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Nur mit Menschen mit Behinderung gemeinsam über sie reden und entscheiden

Rede von Gregor Gysi,

Gregor Gysi in der Debatte über die Rechte von Menschen mit Behinderung

Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

Als ich mich auf diese Rede vorbereitet habe, habe ich mir Gedanken darüber gemacht, wie sich mein Verhältnis zu Menschen mit Behinderung im Laufe der Jahre verändert hat. Wir sprechen hier von Menschen mit bestimmten Behinderungen, ob nun mental, geistig oder körperlich behindert   damit es da keine Zwischenrufe gibt und Sie wissen, wen wir meinen. Seien wir doch einmal ganz ehrlich: Meine Generation hat eher ein scheues Verhältnis zu diesen Menschen. Wir haben als Kinder den sozialen Umgang mit ihnen nämlich nicht gelernt. Da gibt es heute schon deutliche Verbesserungen. Wenn ich Nazis jetzt einmal weglasse, die solche Leute schlagen - das ist völlig indiskutabel; darüber müssen wir gar nicht diskutieren -, stelle ich fest: Die anderen sind eher nett, aber eben doch zurückhaltend; sie wollen nicht so viel damit zu tun haben und denken deshalb nicht daran.

Ich bin ganz sicher: In der Unionsfraktion und in unserer Fraktion hat sich dadurch etwas verändert, dass beide Fraktionen einen Rollstuhlfahrer in ihren Reihen haben. Ich schildere Ihnen einmal, wie das war: Wir organisierten eine Veranstaltung. Natürlich hatte keiner an die Behinderten gedacht. Dann kam Ilja Seifert in den Veranstaltungsraum nicht hinein, und wir mussten vier starke Männer organisieren, um das irgendwie zu regeln. Wir hatten an dieses Problem einfach nicht gedacht. Ich glaube, dass sich das bei Ihrer Fraktion und bei unserer Fraktion geändert hat, weil wir einfach gezwungen waren, daran zu denken.

Ich möchte, dass wir jetzt einmal ehrlich im Umgang miteinander sind und sagen: Wir müssen uns wirklich einen Ruck geben; wir müssen ganze Generationen darauf vorbereiten, dass sie eine gleichberechtigte Teilhabe dieser Menschen wollen. Sie müssen erkennen, dass es sie selbst bereichert, wenn sie anders an das Ganze herangehen.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Für den 2. und 3. Dezember 2011 war eine Begegnung von Bundestagsabgeordneten mit Menschen mit Behinderung geplant; auch Bundesministerinnen und Bundesminister sollten daran teilnehmen.   Abgesagt, ausgeladen!

(Maria Michalk (CDU/CSU): Verschoben!)

- Ja, ja, ich weiß: Sie kommt nächstes Jahr. - Warum? Weil über 100 Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer kommen wollten, und dann stellte man fest, dass dieses Gebäude, der Reichstag, der zum Teil umgebaute neue Bundestag, nicht in der Lage ist, diese Rollstuhlfahrer aufzunehmen. Das ist doch eine traurige Erkenntnis.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir können das nicht anders bezeichnen. Was ist jetzt unsere Schlussfolgerung, Frau Bundesministerin von der Leyen? Diese Begegnung findet nächstes Jahr mit weniger Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrern statt.

(Maria Michalk (CDU/CSU): Ihr Kollege wollte 80 ausladen! Ist das besser?)

Das kann doch nicht die Antwort sein. Die Antwort muss sein, dafür zu sorgen, dass sie alle kommen und teilnehmen können.

(Beifall bei der LINKEN und der SPD)

Nun geht es um die UN-Behindertenrechtskonvention; sie ist geltendes Recht. Sie ist übrigens die erste Menschenrechtskonvention in diesem Jahrhundert. Die Große Koalition hat erklärt: Ein Aktionsprogramm ist gar nicht nötig. Die jetzige Koalition sagt: Wir machen ein Aktionsprogramm. Allerdings müssen Sie doch einräumen, Frau Bundesministerin: Fast sämtliche Behindertenbewegungen haben Ihren Aktionsplan kritisiert, und zwar aus gutem Grund: weil er eben nicht den Durchbruch bringt, den wir diesbezüglich endlich brauchen.

Diese Konvention verlangt eine einkommens- und vermögensunabhängige Teilhabesicherung. Davon sind wir aber noch weit entfernt. Ich nenne einmal ein paar Beispiele: ICE - nur zwei Plätze für Rollstuhlfahrerinnen bzw. Rollstuhlfahrer. Begrenzungen gibt es aber auch in Kinos, in Theatern, in Stadien. In wie vielen Gebäuden können Behinderte nicht auf Toiletten? Und in wie viele Gebäude kommen sie gar nicht erst hinein? Das gilt auch für Arztpraxen - Sie haben sie genannt; die Zahl 10 Prozent scheint mir übrigens sehr niedrig zu sein; ich glaube, es sind mehr -, Apotheken, Hotels, Gaststätten, Kultureinrichtungen, Kirchen und Wohnhäuser. Überall müssen wir etwas tun. Es gibt übrigens auch viele Straßenbahnen, die noch nicht behindertengerecht sind, das heißt, sie sind nicht entsprechend ausgerüstet. Bei der Bahn ist es schon viel besser; aber dort fehlt oft das Personal, vor allen Dingen wenn Menschen mit Behinderung später ein- oder aussteigen wollen. Auch das ist ein Problem. Jetzt beraten wir über ein neues Fernbus-Gesetz. Frau Bundesministerin, warum schreiben wir in dieses Gesetz nicht hinein, dass Fernbusse künftig barrierefrei zu sein haben? Das könnte doch verpflichtend in diesem Gesetz stehen.

(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich habe im Wahlkampf in Mecklenburg-Vorpommern eine Werkstatt für geistig Behinderte besucht. Ich habe festgestellt, dass diese Menschen mit großer Konzentration arbeiten und immer gleiche Handgriffe machen, wie ich es überhaupt nicht könnte. Ich habe festgestellt, dass diese Menschen Dinge können, die ich nicht kann. Das zu erkennen, ist ungeheuer wichtig.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie können das mit einer Ausdauer, die ich in einem solchen Fall gar nicht an den Tag legen könnte. Aber sie bekommen nur ein Entgelt. Schon die Bezeichnung Entgelt finde ich doof. Warum kann diese Arbeit eigentlich nicht bezahlt werden?

Die Betreuerinnen und Betreuer erzählten mir, dass sie gerne einmal eine Prämie oder etwas Ähnliches geben würden, aber dass das nicht gehe, weil das Geld gleich wieder mit der Grundsicherung verrechnet werde. Das heißt, sie bekommen es nicht wirklich ausbezahlt. Mein Gott, warum müssen wir da so kleinkariert sein? Können wir ihnen nicht einmal eine Anerkennung für ihre Arbeit und ihre Leistung in Form einer Prämie gönnen?

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich habe es, ehrlich gesagt, nicht verstanden.

Ich sage noch einmal: Es geht nicht zuvörderst   das natürlich auch   um medizinische und soziale Probleme, sondern um Menschenrechte. Das müssen wir wirklich begreifen.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Konvention kann nur umgesetzt werden, wenn alle Fachressorts der Bundesregierung daran mitwirken   nicht Sie allein, das wäre gar nicht zu schaffen; die anderen Ressorts müssen ebenfalls beteiligt werden  , aber auch die Länder, die Kommunen und ebenso   sie sollte man nicht vergessen   die Wirtschaft, die Wissenschaft und die Kultur. Letztlich müssen alle Bereiche ein anderes Denken an den Tag legen, anders damit umgehen, die Konvention verinnerlichen und sie dann so schnell wie möglich umsetzen.

Es gibt noch etwas: Ich möchte nicht, dass über Menschen mit Behinderung entschieden oder geredet wird ohne sie.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie müssen das Recht auf Teilhabe haben, und zwar auch, wenn Rechtsakte vorbereitet werden. Wir haben beim Fernbus-Gesetz keine Menschen mit Behinderung gefragt. Sonst hätten sie gesagt: Denkt doch bitte auch an die Barrierefreiheit! Also müssen wir im Bundestag diese Verpflichtung wahrnehmen und immer daran denken. Ilja Seifert hat mich im Laufe der Jahre immer wieder dazu gezwungen, sodass ich es inzwischen nicht mehr vergesse. Das war früher anders; das bestreite ich gar nicht. Aber, Ilja, du musst zugeben: Ich habe mich deutlich gebessert.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Ich bin sofort fertig.   Wir haben drei Anträge eingebracht, die meines Erachtens sehr sinnvoll sind. Sie sollten sie alle annehmen. Es stimmt nämlich: Behinderung ist in einem bestimmten Sinne heilbar. Das müssen wir durchsetzen.

Der Welttag für die Menschen mit Behinderung ist der 3. Dezember. Wir müssen uns einen Ruck geben und unsere Einrichtungen so ausstatten, dass die Teilhabe der Menschen mit Behinderung am politischen, wissenschaftlichen, kulturellen und jedem anderen gesellschaftlichen Leben so weit wie möglich gewährleistet wird.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)