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Nein zur Rente ab 67!

Rede von Gregor Gysi,

Gregor Gysi, Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE., in der Debatte über die von der Großen Koalition geplante Rente ab 67

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Müntefering, wir haben es zunächst einmal mit einem praktischen Demokratieproblem zu tun.

(Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Die Linkspartei hat ein Problem mit der Demokratie!)

Herr Meckelburg hat hier in der letzten Debatte gesagt, die Mehrheit wolle nicht, dass das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre erhöht werde. Nun will ich gar nicht bestreiten, dass auch eine Koalition in einer Regierungszeit von vier Jahren einmal als Ausnahmefall gezwungen sein kann, etwas gegen den Willen der Mehrheit zu entscheiden. Das Problem ist nur: Bei Ihnen wird das zum Regelfall.

(Beifall bei der LINKEN)

Ob wir die Mehrwertsteuererhöhung nehmen, ob wir die Gesundheitsreform nehmen, ob wir die Körperschaftsteuersenkung für die Deutsche Bank und andere Kapitalgesellschaften nehmen, ob wir die Pendlerpauschalenreduzierung nehmen, all das geschieht gegen den Mehrheitswillen der Bevölkerung.

(Beifall bei der LINKEN)

Was die Rente ab 67 betrifft, gibt es hier eine breite Übereinstimmung. Die Union will sie, die SPD will sie, die Grünen wollen sie. Die Grünen behaupten sogar, dies läge im Interesse der jungen Leute. Das verstehe ich nun gar nicht, denn die jungen Leute müssen ja dann länger arbeiten. Die FDP will die Erhöhung des Renteneintrittsalters halb, noch nicht ganz. Wir werden sehen, wie sich die Sache entwickelt.
Dann werden wir dafür kritisiert - zum Beispiel von Herrn Meckelburg und von anderen -, dass wir eine andere Auffassung haben. Ich würde gerne darüber diskutieren, was das bedeutet. Stellen Sie sich einmal vor, auch wir wären der Meinung, man müsse das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre erhöhen. Stellen Sie sich einmal vor, der ganze Bundestag wäre sich einig, aber 67 Prozent der Bevölkerung sind dagegen.

(Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vor zwei Jahren waren noch 100 Prozent dagegen!)

Und dann wollen Sie, dass die Interessen dieser 67 Prozent im Bundestag nicht einmal artikuliert werden. Das wäre das Ende der repräsentativen Demokratie.

(Beifall bei der LINKEN)

Herr Müntefering, Sie haben zu Recht gesagt: Alles fängt damit an, dass man Tatsachen anerkennt und dass man sie auch ehrlich vorträgt. Ich darf zwei Zitate bringen, ein Zitat aus dem Wahlprogramm der Union aus dem Jahr 2005: „Sobald es die Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt erlauben, kommt auch eine schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters infrage.“

(Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Sehr gut! - Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): Genau!)

- Na ja. Ich finde, die Bedingungen erlauben es nicht. Falsch ist es auch, aber immerhin: Sie haben es gesagt.
Jetzt zitiere ich aus dem Wahlprogramm der SPD. Darin steht Folgendes: „Unser Ziel ist, das faktische Renteneintrittsalter an das gesetzliche Renteneintrittsalter von 65 Jahren heranzuführen.“ Da steht nichts von 67.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Das ist ja wie bei der Mehrwertsteuererhöhung!)

Sie machen dasselbe wie bei der Mehrwertsteuer: Sie versprechen im Wahlkampf etwas anderes, als Sie hier realisieren.

(Beifall bei der LINKEN und der FDP)

Damit müssen Sie sich auseinander setzen. Sie können nicht behaupten, andere erkennen die Tatsachen nicht an, und sich hier hinstellen und sagen, Sie wollen nicht an Ihre Wahlversprechen erinnert werden. So geht es nicht!

(Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Sie sind immer noch in der Phase des Versprechens!)

Kommen wir zur demographischen Entwicklung, also zu den Zahlen und Tatsachen. Ich will jetzt nicht so weit zurückgehen, aber als wir noch in Höhlen lebten, wurden wir 20 bis 30 Jahre alt, glaube ich. Das liegt sehr lange zurück.

(Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Da gab es auch noch keine Rentenversicherung!)

Aber ab 1900 gibt es genauere Zahlen. In den 100 Jahren von 1900 bis 2000 sind wir in der Gesellschaft in Deutschland um über 30 Jahre älter geworden. Das ist schon interessant.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Gut so!)

Herr Bismarck hat 1891 das Rentenalter mit 70 eingeführt, weil er die Beiträge nicht so hoch ansetzen wollte.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Die Leute sind mit 40 gestorben!)

1916 wurde für Arbeiter das Rentenalter auf 65 Jahre reduziert, für Angestellte schon früher. Das heißt, 90 Jahre haben wir dieses Renteneintrittsalter durchgehalten bei einer Steigerung der Lebenserwartung von über 30 Jahren. Und jetzt kommen Sie und sagen, bis zum Jahre 2050 werden wir noch einmal sechs Jahre älter. Im Vergleich zu über 30 Jahren ist das nichts. Nicht einmal demographisch lässt sich Ihre Entscheidung vernünftig begründen.

(Beifall bei der LINKEN)

Das Nächste, wenn wir über Tatsachen reden, ist, dass es auf die Alterszusammensetzung der Bevölkerung gar nicht ankommt.

(Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Doch, das ist das entscheidende Thema! Nicht ausweichen! - Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

- Es ist übrigens interessant, wie sich alle aufregen. Sie werden alle älter, aber so alt, wie Sie tun, nun auch wieder nicht.

(Beifall bei der LINKEN)

Wie viele Menschen über 65 Jahre alt sind, ist gar nicht die entscheidende Frage. Die entscheidende Frage ist die der Produktivität der Menschen.

(Beifall bei der LINKEN)

1900 hat ein Bauer acht Menschen versorgt. Heute versorgt ein Bauer 80 Menschen. Das sind Tatsachen, die Sie überhaupt nicht erörtern. Im Schnitt der letzten Jahre stieg die Produktivität pro Jahr um 3 Prozent. Nehmen wir nur ein Jahr; nehmen wir nur das Jahr 2005. In diesem Jahr stieg die Produktivität um 1,9 Prozent. Darauf hat Herr Lafontaine zwar schon hingewiesen und Sie wollen eigentlich keine Wiederholungen hören, aber weil Sie es offenbar nicht verstanden haben, muss ich es wiederholen.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Produktivität stieg, wie gesagt, um 1,9 Prozent. Die Wirtschaft wuchs aber nur um 1,4 Prozent. Das heißt, dass bei unveränderter Arbeitszeit 1,9 Prozent mehr Waren und Dienstleistungen hergestellt bzw. erbracht wurden. Im selben Zeitraum wurden aber nur 1,4 Prozent mehr Produkte und Dienstleistungen verkauft. Das ist das Problem. Kein Unternehmen wird etwas herstellen, das es nicht verkaufen kann. Es bleibt eine Differenz von 0,5 Prozentpunkten.

Was ist zu tun? Es gibt zwei Wege: Man kann entweder die Arbeitszeit entsprechend reduzieren oder die Arbeitslosigkeit steigt an. Leider ist immer Letzteres geschehen. Aber eine Maßnahme ist völlig unpassend - darauf sind Sie mit keinem Satz eingegangen -: im Laufe der nächsten Jahre die Arbeitszeit um zwei Jahre zu verlängern. Die Produktivität nimmt doch weiter zu und wir werden nicht entsprechend mehr Waren und Dienstleistungen verkaufen können. Deshalb ist es in ökonomischer Hinsicht völliger Unsinn, die Arbeitszeit um zwei Jahre zu verlängern.

(Beifall bei der LINKEN - Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): Also am besten gar nicht arbeiten!)

Es gibt zwar Löcher in den Rentenkassen - das ist richtig -, aber sie haben nichts mit der Bevölkerungszusammensetzung nach ihrem Alter zu tun, sondern mit dem Wachstum des Sozialprodukts bzw. der Produktivität, der Entwicklung der Reallöhne, der Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und der Verteilung des Sozialprodukts. Schuld an Löchern in der Rentenkasse sind die hohe Arbeitslosigkeit - denn Arbeitslose zahlen keine Beiträge ein -, der Rückgang der Lohnquote - denn wenn es weniger Löhne gibt oder die Löhne nicht steigen, dann gehen die Beiträge entsprechend zurück - und der wachsende Niedriglohnsektor, wodurch die Einzahlungen in die gesetzliche Rentenversicherung noch weiter zurückgehen.
Ich darf daran erinnern, dass wir als einzige Industriegesellschaft in den letzten sieben Jahren einen Rückgang der Reallöhne um 0,9 Prozent zu verzeichnen hatten. In den USA, in Großbritannien und Frankreich wurden Steigerungen von 20 bis 25 Prozent erzielt. Das ist eine völlig andere Entwicklung.

(Beifall bei der LINKEN)

Diese Probleme wirken sich auch in der Rentenversicherung aus. Dann kam noch ein weiterer Fehler hinzu, auf den ich aus Zeitgründen nur kurz eingehen kann. Dieser Fehler bestand darin, die Kosten der deutschen Einheit - insbesondere auch die Renten in Ostdeutschland - dem Rentenversicherungssystem aufzubürden, statt sie aus Steuermitteln zu finanzieren, was dringend erforderlich gewesen wäre.

(Beifall bei der LINKEN)

Jetzt können wir Altersarmut prognostizieren. Sie sagen selbst, Herr Müntefering, dass der Anteil am Durchschnittsverdienst, den man als Rente bekommt, im Laufe der Jahre immer weiter zurückgehen und letztlich auf unter 46 Prozent sinken wird. Im Osten wird sich das dramatisch auswirken; denn dort ist die Arbeitslosigkeit doppelt so hoch wie im Westen. Die geringe Durchschnittsrente wird nur nach 45 Jahren Beitragszahlung ausgezahlt. Im Osten wird es aber kaum jemanden geben, der 45 Jahre lang Beiträge zahlen konnte. Das heißt, dass wir es dort mit einer ernst zu nehmenden Altersarmut zu tun bekommen werden.
Das alles lösen Sie doch nicht dadurch, dass Sie eine wirkungslose Initiative „50 plus“ durchführen und das Renteneintrittsalter um zwei Jahre erhöhen. Ich frage mich, wo Ihre Antworten zu finden sind.

(Beifall bei der LINKEN - Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Wie lösen Sie es denn?)

- Man muss Reformen durchführen. Das stimmt und das wissen wir auch. Wir haben viele Eigenschaften, aber wir sind nicht bescheuert.

(Wolfgang Grotthaus (SPD): Na, na! Da kann man geteilter Meinung sein! - Zuruf von der CDU/CSU: Die einen sehen es so und die anderen so!)

Sie müssen 8,7 Prozent der Wählerinnen und Wähler zumindest zutrauen, dass sie keine bescheuerten Leute wählen. Wenigstens das sollten Sie den über 4 Millionen Menschen zutrauen, wenn Sie ihnen sonst schon nicht viel zutrauen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich ärgere mich über etwas anderes mehr. Sie versprechen immer wieder Dinge, die Sie nicht einhalten. Sie schwindeln im Wahlkampf, werden aber wieder gewählt. Das ärgert mich zwar, aber ich kann es nicht ändern.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Zurück zur Finanzierung: Zu Bismarcks Zeiten stammten 90 Prozent der Einkommen aus abhängiger Beschäftigung und 10 Prozent aus Vermögen, Selbstständigkeit und Unternehmertum. Heute stammen nur noch 60 Prozent der Einkommen aus abhängiger Beschäftigung; 40 Prozent kommen aus Selbstständigkeit, Unternehmertum und Vermögen. Dadurch reduziert sich die Zahl der Beitragszahler enorm, nämlich von 90 Prozent auf 60 Prozent derjenigen, die ein Einkommen erzielen. Also könnte eine Reform darin bestehen - das wäre ein mutiger Schritt -, alle Einkommen schrittweise in die gesetzliche Rentenversicherung mit einzubeziehen.

(Beifall bei der LINKEN - Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Sie lösen das Problem damit nicht!)

- Dass die FDP das nicht will, ist mir klar. Dass ein armer Apotheker plötzlich in die Rentenversicherung einzahlen soll, halten Sie nervlich nicht aus.
Jetzt werden Sie sagen, dass die Einzahler dann auch eine Rente beziehen werden.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Wer Beiträge zahlt, hat auch einen Anspruch darauf!)

- Hören Sie zu; ich will auf etwas anderes hinaus. - Natürlich bekommen auch diejenigen, die zusätzlich in die Rentenversicherung einzahlen, eine Rente. Wir müssen daher die Beitragsbemessungsgrenze schrittweise aufheben und die Rentensteigerungen abflachen.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Das landet dann in Karlsruhe!)

Wissen Sie, wie es in der Schweiz ist? In der Schweiz muss jemand, der Millionen verdient, entsprechend seinem Einkommen Beiträge zahlen. Es gibt aber eine gesetzliche Höchstrente von circa 1 800 Schweizer Franken. Der dort geltende Grundsatz lautet: Es ist zwar richtig, dass die Millionäre keine gesetzliche Rente benötigen, aber die gesetzliche Rentenversicherung benötigt die Millionäre. Einen solchen Mut würde ich gerne auch im Bundestag erleben.

(Beifall bei der LINKEN - Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Dem steht das Grundgesetz entgegen!)

Die Unternehmen haben sich verändert. Zu Bismarcks Zeiten erzielten zwei Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen mit jeweils 100 Beschäftigten in etwa den gleichen Gewinn, wenn sie gleich gut geleitet wurden. Davon kann heute keine Rede mehr sein. Je nach Branche braucht der eine 200 Beschäftigte und der andere nur 100 Beschäftigte, um den gleichen Gewinn zu erzielen. Deshalb fordere ich immer: Streichen Sie die Lohnnebenkosten! Machen Sie eine Reform und führen Sie eine Wertschöpfungsabgabe ein! Sie ist viel gerechter, insbesondere im Hinblick auf die unterschiedliche Leistungsfähigkeit der Unternehmen.

(Beifall bei der LINKEN)

Was ist das Ziel? Sie sagen, es gehe um die Beiträge. Aber das stimmt gar nicht. Sie sagen, dass die Menschen mehr private Vorsorge betreiben und beispielsweise Riester-Verträge abschließen sollten. Aber dann müssen die Menschen 4 Prozent ihres Bruttoeinkommens zur Altersvorsorge aufwenden. Tatsächlich geht es Ihnen nicht um die Beiträge der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sondern nur um den Arbeitgeberanteil. Diesen wollen Sie festschreiben, damit die Unternehmen nicht mehr zahlen müssen. Hier macht die SPD mit. Das entspricht aber nicht ihrer Herkunft und sollte auch nicht ihre Zukunft sein.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Lassen Sie mich als letzten Satz sagen: Das ist meines Erachtens eine Unterordnung der Politik unter die Interessen der Wirtschaft. Da Sie dafür sorgen, dass auch ich zwei Monate später die gesetzliche Rente bekomme - was nicht weiter schlimm ist, weil ich eine Pension des Bundestages erhalte -, dachte ich mir, dass Sie eine kleine Strafe verdient haben. Ich bleibe hier einfach eine Legislaturperiode länger, als ich es vorhatte.
Danke schön.

(Anhaltender Beifall bei der LINKEN)