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Die Ampelkoalition plant zu wenig zur Bekämpfung sozialer Ungleichheit

Rede von Heidi Reichinnek,

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beim Lesen des Koalitionsvertrags habe ich mich kurz gefragt, ob mir vielleicht ein paar Kapitel fehlen. Denn da stehen zwar viele schöne Worte; es wurden auch einige vorgetragen. Aber die Vorhaben der Ampelkoalition leisten nicht wirklich einen Beitrag dazu, die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland endlich zu schließen. Vermögensteuer: Fehlanzeige! Bürger/-innenversicherung: Fehlanzeige! Abschaffung von Hartz IV – Sie ahnen es –: Fehlanzeige! Und nein, ein neuer Name hilft uns nicht wirklich weiter.

(Beifall bei der LINKEN)

Nach vielen Jahren Arbeit in verschiedenen Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe kann ich Ihnen nur sagen: Auch hier liegt einiges im Argen, und die Folgen der Pandemie sind gravierend. Zwar diskutieren alle darüber, wie der verlorene Schulstoff aufgeholt werden kann; aber kaum jemand redet darüber, was es mit Kindern und Jugendlichen macht, wenn sie zwei Jahre lang fast keine sozialen Kontakte haben, und hier sind Kinder armer Familien massiv benachteiligt. Im eigenen Garten mit Computer ist so eine Quarantäne ehrlicherweise einfacher zu ertragen als mit zwei Geschwistern auf einigen wenigen Quadratmetern.

(Beifall bei der LINKEN)

Bereits nach dem ersten Lockdown stiegen Depressionen bei Jugendlichen auf das Zweieinhalbfache des Vor-Corona-Niveaus. Auch hier kann ich aus meiner Praxis in der Jugendhilfe berichten – ich war da noch vor wenigen Monaten –: Die Kinder und Jugendlichen gehen gerade kaputt.

Aber statt nur zu pöbeln und die Kinder zu instrumentalisieren, sage ich: Wir brauchen deshalb eine nachhaltige Stärkung von Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe. Statt hier und da Projektförderungen, bei denen niemand ohne Promotion versteht, wie man die Anträge dafür überhaupt ausfüllen muss, brauchen wir Investitionen in nachhaltige Strukturen.

(Beifall bei der LINKEN)

Es bringt nichts, wenn sich Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter ein Prestigeprojekt nach dem nächsten ausdenken müssen, damit Politikerinnen und Politiker damit in der Presse glänzen. Denn Sozialarbeit ist kein Wettbewerb; sie ist eine zentrale öffentliche Aufgabe, und das müssen wir endlich anerkennen.

(Beifall bei der LINKEN)

Doch ich möchte noch einen Schritt weitergehen: Wie viele Kinder kommen hungrig in die Schule? Wie viele Kinder können nicht mit zum Schulausflug? Wie viele Kinder können sich vielleicht gerade noch den Beitrag für den Fußballverein leisten, aber nicht mehr die Schuhe dafür?

Ja, es geht um Kinderarmut: Jedes fünfte Kind lebt in Armut. Sie sagen: „Die Kindergrundsicherung soll kommen“, bleiben dabei aber völlig unkonkret, um welchen Betrag es sich denn handeln soll. Deswegen empfehle ich Ihnen unseren Antrag aus dem März 2020. Wir werden konkret: altersabhängig bis zu 630 Euro Grundbetrag plus Erstattung von Kosten für Wohnung und Sonderbedarfe. So einfach kann es sein, so gut, so gerecht.

(Beifall bei der LINKEN)

Doch noch unwichtiger als Kinderarmut scheint für Sie Altersarmut zu sein; denn das Wort wird im gesamten Koalitionsvertrag nicht einmal erwähnt. Dabei lebt ein Fünftel aller Seniorinnen und Senioren in Armut.

Interessant auch, wie uninteressant das Thema Alleinerziehende für Sie zu sein scheint. Die werden fünfmal erwähnt, aber ohne erkennbare Strategie, um deren Situation wirklich zu verbessern. Auch hier erinnere ich Sie ungern: 43 Prozent aller Alleinerziehenden leben in Armut. Die Pandemie hat sie ganz besonders belastet. Wenn Minister Heil jetzt mit großem Tamtam als erste Maßnahme 40 Prozent Zuschuss für Haushaltshilfen ankündigt, dann ist das doch absurd. Denn wer kann sich denn eine Haushaltshilfe leisten, und welche Art von Jobs wird damit finanziert? Das sind rhetorische Fragen.

(Beifall bei der LINKEN)

Aber mal im Ernst: Damit wollen Sie Ihr Jahrzehnt der Gleichstellung einläuten?

Frau Ministerin Spiegel, Sie sagen von sich, Sie seien Feministin, und das freut mich außerordentlich. Ich verbinde damit die Hoffnung, dass die angekündigten Vorhaben der Ampel, um die Situation von Frauen zu verbessern, zügig auf den Weg gebracht werden, und ich hoffe, Sie schaffen es auch, sich gegen die Handschrift der FDP durchzusetzen.

Dass die Istanbul-Konvention beispielsweise endlich wirksam umgesetzt werden soll, ist dabei weniger ein großer Wurf der neuen als eher ein Versagen der alten Regierung. „Wirksam umgesetzt“ heißt übrigens, dass wir unter anderem 14 000 Plätze mehr in Frauenhäusern brauchen und dafür entsprechende Investitionen.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Was da mit Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, möglich ist, das ist die große Frage.

Was wir gut finden, ist, dass Sie zwei Wochen bezahlten Urlaub für Väter nach der Geburt einführen wollen. Das soll bitte unabhängig vom Geschlecht für das zweite Elternteil gelten und auch für Alleinerziehende.

(Beifall bei der LINKEN)

Das übrigens ist eine linke Idee; wir haben sie letztes Jahr hier eingebracht. Damals hat die SPD leider noch dagegengestimmt. Schön, dass Sie es sich jetzt anders überlegt haben, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir sehen mal wieder: Links wirkt!

Bei Ihren guten Projekten sind wir an Ihrer Seite, und ansonsten rücken wir die soziale Frage als einzig soziale Opposition im Haus natürlich in den Mittelpunkt.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)