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Mobilität darf kein Luxus sein!

Rede von Clara Bünger,

Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrter Herr Minister! Liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! Das 9‑Euro-Ticket ist jetzt seit acht Tagen Geschichte. Es ist wirklich bedauerlich, dass Sie dieses erfolgreiche Projekt so schnell wieder begraben haben. Stattdessen soll es jetzt ein 49-Euro- oder ein 69-Euro-Ticket geben. Das als „Nachfolgetickets“ zu verkaufen, verkennt die prekäre Situation, in der sich viele Menschen in diesem Land befinden.

(Beifall bei der LINKEN)

Millionen Menschen werden ab jetzt wieder vom Recht auf Mobilität ausgeschlossen sein.

Wir müssen aber nicht nur über die Frage der Mobilität sprechen, sondern auch über die Bestrafung von Armut in diesem Kontext. Ich habe bei der Deutschen Bahn nachgefragt, wie viele Menschen bei Kontrollen ohne Ticket angetroffen wurden. Das Ergebnis ist eindeutig: Bevor es das 9‑Euro-Ticket gab, sind über 214 000 Personen ohne Ticket angetroffen worden. Im gleichen Zeitraum dieses Jahres waren es nur gut 120 000.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Weil nicht mehr kontrolliert wurde!)

Die Zahl der Menschen, die ohne Ticket gefahren sind, hat sich in der Zeit des 9‑Euro-Tickets also fast halbiert. Und es ist falsch, was Sie von der Union sagen: Das lag nicht daran, dass es in diesem Jahr weniger Kontrollen gegeben hat. Laut Informationen des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen wurden die Kontrollen nämlich nicht heruntergefahren während der Zeit des 9‑Euro-Tickets.

(Beifall bei der LINKEN – Zuruf der Abg. Andrea Lindholz [CDU/CSU])

– Sie können ja selber nachfragen.

(Andrea Lindholz [CDU/CSU]: Ich bin selber gefahren! Selbsttest!)

Was passiert mit Menschen, die sich kein Ticket leisten können und dann kontrolliert werden? Sie müssen nicht nur ein erhöhtes Beförderungsentgelt an das Verkehrsunternehmen zahlen, sondern ihnen droht auch noch eine Haft- oder Geldstrafe. Das Paradoxe ist: Wer schon nicht genug Geld hat für ein Ticket, hat erst recht nicht genug Geld, um die erhöhte Entgeltzahlung für das Unternehmen zu leisten.

Was ist die Konsequenz für diese Menschen? Für diese Menschen hat das Fahren ohne Fahrschein die Konsequenz:

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Laufen!)

die Ersatzfreiheitsstrafe. Also: Als Ersatz für das Zahlen der Geldstrafe gehen Menschen ins Gefängnis. Damit bestraft man Arme doppelt.

(Beifall bei der LINKEN)

Viele machen sich gar nicht bewusst, was das konkret für die Betroffenen bedeutet. Ihnen droht der Verlust der Wohnung und des Arbeitsplatzes. Das haben Sie, Herr Buschmann, in Ihrem Referentenentwurf zum Sanktionsrecht übrigens sogar selbst erkannt. Sie schreiben in dem Entwurf – ich zitiere –:

"… in bestimmten Konstellationen kann der Vollzug der Ersatzfreiheitsstrafe sogar zu einer weiteren Entsozialisierung führen, etwa durch den Verlust der Wohnung oder des Arbeitsplatzes …"

(Helge Limburg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb wollen wir es auch reduzieren!)

Das bedeutet für viele Menschen eine zusätzliche Bestrafung, Stigmatisierung und soziale Isolierung. Wenn Sie das schon in Ihrem eigenen Referentenentwurf erkannt haben: Wieso handeln Sie dann nicht danach?

(Beifall bei der LINKEN)

Die von Ihnen vorgesehene bloße Halbierung der Zahl der Tage ist ein Witz für die Menschen und hilft auch nicht, das Grundproblem der Bestrafung der Armut abzuschaffen. Oder finden Sie es gerecht, dass Menschen wegen Fahrens ohne Fahrschein ins Gefängnis kommen, meistens sogar ohne jemals vor einem Richter gestanden zu haben? Ich nicht!

(Beifall bei der LINKEN)

Ich möchte das an einem Beispiel deutlich machen. Herr A. wurde wegen einer sogenannten Beförderungserschleichung zu einer zweieinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt, weil er die Geldstrafe von 8 000 Euro nicht aufbringen konnte.

(Stephan Brandner [AfD]: Ein Ersttäter?)

Nur zur Verdeutlichung: Herr A. hat sich nicht wegen anderer Delikte strafbar gemacht. Seine zweieinhalb Jahre Knast beruhen lediglich auf Verurteilung wegen wiederholten Fahrens ohne Fahrschein.

(Stephan Brandner [AfD]: Wie viele Male denn? – Dr. Thorsten Lieb [FDP]: Das muss er aber ganz häufig wiederholt haben!)

Das ist doch absurd!

(Beifall bei der LINKEN)

Mehr als die Hälfte aller Inhaftierten in deutschen Gefängnissen – und das wissen Sie auch, Herr Buschmann – sitzt eine Ersatzfreiheitsstrafe ab. Das betrifft jährlich 50 000 Menschen. Das ist doch absurd.

(Beifall bei der LINKEN)

Das ist nicht nur eine Katastrophe für die Betroffenen, sondern verursacht auch extrem hohe Kosten für den Staat. Deutschlandweit werden pro Tag 450 000 Euro ausgegeben, um Menschen zu inhaftieren, die eine Geldstrafe nicht zahlen konnten, häufig wegen Fahrens ohne Fahrschein. Das sind 164 Millionen Euro im Jahr. Und die Kosten der justiziellen Verfolgung sind da noch nicht mal inbegriffen. Dieses Geld kann doch an anderer Stelle so viel sinnvoller eingesetzt werden.

Zur Arbeit fahren, Freundinnen und Freunde und Verwandte besuchen oder einfach nur in die Natur fahren ist bisher häufig ein Privileg von reichen Menschen. Das darf aber nicht so bleiben. Mobilität darf kein Luxus sein,

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

sondern es muss jedem und jeder ermöglicht werden. Deswegen setzen wir uns als Linke dafür ein, dass es einen kostenlosen ÖPNV gibt. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass durch Krise und Inflation noch mehr Menschen sich die Mobilität nicht mehr leisten können, sollten Sie das Fahren ohne Fahrschein entkriminalisieren. Und: Schaffen Sie die Ersatzfreiheitsstrafe komplett ab. Machen Sie jedoch keine halben Sachen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)