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»Die Geschichte lehrt uns, dass Wettrüsten keine Sicherheit schafft«

Rede von Amira Mohamed Ali,

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! In den Morgenstunden des 24. Februar sind wir in einem Europa aufgewacht, das nie wieder so sein wird wie vorher.

Wir teilen natürlich klar die Auffassung, dass Russland einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt. Wladimir Putin hat den Verhandlungstisch mutwillig verlassen und bringt auf skrupelloseste Art und Weise ganz Europa und die Welt in die konkrete Gefahr eines Krieges. Dieser Angriffskrieg muss sofort beendet werden; die Soldaten müssen sofort zurückgezogen werden.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie wissen, dass wir als Linke häufig das Verhalten der NATO kritisiert haben, die sich mehrfach nicht an Völkerrecht gehalten hat. Aber, um es unmissverständlich zu sagen: Dieser russische Angriff ist durch nichts zu relativieren, durch nichts zu rechtfertigen, Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

In der Ukraine sterben Kinder, Frauen und Männer. Angstvoll drängen sich Menschen in U-Bahnhöfen, Familien werden auseinandergerissen, Wohngebäude werden zerstört. Hunderttausende sind auf der Flucht, vor allem Frauen und Kinder. Die Bilder, die uns täglich erreichen, sind unfassbar, schockierend. Bei vielen Menschen in ganz Europa, besonders bei den Älteren, die die Schrecken und das Leid des Zweiten Weltkrieges noch erlebt haben, wächst die Angst. Meine Tante Hilda aus Heide – sie ist 95 Jahre alt – rief vor ein paar Tagen an und sagte, sie hat wieder Angst vorm Krieg. Auch das ist erschütternd.

Kolleginnen und Kollegen, ich kann für mich persönlich, für meine Partei und sicher auch für viele hier im Raum sprechen, wenn ich sage: Wir haben das nicht für möglich gehalten. Diesen Angriff Russlands auf die Ukraine, diesen verbrecherischen Akt, den haben wir, wie auch viele Expertinnen und Experten, nicht erwartet. Für meine Partei Die Linke räume ich in aller Deutlichkeit ein, dass wir die Absichten der russischen Regierung falsch eingeschätzt haben.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Das macht uns nachdenklich. Wir bewerten die Lage heute anders und sagen klar: Putin ist hier der Aggressor und muss sofort aufgehalten werden. Seine Großmachtfantasien, die dürfen nicht Realität werden.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir stehen geschlossen an der Seite der ukrainischen Bevölkerung, an der Seite derer, die in der Ukraine um ihr Leben fürchten müssen, an der Seite derer, die sich auf der Flucht befinden und bei uns hier in Deutschland oder in angrenzenden Ländern Schutz suchen. Sie sind hier willkommen. Wir müssen uns gemeinsam mit den Ländern der Europäischen Union um diese Menschen kümmern.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Für alle Menschen, die jetzt vor Krieg und Terror aus der Ukraine fliehen, braucht es eine unbürokratische Aufnahmeregelung und einen gesicherten Aufenthaltsstatus, Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Herr Scholz, dieses Bekenntnis habe ich in Ihrer Rede leider vermisst.

Wir sind auch solidarisch mit den mutigen Menschen, die zur Stunde in Russland Putin die Stirn bieten und für den Frieden demonstrieren.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie werden verhaftet, sie riskieren Folgen, von denen heute keiner weiß, wie schwerwiegend sie für die Betroffenen sein werden. Diese Stimme des Friedens in Russland gegen Putin, die müssen wir stärken.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Kolleginnen und Kollegen, wir stellen fest, dass wir in der Bewertung dieses Angriffs unter den demokratischen Fraktionen in diesem Haus große Einigkeit haben. Darum haben wir in unserem Entschließungsantrag viele Passagen Ihres Antrags auch wörtlich übernommen. Bei der Frage, was es jetzt zu tun gilt, sind wir allerdings in mehreren Punkten anderer Auffassung; denn was sich bei uns bei aller Nachdenklichkeit und Neubewertung der Lage nicht geändert hat, ist unsere tiefe Überzeugung, dass Abrüstung und Diplomatie der Weg zum Frieden sind.

(Beifall bei der LINKEN)

Darum können wir niemals zustimmen, dass Waffen in Krisengebiete geliefert werden und aufgerüstet wird.

Herr Scholz, Sie haben in Ihrer Rede gesagt, dass es ein Sondervermögen geben soll: 100 Milliarden Euro. Das Grundgesetz soll dafür geändert werden. Ich muss es einfach in aller Deutlichkeit sagen: Dieses Hochrüsten, diese Militarisierung, die können und werden wir als Linke nicht mittragen.

(Beifall bei der LINKEN)

Über zivile Hilfe habe ich in Ihrer Rede leider auch nichts gehört, Herr Scholz. Frau Baerbock hat es gesagt. Selbstverständlich unterstützen wir es, dass im Haushalt dieser Posten zur Verfügung gestellt wird. Was denn sonst? Aber auf der einen Seite kommt ein Sondervermögen; auf der anderen Seite geht es um einen Haushaltsposten. Kolleginnen und Kollegen, da ist etwas in Schieflage; ich möchte es mal so deutlich sagen.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Geschichte lehrt uns, dass Wettrüsten keine Sicherheit schafft. Wir müssen bei dem, was wir jetzt tun, nicht nur das Heute im Blick haben, sondern auch das Morgen und das Übermorgen. Und insbesondere die Notwendigkeit der atomaren Abrüstung auf allen Seiten ist doch heute dringlicher und deutlicher denn je.

(Beifall bei der LINKEN)

Zum Thema Sanktionen. Es gibt überhaupt keinen Zweifel daran, dass weder Putin noch seine Regierung noch die mächtigen Oligarchen, die hinter dem Angriffskrieg stehen, irgendeine Schonung verdient haben, genauso wenig wie die russische Rüstungsindustrie.

(Beifall bei der LINKEN)

Anders sieht es bei der russischen Bevölkerung aus. Das kann man nicht gleichsetzen; denn es gibt eine tiefe Kluft zwischen den extrem reichen und privilegierten Oligarchen und der breiten arbeitenden Bevölkerung. Da muss man differenzieren.

(Beifall bei der LINKEN)

Sanktionen, die die russische Führung und die Oligarchen treffen sollen, die finden wir sehr sinnvoll. Aber es wird sich leider zeigen – das muss ich Ihnen sagen –, dass die Sanktionen, die Sie jetzt vornehmen, viel weniger wirkungsvoll sein werden, als es nötig wäre, weil die Reichen und Mächtigen Russlands längst Mittel und Wege haben, sie zu umgehen, weil sie durch Gesetzeslücken und Mängel in der Geldwäschebekämpfung ihre Investitionen hier bei uns im Land, in Europa, im Rest der Welt verstecken können, zum Beispiel in einem Geflecht von Briefkastenfirmen, weil sie ihr Geld in der Schweiz oder in Steueroasen längst in Sicherheit gebracht haben. Das ist ein Problem, Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der LINKEN)

Aber dieses Problem kann und muss man jetzt angehen. Geldwäsche kann wirksam bekämpft werden. Steueroasen können ausgetrocknet werden. Das muss jetzt geschehen, damit die Sanktionen auch wirklich wirken können.

(Beifall bei der LINKEN)

Auch die russische Rüstungsindustrie darf nicht geschont werden. Darum brauchen wir sofort einen Lieferstopp für Güter, insbesondere im Hightechbereich, die für Rüstung verwendet werden können. Hier sind nach wie vor große Lücken, die dringend geschlossen werden müssen; denn auch hier drohen die Maßnahmen sonst zahnlos zu sein.

(Beifall bei der LINKEN)

Kolleginnen und Kollegen, beim Thema Sanktionen muss man sich aber auch ehrlich machen. Daher geht es ausdrücklich nicht, dass Einzelinteressen von einflussreichen Lobbys berücksichtigt werden, ohne dass es irgendeine sachliche Erklärung gibt. Wenn ich jetzt zum Beispiel erfahre, dass italienische Luxusartikel aus dem Sanktionskatalog herausfallen, dann muss ich mich schon fragen, welche Prioritäten hier gesetzt werden. Das geht so nicht.

(Beifall bei der LINKEN)

Kolleginnen und Kollegen, die Bilder, die wir jeden Tag sehen, die Meldungen, die wir hören, die machen uns betroffen, und wir sehen aktuell noch keinen Weg, wie die Menschen in der Ukraine schnell ein Leben in Frieden und Freiheit führen können. Ja, wir brauchen sofort einen Waffenstillstand. Auch wenn es uns aktuell vielleicht unmöglich erscheint, muss unser Handeln klar von dem Gedanken getragen sein, dass der Tag kommt, an dem man an den Verhandlungstisch zurückkehren muss. Eine Lehre sollte sein, dass wir uns unabhängiger machen, besonders von diktatorischen Regimen,

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und der SPD)

und dass das Völkerrecht und die Menschenrechte wichtiger sind als wirtschaftliche Interessen.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der LINKEN)