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Leben oder sterben: Wenn die Mitte der Gesellschaft die vermeintlich Schwächeren opfert

Rede von Sören Pellmann,

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Im heute vorliegenden weltweit ersten Triagegesetz geht es um Leben und Tod, um gesellschaftliche Grundfeste und den Umgang mit den vermeintlich Schwächeren unserer Gesellschaft.

Vorab: Wir müssen das Bundesverfassungsgericht und den notwendigen Schutz des Lebens von Menschen mit Behinderungen sehr ernst nehmen.

(Beifall bei der LINKEN)

Aber statt fraktionsübergreifend und ohne Zwänge wie zum Beispiel bei der Sterbehilfe oder der Pränataldiagnostik mit breitem gesellschaftlichem Diskurs Lösungen zu finden, peitschen Sie dieses Gesetz heute durch.

(Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Da hat er recht!)

Es gibt Mängel wie das Fehlen einer spezifischen Weiterbildung, externer und unabhängiger Kontrollinstanzen sowie unabhängiger, öffentlicher, barrierefreier Beratungsangebote, Beschwerdestellen und, und, und. All das fehlt. Das zeigt eines: Die umfassende Beteiligung vielfältiger Akteure wäre deutlich wichtiger gewesen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ein Alarmsignal ist aber, wenn die Beauftragten für Menschen mit Behinderungen des Bundes sowie der Länder – Herr Dusel, schön, dass Sie heute hier sind – vor der Sitzung ein gemeinsames Statement abgegeben haben. Darin heißt es:

"Aus Sicht der Behindertenbeauftragten von Bund und Ländern hat die Anhörung deutlich gemacht, dass es schwerwiegende Diskriminierungsrisiken … gibt. Insbesondere die Einlassung des Vertreters der Bundesärztekammer, nach der die Abwägung der kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit nach medizinischen Kriterien fast unmöglich sei, führt zu erheblichen Bedenken."

(Beifall bei der LINKEN)

Menschen mit Behinderung nennen dieses Gesetz deswegen „Selektionsgesetz“, da die aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit ein ungeeignetes Kriterium sei. Sie meinen weiter, mathematisch sollten mehr Leben gerettet werden, aber das Gesetz opfere die von der Mitte als schwach Angesehenen. Zahlreiche prominente Menschen mit Behinderung sehen dieses Prinzip daher als „survival of the fittest“.

Heute ist auf der Tribüne eine der Klägerinnen in Karlsruhe, Carola Nacke, anwesend. Sie hat einen Sohn mit dem Downsyndrom. Auf meine Frage an sie, wie sie diesen Gesetzentwurf einschätzt, sagte sie sehr deutlich – ich zitiere sie –:

"Die subjektive Beurteilung der Überlebenschance führt zur Aussortierung. Damit mehr Menschen gerettet werden können, werden die Schwächsten von der Mitte der Gesellschaft geopfert. In unserer Verfassung ist jedes Leben aber gleich viel wert. Dieses Gesetz ist ein Zivilisationsbruch!"

(Beifall bei der LINKEN)

Für Die Linke gibt es viele unterschiedliche Gründe, heute dieses Gesetz abzulehnen. Es ist auf verschiedenen Ebenen mangelhaft. Lassen Sie uns diesen Entwurf heute ablehnen und mit dem breiten Diskurs neu beginnen. Dabei muss auch eine Lösung für das Problem gefunden werden, das insbesondere während der Coronapandemie zuhauf aufgetreten ist, nämlich dass Menschen gar nicht erst ins Krankenhaus gebracht werden.

Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss mit einem Zitat von Gustav Heinemann, das Carola Nacke gern verwendet: „Man erkennt den Wert einer Gesellschaft daran, wie sie mit den Schwächsten ihrer Glieder verfährt.“ Es geht für uns alle um das Wichtigste: um unser Leben.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)