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Kein Mensch ist illegal!

Rede von Sevim Dagdelen,

In keinem anderen europäischen Land schweigen Politiker derart hartnäckig über das Faktum, dass in ihrer Gesellschaft eine halbe bis 1 Million Menschen illegal leben und arbeiten, wie in Deutschland. Menschenrechte müssen auch für Illegalisierte gelten. Ihnen muss die Perspektive auf eine Legalisierung eröffnet werden. Sevim Dagdelen in der Bundestagsdebatte zum Gesetzentwurf der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zur Verbesserung der sozialen Situation von Ausländerinnen und Ausländern, die ohne Aufenthaltsstatus in Deutschland leben.

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wenn es um die Situation von Menschen ohne Aufenthalt geht, befindet sich Deutschland weitab von den Entwicklungen in anderen europäischen Ländern, wie auch hier bereits ausgeführt wurde. In keinem anderen europäischen Land schweigen Politiker derart hartnäckig über das Faktum, dass in ihrer Gesellschaft eine halbe bis 1 Million Menschen illegal leben und arbeiten. Und in keinem anderen europäischen Land begegnet die Politik diesem Problem ausschließlich mit polizeilichen und aufenthaltsrechtlichen Maßnahmen. Deutschland ist meines Erachtens dazu verpflichtet, die in internationalen Konventionen verbrieften sozialen Menschenrechte auch für Menschen ohne Aufenthalt faktisch durchsetzbar zu machen. (Beifall bei der LINKEN) Das Argument, man könne den verbotenen Aufenthalt von Illegalisierten nicht materiell absichern, leugnet meines Erachtens den Charakter der Menschenrechte; diese gelten nämlich immer noch voraussetzungslos. Die Einhaltung von Menschenrechten kann also nicht an das Vorhandensein eines Aufenthaltstitels geknüpft sein. Das Anliegen des vorliegenden Gesetzentwurfs ist deswegen ausdrücklich zu begrüßen. Richtig und längst überfällig ist es, die Beihilfe zum humanitären Aufenthalt zu entkriminalisieren und die Meldepflicht für öffentliche Stellen abzuschaffen. Sie ist eine Denunziationsverpflichtung für Schuldirektoren und für Richter. Anders als die Vorredner deutlich gemacht haben, weist der Entwurf allerdings erhebliche Mängel auf. Er knüpft eine Aufenthaltserlaubnis für Opfer von Menschenhandel, Zwangsprostitution und Zwangsarbeit daran, dass die betroffene Person für die strafrechtliche Ermittlung nützliche Aussagen liefern kann. Hier wird das Schicksal der Menschen von der Beweislage abhängig gemacht. Ferner wird nicht sichergestellt, dass Betroffene ihren Aufenthaltstitel nach Beendigung des Gerichtsverfahrens nicht wieder verlieren. Im Falle einer Aussage gegen ihre Misshandler befürchten die Betroffenen nämlich oftmals Repressalien, wenn sie nach einem Prozess in ihre Herkunftsländer zurückkehren. Auch deshalb haben sie Angst vor der Zusammenarbeit mit den Behörden hier. So eröffnet der Entwurf für die Betroffenen nicht die Möglichkeiten, die er ihnen verspricht: die Inanspruchnahme ihrer Rechte. In der Begründung ist von der „Pflicht des Staates“ die Rede - das ist auch hier deutlich gemacht worden -, illegale Einwanderung und illegalen Aufenthalt zu bekämpfen. Eine solche Pflicht gibt es nicht. Man findet sie auch nicht im Grundgesetz. Allenfalls gilt die Verpflichtung des Staates nach Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz, die Menschenrechte zu achten, zu schützen und auch die sozialen Menschenrechte in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip durchsetzbar zu machen. Die Bundestagsfraktion Die Linke hält es für längst überfällig, dass Menschen ohne Aufenthalt endlich die ihnen zustehenden sozialen Menschenrechte in Anspruch nehmen können. Wir sehen es ebenfalls als unabdingbar an, diesen Menschen auch eine Perspektive auf eine Legalisierung ihrer Existenz zu eröffnen. Für mich gilt der Grundsatz: Kein Mensch ist illegal. (Beifall bei der LINKEN) Von Politikern heißt es oft, die Menschen in Deutschland seien für Legalisierungen wie in anderen europäischen Ländern nicht reif. Aber da täuschen sie sich. Viele Menschen ohne Aufenthalt leben seit drei, fünf oder sogar zehn Jahren mitten in unserer Gesellschaft. Ohne die vielfältige Unterstützung, die sie meist heimlich von weiten Teilen der Gesellschaft - von Kirchenverbänden, Migrantencommunities, Nachbarn oder auch Ärzten - erfahren, wäre ein Leben in dieser Illegalität nicht möglich. Diese Unterstützung ist aber nicht nur Ausdruck einer humanitären Solidarität. Diese Menschen und mit ihnen viele Kommunen und Städte in Deutschland haben begriffen, dass man problembezogen und auch realitätsnah handeln muss, statt vor der Situation von Illegalisierten die Augen zu verschließen. Ich bedanke mich. (Beifall bei der LINKEN)