 1979 verfasst hat.
Es ist traurig, dass die Kernaussagen noch heute, fast 30 Jahre später, gelten, wobei wir mittlerweile von 3 Millionen Kindern und Jugendlichen sprechen müssen, die von der hässlichen Politik dieser Regierung betroffen sind.
(Beifall bei der LINKEN)
Obwohl die wesentlichen Handlungsfelder und die Knackpunkte seit Jahrzehnten bekannt sind, hat sich im Leben der Migrantinnen und Migranten nicht viel verändert. Die Zahlen Frau Staatsministerin Böhmer hat darauf hingewiesen sprechen eine deutliche Sprache: Über 17 Prozent haben keinen Schulabschluss, über 40 Prozent keine Ausbildung, über 70 Prozent keine Qualifizierung, ihre Arbeitslosenquote ist fast doppelt so hoch wie die von Nichtmigranten.
Angesichts dieser Lage müsste die Bundesregierung eigentlich ein umfassendes Sofortprogramm vorlegen. Stattdessen bietet sie einen Bericht, der weder differenziert noch umfassend noch kritisch ist. Das steht im Widerspruch zu dem, was in der Vorbemerkung dieses Berichts angekündigt ist. So setzt sich die weitgehende Unkonkretheit der im Nationalen Integrationsplan der Bundesregierung enthaltenen Maßnahmen im Bericht über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer fort.
Genau das wollten wir mit dem Antrag, den wir frühzeitig eingereicht haben, verhindern. Wir forderten den Deutschen Bundestag ausdrücklich auf, die beabsichtigte inhaltliche Neukonzeption des Lageberichts abzulehnen. Die Vermischung einer wissenschaftlich fundierten Darstellung mit den Vorhaben der Bundesregierung im Rahmen des Nationalen Integrationsplans haben wir abgelehnt und wollten wir abwenden. Leider sind wir im Innenausschuss, wo wir federführend darüber beraten haben, nur von der FDP unterstützt worden.
(Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Forderung finden auch wir richtig, wir wollten das allerdings nicht im Eilverfahren haben!)
Wir wollten einen Lagebericht, der dem Parlament als Informationsgrundlage dient.
Die Bundesregierung versucht eine Integrationspolitik zu gestalten, ohne zu analysieren, warum Migrantinnen und Migranten noch immer stark benachteiligt sind. Keine Analyse der Missstände, keine Auseinandersetzung mit den Ursachen und mit den Folgen der Politik. Da Sie, meine Damen und Herren, nicht in der Lage sind, eine Analyse vorzulegen, will ich Ihnen dabei gerne helfen: Ihre neoliberale Politik ist es, die immer mehr Menschen in Armut treibt, Deutsche wie Ausländer und Menschen mit Migrationshintergrund.
Der kürzlich veröffentlichte 3. Armutsbericht der Bundesregierung belegt dies eindrucksvoll. Demnach sind Menschen mit Migrationshintergrund mit 28,2 Prozent deutlich stärker als Deutsche von Armut betroffen. Die Zahl der Niedriglohnbeschäftigten wächst: Mehr als ein Drittel der Beschäftigten, 36,4 Prozent, haben einen Verdienst unterhalb der Niedriglohnschwelle. Hier sind Migranten aufgrund geringerer Qualifikationen überdurchschnittlich vertreten. Viele müssen neben ihrem Hauptberuf einer weiteren Beschäftigung nachgehen. Jeder zehnte Minijobbeschäftigte 64 Prozent sind Frauen; so viel zu Ihrer Frauenpolitik! war ein Ausländer. Viele sind, wie ich erleben konnte, als Nokia sein Werk in meinem Wahlkreis in Bochum schließen wollte, Leiharbeiterinnen oder Leiharbeiter.
Das heißt, die Armut hat trotz Arbeit zugenommen, und sie nimmt bei Migranten verstärkt zu. Der beklagte Anstieg der Armut trotz Arbeit und auch der Altersarmut sind logische Folgen der Hartz-Gesetze, die dem Motto „Jede Arbeit ist zumutbar“ folgten. Die Armut ist auch eine Folge der Agenda-2010-Politik. Denn der Zeitraum, den der 3. Armutsbericht der Bundesregierung abdeckt, erstreckt sich im Wesentlichen auf die Jahre von 1998 bis 2005. Damit ist dieser Bericht sozusagen ein Armutszeugnis für rot-grüne Politik.
(Beifall bei der LINKEN Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das trifft jetzt aber sehr!)
Sie sagen immer wieder: Bildung entscheidet über Teilhabechancen und über existenzsichernde Erwerbsbeteiligung. Mit Migrationshintergrund ist der Bildungsstand geringer als ohne Migrationshintergrund, das bestätigt der 2. Nationale Bildungsbericht der Bundesregierung. Dies wurde auch im Lagebericht ausgeführt. Statt aber Anregungen zur Überwindung dieser Situation zu geben, finden sich im Lagebericht ähnlich leere Worte wie im Nationalen Integrationsplan. Integration wird zunehmend zu einem individuellen Problem der Menschen mit Migrationshintergrund gemacht: Sie sollen besser Deutsch lernen mehr fällt Ihnen dazu nicht ein! und sich mehr bilden. Von den genannten strukturellen Defiziten im Bildungssystem ist hingegen keine Rede. Es ist, wie der Sozialwissenschaftler Christoph Butterwegge gegenüber der Frankfurter Rundschau gesagt hat, eine „pure Heuchelei“, Bildung als Weg aus der Armut zu präsentieren, gleichzeitig aber nichts zu tun, um soziale Gleichheit herzustellen.
Viele Themen werden im Lagebericht entweder nur am Rande angesprochen oder in fragwürdiger Weise dargestellt:
Es findet sich zum Beispiel kein Wort über das den Angehörigen eines Drittstaates nach wie vor verweigerte Recht, an Kommunalwahlen teilzunehmen. Damit wird meines Erachtens ein zentraler Punkt der politischen Teilhabe verweigert.
(Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Stimmt!)
Gerade von dieser wird doch ansonsten immer so wortreich gesprochen. Sie sollen sich engagieren. Die Linke sagt: Wer von Integration redet, der muss den Menschen auch gleiche Rechte geben, damit sie am gesellschaftlichen Leben auch partizipieren können.
(Beifall bei der LINKEN - Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das klingt vernünftig!)
Im Lagebericht steht auch kein Wort über die Verzweiflung und Wut von Tausenden Frauen und Männern, die nicht mit ihrem Ehepartner zusammenleben können, weil sie seit der Novellierung des Zuwanderungsgesetzes im letzten Jahr durch die Anforderungen eines Sprachtests an einer Einreise nach Deutschland gehindert werden.
Es steht dort auch kein kritisches Wort zu den Zuständen in der Abschiebehaft und zu den durch das Richtlinienumsetzungsgesetz erweiterten Möglichkeiten, Flüchtlinge zu inhaftieren.
Im Lagebericht steht ebenfalls kein kritisches Wort zu den seit dem Jahr 2000 dramatisch gesunkenen Einbürgerungszahlen. Es werden einfach die Durchschnittswerte der Einbürgerungszahlen in den Fünfjahreszeiträumen 1995 bis 1999 bzw. 2002 bis 2006 miteinander verglichen. Schon kommt das passende Ergebnis für die Bundesregierung heraus. Dass die aktuellen Einbürgerungszahlen unter dem Wert von 1999 liegen also unter dem Wert von vor der sogenannten rot-grünen Reform , findet keinerlei Erwähnung.
(Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was war daran sogenannt?)
Weil die Bedingungen dadurch schlimmer wurden. Warum sollte die Bundesbeauftragte auch darauf hinweisen, dass die Zahlen seit 2000 kontinuierlich gesunken sind? Hier muss sich besonders auch die Sozialdemokratie fragen lassen, was sie in zehn Jahren Regierungsverantwortung eigentlich getan hat.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Frau Kollegin, genau einer dieser Sozialdemokraten, nämlich der Kollege Veit, würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Sevim Dağdelen (DIE LINKE):
Sehr gerne.
Rüdiger Veit (SPD):
Liebe Frau Kollegin Dağdelen, ich wollte sie fragen, ob Sie bei Ihren Ausführungen berücksichtigen könnten, dass die Änderungen im Aufenthaltsgesetz, die wir mit dem Richtlinienumsetzungsgesetz zur Umsetzung von elf EU-Richtlinien vorgenommen haben, erst zum August des Jahres 2007 in Kraft getreten sind und dass der Berichtszeitraum des hier und heute zu debattierende Berichts der Beauftragten sich nur bis zum November 2007 erstreckt. Mithin konnten in ihm keine Auswirkungen dieser Gesetzesänderung berücksichtigt werden.
(Hartmut Koschyk (CDU/CSU): Sehr gut!)
Sevim Dağdelen (DIE LINKE):
Sie sind mir ein bisschen zuvorgekommen. Das ist bereits berücksichtigt worden, lieber Herr Kollege Veit. Deshalb wollte ich auch sagen, dass die in dem Bericht erwähnten Änderungen der Einbürgerungszahlen keine Trendwende hin in Richtung mehr Einbürgerungen bedeuten. Im August des letzten Jahres wurde durch das Richtlinienumsetzungsgesetz Sie haben das selbst schon gesagt auch das Staatsangehörigkeitsgesetz geändert, wodurch die vereinfachte bzw. erleichterte Einbürgerung für unter 23-jährige Jugendliche oder Erwachsene wie Sie wollen weggefallen ist. Das heißt, in nächster Zeit werden sich weniger Menschen einbürgern lassen können, als das aufgrund der erleichterten Einbürgerung der Fall gewesen ist, die es 2006 noch gab. Deshalb gehe ich davon aus, dass der Trend, dass die Zahlen sinken, weiter anhalten wird.
(Beifall bei der LINKEN)
Herr Veit, vor allen Dingen an Sie möchte ich appellieren sofern ich weiß, sind Sie Mitglied der Sozialdemokraten : Vergessen Sie jetzt, da Sie sich aktuell über die Einbürgerungstests so sehr echauffieren, nicht, dass Sie diese Regelung 2006 bei der Innenministerkonferenz zum Beispiel durch Ihren Innenminister Stegner oder auch durch Innensenator Körting mitbeschlossen haben
(Reinhard Grindel (CDU/CSU): Da hat sie recht! Wo sie recht hat, hat sie recht!)
und dass Sie sie auch im letzten Jahr bei der Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes mitbeschlossen haben.
(Reinhard Grindel (CDU/CSU): Ja, das stimmt auch!)
Es ist im Moment so, wie wir das von der SPD kennen: Sie verhalten sich hinsichtlich der Einbürgerungstests falsch und unaufrichtig. Für wie blöd halten Sie uns oder auch die Menschen außerhalb dieses Parlaments eigentlich?
(Beifall bei der LINKEN - Fritz Rudolf Körper (SPD): Das ist wirklich die Frage! Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Wollen Sie eine Antwort?)
Hinsichtlich der Grünen, die einen Antrag vorgelegt haben und meines Erachtens in die Falle der SPD getappt sind, möchte ich anmerken: Vor allen Dingen Sie von den Grünen sollten hier nicht immer den Mund so voll nehmen und versuchen, sich als Gutmenschen zu präsentieren.
(Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist aber ein dicker Hund! Gerade Sie! So gut wie Sie können wir das gar nicht!)
Sie tragen nämlich Mitverantwortung für die schlimme Situation der Migrantinnen und Migranten wie auch der Deutschen in unserem Lande. Sie von den Grünen haben nämlich für alles, was die Situation der betroffenen Menschen verschlimmert hat, genauso die Hand gehoben.
(Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das stimmt doch gar nicht! Wir haben doch letztes Jahr dagegen gestimmt!)
Nun versuchen Sie hier, den Gutmenschen zu geben, als wenn Sie nicht in der Regierung gewesen wären und nicht diese neoliberale Politik betrieben hätten, die zu mehr Armut und auch zu mehr Bildungsarmut bei Migrantinnen und Migranten geführt hat.
Nach wie vor verteidigt die Bundesbeauftragte die Verschlechterung für Flüchtlinge, die in der schwarz-roten Koalition forciert wird. Es scheint sie nicht zu stören, dass Menschen nun statt drei Jahre vier Jahre lang Leistungen beziehen, die zwischen 15 und 35 Prozent unter den vergleichbaren Regelsätzen liegen. Das bedeutet, dass sie vier Jahre lang von 184,07 Euro im Monat leben müssen. Das ist beschämend und muss ein Ende haben. Es ist ein Skandal. Wenn Sie von Teilhabe sprechen, dann müssen Sie den Menschen auch die materiellen Voraussetzungen dafür zur Verfügung stellen.
(Beifall bei der LINKEN)
Insgesamt ist festzustellen, dass der Bericht eines eindrucksvoll zeigt: Es ging in den letzten Jahrzehnten und auch in den letzten Jahren nie wirklich um Teilhabe und Integration von Migrantinnen und Migranten oder auch von Flüchtlingen in unserer Gesellschaft. Wenn Sie Integration wollen, dann müssen Sie die notwendigen Rahmenbedingungen schaffen. Bekämpfen Sie nicht die Migranten und Flüchtlinge! Schaffen Sie gleiche Rechte! Betreiben Sie eine gerechte Bildungspolitik, eine wirklich soziale Sozialpolitik und eine gute Arbeitsmarktpolitik und kehren Sie von Ihrem neoliberalen Irrsinn ab!
(Beifall bei der LINKEN)