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Integrationspolitik der Koalition ohne inhaltliche und materielle Basis

Rede von Sevim Dagdelen,

Integrationspolitik ist viel mehr als nur Sprachförderung. Im Zuwanderungsgesetz wird sie jedoch darauf reduziert. Die Integrationspolitik muss gleiche Bildungschancen eröffnen und die gleichberechtigte Teilhabe am Arbeitsmarkt ermöglichen. Die Tatsache, dass ein Viertel aller Migranten arbeitslos ist, dass ihre Bildungschancen so schlecht sind, dass Experten schon von einem ethnisch segmentierten Bildungssystem in Deutschland sprechen, findet nicht die nötige Beachtung; die große Koalition sieht hier keinen Handlungsbedarf. Sevim Dagdelen, in der Haushaltsdebatte zum Einzelplan 33 „Versorgung“:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit großen Worten hatte die schwarz-rote Koalition angekündigt, in der Integrationspolitik ganz neue Akzente setzen zu wollen. Bei ihrer Regierungserklärung am 30. November letzten Jahres sagte die Frau Bundeskanzlerin - ich zitiere -: Deshalb ist Integration eine Schlüsselaufgabe unserer Zeit. Mit der Ansiedelung der Beauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration im Kanzleramt habe ich sehr bewusst ein Signal gesetzt, dass dies eine gesamtpolitische Aufgabe ist, der wir große Beachtung schenken wollen. Auch die Beauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration, Frau Maria Böhmer, sprach bei ihrem Amtsantritt von einem Paradigmenwechsel von der Migrations- zur Integrationspolitik. Was das bedeutet, konnten wir in den letzten Wochen, gar Monaten sehr genau verfolgen: Da überboten sich Politiker schon fast hysterisch mit Vorschlägen, einbürgerungswilligen Migranten mit Wissenstests, Wertetests, Staatsbürgerkursen und Einbürgerungsgesprächen zu Leibe zu rücken und sie dahin gehend zu überprüfen, ob sie auch ja eine rechtschaffene Gesinnung besitzen. Oft überschritten die Argumente dabei nicht das Niveau von Stammtischparolen. Sätze wie „Wir entscheiden, wer Deutscher ist, und wir lassen nicht jeden hinein“ oder „Staatsbürgerschaft zu Ramschpreisen“ oder gar „im Vorbeigehen“ - laut Kanzlerin - sind unerträglich und noch dazu völlig realitätsfern. (Beifall bei der LINKEN) Sie ignorieren, dass bereits strikte Voraussetzungen erfüllt werden müssen, um überhaupt eingebürgert werden zu können. Wir alle kennen diese Voraussetzungen. Die große Koalition tönte von Anfang an, ihren Schwerpunkt in der Integrationspolitik auf die Sprachförderung zu legen. Der Haushaltsplanentwurf dagegen entspricht diesem Ansatz keinesfalls. Trotz der enorm großen Nachfrage sind im Haushalt Kürzungen bei den Integrationskursen um 67 Millionen Euro geplant. Damit entzieht man der Integration ein Stück mehr die materielle Basis. Man kann nicht Integration fordern und die Voraussetzungen dafür verhindern. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das Argument, dass bereitgestellte Mittel von knapp 120 Millionen Euro nicht abgerufen wurden - das sagte Herr Kollege Uhl noch einmal -, geht an der Realität der Sprachförderungen mit ihren massiven Defiziten vorbei. Die Fallzahlen, die für die Veranschlagung der Mittel für 2006 zugrunde liegen, unterschlagen die reale Nachfrage von Migranten nach Sprachförderung. Selbst Ihre Kollegin Frau Maria Böhmer sah es in einem Interview mit der „Frankfurter Rundschau“ bereits am 8. Dezember 2005 so. Sie sagte - ich zitiere -: Wir können schon heute feststellen, dass viele, insbesondere Frauen, ganz freiwillig diese Kursangebote wahrnehmen (Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Wenn sie dürfen!) und die zur Verfügung stehenden Plätze die Nachfrage nicht decken. (Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Sehr gut!) Die Veranschlagung der Mittel für die verschiedenen Zielgruppen für das Jahr 2006 ist wiederum von einer Vernachlässigung geprägt: Anstatt die Mittel für bereits länger in Deutschland lebende Migranten zu erhöhen, wird in der Berechnung der Kosten für das Jahr 2006 die Nachfrage vonseiten der Bestandsausländer lediglich in einem sehr geringen Umfang berücksichtigt. Die Bundestagsfraktion Die Linke fordert deshalb, auch den Migranten, die bereits länger in Deutschland leben, ein Recht auf Teilnahme an einem Sprachkurs zu gewähren und die notwendigen finanziellen Mittel zur Verfügung zu stellen. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Die Fraktion Die Linke fordert, nicht nur den Ansatz von jährlich circa 208 Millionen Euro bei diesem Titel beizubehalten, sondern auch die Qualität der Sprachkurse zu verbessern und die genannten Defizite konsequent abzubauen. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch die Bundesländer müssen einmal etwas beisteuern!) Die Probleme liegen schon seit längerem auf dem Tisch. Seit über einem Jahr weisen die Volkshochschulen, die Verbände, die Migrantenorganisationen und die Sprachschulen darauf hin, woran es mangelt. Die Beseitigung dieser Probleme allein reicht aber nicht aus. Wir haben schon immer darauf hingewiesen, dass Integrationspolitik viel mehr als nur Sprachförderung ist; im Zuwanderungsgesetz wird sie jedoch darauf reduziert. Die Integrationspolitik muss gleiche Bildungschancen eröffnen und die gleichberechtigte Teilhabe am Arbeitsmarkt ermöglichen. Die Tatsache, dass ein Viertel aller Migranten arbeitslos ist, dass ihre Bildungschancen so schlecht sind, dass Experten schon von einem ethnisch segmentierten Bildungssystem in Deutschland sprechen, findet nicht die nötige Beachtung; die große Koalition sieht hier keinen Handlungsbedarf. Ich möchte mit folgendem Satz schließen: Wir sind nicht das, was wir sagen, sondern das, was wir tun. Das heißt, wenn wir etwas fordern, dann müssen wir auch fördern. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN)