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Rede von Anke Domscheit-Berg am 28.11.2018

Rede von Anke Domscheit-Berg,

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Aktuelle Stunde widmet sich dem Digital-Gipfel, bei dem kommende Woche die Bundesregierung der Industrie ihre Strategien zur künstlichen Intelligenz und zur Umsetzung der Digitalen Agenda präsentiert. Für die Zivilgesellschaft gibt es einen solchen Gipfel nicht; Digitalisierung betrachtet die Bundesregierung primär aus der Sicht der Wirtschaft. Weil die Zivilgesellschaft kaum Beteiligungsmöglichkeiten bekommt, kann sie ihre Perspektive auch nicht einbringen, und die Folge ist das Fehlen einer klaren Gemeinwohlorientierung.

(Beifall bei der LINKEN)

Das größte Problem ist allerdings, dass der Strategie der Bundesregierung keine Vision zugrunde liegt, welche Art digitaler Gesellschaft sie damit eigentlich erreichen möchte. Genau genommen fehlt selbst die Strategie. Man muss nicht, wie ich, jahrelang Strategieberaterin gewesen sein, um zu wissen, dass ein Papier nicht dadurch zur Strategie wird, dass jemand „Strategie“ obendrauf schreibt.

(Beifall bei der LINKEN – Heiterkeit und Beifall des Abg. Alexander Graf Lambsdorff [FDP])

Was uns als Strategie zur Umsetzung der Digitalen Agenda vorgelegt worden ist, grenzt an intellektuelle Beleidigung. Kein roter Faden verbindet die Themenfelder, keine Systematik strukturiert ihren Inhalt, den Schlagwörter und Allgemeinplätze prägen. Inhalte wie Netzneutralität, Open Access oder Governance-Strukturen fehlen, dafür gibt es 22‑mal „Blockchain“, 40‑mal „künstliche Intelligenz“ und 56‑mal den besonders nichtssagenden Begriff „Cyber“.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN)

Man kommt sich vor wie im Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“, wenn mal wieder große Ziele verkündet werden, die sich inzwischen anhören wie die drölfzigste Ankündigung der Eröffnung des Flughafens BER. Man kann sie einfach nicht mehr glauben.

(Beifall bei der LINKEN)

Bis vor zehn Jahren war ich viele Jahre Unternehmensberaterin mit Schwerpunkt E‑Government. Ich war begeistert, als im Jahr 2000, dem Geburtsjahr meines Sohnes, die Bundesregierung beschloss, bis 2005 alle internetfähigen Dienstleistungen der Bundesverwaltung online zu stellen. 2004 – mein Sohn war inzwischen vier Jahre alt – stieß ich bei der Bundesagentur für Arbeit das Vorhaben „Kindergeld online“ an, dessen erste Stufe noch im Ausfüllen eines Onlineformulares, Ausdrucken, Unterschreiben und Briefabschicken bestand; die zweite Stufe sollte papierlos sein. Mein Sohn ist inzwischen volljährig; „Kindergeld online“ erfordert immer noch einen Brief mit Ausdruck, Unterschrift usw. Das ist der Fortschritt von 18 Jahren.

(Gustav Herzog [SPD]: Da haben Sie als Beraterin gefehlt!)

Man nannte uns früher das Land der Ideen; jetzt nennt uns der „Spiegel“ in seiner aktuellen Ausgabe das Land der Wartemarken.

(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Andere nennen uns das Land der Funklöcher, der Kupferkabel und der Bildung, die in der Kreidezeit stecken geblieben ist.

(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN – Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Wo sie recht hat, hat sie recht!)

Apropos Funklöcher. Im Beirat der Bundesnetzagentur, dem ich angehöre, haben wir am Montag die Forderung verabschiedet, die Bundesregierung möge gemeinsam mit Bundesnetzagentur, Bundesrat und Bundestag ein Gesamtkonzept zum Mobilfunknetzausbau erarbeiten; das gibt es nämlich auch noch nicht. Und weil es keins gibt, kommt auch kein nationales Roaming für 5G,

(Maik Beermann [CDU/CSU]: Doch! Natürlich kommt das! Über das Telekommunikationsgesetz!)

also die Möglichkeit, dort, wo mein Telekomanbieter kein Netz hat, das Netz eines anderen Anbieters zu nutzen. Und weil es auch früher keine Strategie dafür gab, sollen die Auflagen der Bundesnetzagentur für die 5G-Lizenzversteigerung Funklöcher im 4G-Flickenteppich stopfen.

(Manuel Höferlin [FDP]: Das geht aber gar nicht!)

Die Bundesregierung erklärt, Deutschland zum Leitmarkt für 5G machen zu wollen, aber nennt wie die Bundesnetzagentur in ihren 5G-Versteigerungskriterien nicht ein einziges Ziel, bis wann und wo sie eine 5G-Versorgung erreichen will. Mit dieser Nichtstrategie wird die Bundesregierung Deutschland genauso zum 5G-Leitmarkt machen, wie sie das beim Glasfaserausbau geschafft hat – also gar nicht.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie ist gut darin, Papier mit Buzzwords vollzuschreiben und Gremien zu gründen, aber sie ist kurzsichtig in der Planung und frei von Visionen. So werden brennende soziale Fragen unzureichend oder gar nicht adressiert.

(Falko Mohrs [SPD]: Von Ihnen haben wir auch nur Buzzwords und keine Strategie bisher gehört!)

Gestern Abend erzählte mir ein Vorstandsmitglied eines Industrieunternehmens, dass er 3 800 Gabelstaplerfahrer entlassen muss, weil zur Industrie 4.0, dem Vorzeigeinnovationsbereich Deutschlands, eben auch autonome Gabelstapler gehören. Laut Bundesagentur für Arbeit gibt es zurzeit 68 000 Gabelstaplerfahrerinnen und Gabelstaplerfahrer in Deutschland, die das gleiche Schicksal erwartet. 800 000 Berufskraftfahrerinnen und Berufskraftfahrer kommen eines Tages dazu, weil autonome Autos sie ersetzen.

Was tut die Bundesregierung, um sich diesen Folgen der Digitalisierung zu stellen?

(Beifall bei der LINKEN – Gustav Herzog [SPD]: Das sind Ihre Folgen der Digitalisierung, aber nicht unsere! – Falko Mohrs [SPD]: Wir haben eine andere Strategie!)

Plant sie ein Pilotprojekt für ein bedingungsloses Grundeinkommen, ja oder nein? Das wüsste ich gerne mal.

(Gustav Herzog [SPD]: Nein, auf keinen Fall! Wir entwerten im Unterschied zu den Linken nicht die Arbeit!)

– Traurig, traurig. – Denkt sie über eine grundlegende Bildungsreform nach für echtes lebenslanges Lernen? Wie will sie Menschen die Zukunftsangst nehmen? Sie werden doch kaum leugnen, dass die vorhanden ist. Ich frage mich, woran es liegt, dass diese Themen ignoriert werden: an der Orientierung, an kurzfristigen Umfragen, an mangelnder Kompetenz, an fehlendem Weitblick, an allem zusammen?

(Falko Mohrs [SPD]: An einer anderen Überzeugung! – Gustav Herzog [SPD]: An ­McKinsey!)

Ich weiß es nicht.

Beim Digital-Gipfel wird das alles jedenfalls auch wieder nicht passieren. Es wird Dialoge geben. Uns als Linksfraktion reicht das aber nicht.

(Beifall bei der LINKEN)

Im Übrigen bin ich der Auffassung, dass Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen nicht ins Strafrecht gehören. § 219a gehört endlich abgeschafft.

(Maik Beermann [CDU/CSU]: Das ist auch „Und täglich grüßt das Murmeltier“!)

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)