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Globale soziale Polarisierung erfordert strukturelle Veränderungen

Rede von Hüseyin Aydin,

Entwicklungszusammenarbeit ist aktive internationale Sozialpolitik

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Heute geht es um weit mehr als um die Entwicklungszusammenarbeit. Wir sprechen über die Gestaltung der Innen- und Sozialpolitik in der einen Welt, in der wir leben. Die Verwirklichung der Millenniumsziele ist nicht nur entwicklungspolitisch geboten, sondern von entscheidender Bedeutung für die regionalen Sicherheiten, den Frieden auf der Welt und das wirtschaftliche Miteinander der Weltgemeinschaft.

(Beifall bei der LINKEN)

Extremismus, Kriege und Gewalt können sich besonders gut dort entfalten, wo den Menschen politische, soziale und humanitäre Rechte verweigert werden. Wir brauchen daher die Überwindung der extremen globalen Polarisierung zwischen wenigen Reichen und vielen Armen.

Wie uns in diesen Tagen auf der italienischen Insel Lampedusa dramatisch vor Augen geführt wird, treibt der Ernst der Lage auf unserem Nachbarkontinent Afrika immer mehr Menschen in die Flucht. Obwohl die Fahrt über das Mittelmeer aufgrund der rigiden Abschottungspolitik der Europäischen Union jedes Jahr für Hunderte tödlich endet, treten sie diese Fahrt an, weil Hunger, Armut, Perspektivlosigkeit den Alltag in ihren Ländern prägen. Dieses Schicksal teilen sie mit anderen. Rund 1 Milliarde Menschen weltweit müssen mit weniger als 1 US-Dollar pro Tag auskommen. 40 Prozent der Weltbevölkerung lebt von weniger als 2 US-Dollar am Tag.

Seit der Verabschiedung der Millenniumsziele ist mehr als die Hälfte der vorgesehenen Zeit verstrichen. Es wird schwer, sie bis zum Jahr 2015 umzusetzen; denn die Bilanz des Erreichten ist ernüchternd.

Das erste Millenniumsziel, die Zahl der Menschen in Armut zu halbieren, ist nicht mehr zu erreichen. Außerhalb Ostasiens sinkt die Armut viel zu langsam, besonders in Südasien und im subsaharischen Afrika. Auch bei der Kindersterblichkeit, die um zwei Drittel gesenkt werden soll, laufen wir unserem Vorhaben hinterher.

Die Ausbreitung der Infektionskrankheiten ist längst nicht gestoppt. 40 Millionen Menschen leben mit HIV/Aids. 2004 starben 3 Millionen Aidskranke. Jedes Jahr sterben 1 Million Menschen an Malaria, davon 90 Prozent in Afrika. 80 Prozent der Malariatoten sind Kinder in Afrika.

Beim zweiten Entwicklungsziel, Grundbildung für alle, hat es durchaus Fortschritte gegeben; da stimme ich mit Ihnen überein, Frau Ministerin. Die Einschulungsrate wurde bis 2006 auf etwa 70 Prozent gesteigert. Doch die Herausforderungen bleiben enorm. Entscheidend ist das habe ich in Ausschusssitzungen immer wieder deutlich gemacht die Qualität der schulischen Bildung und nicht nur die quantitative Erhöhung der Einschulungszahlen. Wenn 80 Kinder in einer Klasse sitzen und Gelder für Lehrmittel und Lehrpersonal fehlen, wundert es nicht, dass später viele dieser Kinder die Schule als Analphabeten verlassen.

(Beifall bei der LINKEN)

Zudem brechen vielerorts Kinder die Schule ab, weil Schulgebühren erhoben werden oder sanitäre Einrichtungen für Mädchen fehlen. Daher verstehe ich es nicht, dass gestern im Ausschuss der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zur sanitären Versorgung durch die Koalitionsfraktionen abgelehnt wurde.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Auch die NGOs haben uns vorgerechnet, dass der Beitrag der Bundesregierung zur Grundbildung weit hinter dem zurückliegt, was eigentlich erforderlich wäre. 2006 wurde für die Grundbildung gerade einmal 1 Prozent der gesamten öffentlichen Entwicklungshilfe eingesetzt. Das ist viel zu wenig; denn von besserer Bildung hängt die Verwirklichung der anderen Entwicklungsziele entscheidend ab.

Die Welt bleibt auch durch tiefe soziale Ungerechtigkeit geprägt. Jene rund 2,6 Milliarden Menschen weltweit, die täglich weniger als 2 US-Dollar pro Tag zum Leben haben, verfügen nur über 5 Prozent des globalen Einkommens. Die Reichsten der Welt hingegen das sind 20 Prozent besitzen über drei Viertel des globalen Einkommens. In Afrika ist die Situation am schlimmsten. Ein Drittel aller Menschen lebt hier in Armut. 1990 war es noch ein Fünftel.

Doch nicht nur in Afrika, sondern überall in der Welt vertieft sich der Graben zwischen Reich und Arm. Es ist darum gut und richtig, dass sich die Staatengemeinschaft mit den Millenniumszielen konkrete Vorgaben gegeben hat.

Doch Entwicklungszusammenarbeit muss besser finanziert werden, auch von Deutschland, das weiter hinter seinen Zusagen zurückbleibt. Aber mit mehr Geld allein werden die sozialen und wirtschaftlichen Probleme des Südens nicht überwunden werden. Dringend geboten sind strukturelle Veränderungen in den ungleichen Wirtschafts- und Handelsabkommen, eine Regulierung der Finanzmärkte im Sinne der Entwicklungsländer und die Demokratisierung der internationalen Finanzorganisationen.

(Beifall bei der LINKEN)

Lassen Sie mich dies verdeutlichen. In Monterrey im Jahr 2002, in Paris im Jahr 2005 sowie zuletzt in Accra und in Doha versprachen die Geber, ihre Entwicklungspolitiken nicht länger von Wirtschafts- und Handelsinteressen konterkarieren zu lassen. Trotzdem kann man beim besten Willen nicht erkennen, dass die Entwicklung politisch kohärent ist. Ein Dauerbrenner ist hier die Landwirtschaft.

Jüngstes Beispiel: Die EU will 2007 die ausgesetzten Exporterstattungen für Milchprodukte wieder aufnehmen. Diese Politik ruiniert die Landwirtschaft im Süden; das darf nicht passieren.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir fordern daher: Weg mit den Exportsubventionen für die europäische Landwirtschaft! Besseren Marktzugang für die Produkte aus Entwicklungsländern!

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die letzte Nahrungsmittelkrise 2008 war auch ein Resultat der jahrzehntelangen Landwirtschaftspolitik und -förderung, die im Süden auf Exportorientierung setzt, anstatt sich auf den lokalen Bedarf zu konzentrieren. Zahlreiche Experten, unter anderem der Weltagrarrat, betonen, dass stattdessen die Unterstützung der Kleinbäuerinnen und Kleinbauern entscheidend für die Nahrungsmittelsicherheit ist.

Wichtig sind darüber hinaus Landreformen. In vielen Ländern des Südens birgt die Landfrage erheblichen sozialpolitischen Sprengstoff. Unklare Rechtsverhältnisse und die ungebrochene Kommerzialisierung der Landwirtschaft führen zur Verdrängung kleiner einheimischer Produzenten und vor allem indigener Völker. Massive Landkäufe von Privatinvestoren und Regierungen aus der OECD-Welt, aus Asien und jüngst auch aus der arabischen Welt zur Deckung des eigenen Nahrungsmittelbedarfs oder für den Anbau sogenannter Biokraftstoffe haben die Landfrage vor allem in Afrika und Südamerika deutlich zugespitzt. Ob diese Konflikte gewaltsam oder demokratisch gelöst werden, hängt auch von den OECD-Staaten ab. Die Menschen Boliviens machten beispielsweise im Referendum am letzten Wochenende einen entscheidenden Schritt hin zu einer gerechteren Landverteilung.

(Beifall bei der LINKEN)

Der Westen muss diese Entscheidung der Bolivianer und Bolivianerinnen respektieren und unterstützen.

Wir setzen uns für eine ökologische, nachhaltige und soziale Kehrtwende in der Landwirtschaftsförderung ein; denn Ernährungssicherheit ist die Grundlage für die dringend notwendige Diversifizierung der Wirtschaft in den Entwicklungsländern. Besonders die Länder Afrikas müssen weg von ihrer einseitigen Ausrichtung auf unverarbeitete Rohstoffe und Agrarexporte. Eine soziale und umweltverträgliche Industrialisierung ist die Voraussetzung für einen Ausweg aus den unfairen Handelsbeziehungen. Hierzu müssen bestehende Initiativen weiterentwickelt und die aggressive Marktöffnungspolitik der westlichen Staaten und Finanzinstitutionen korrigiert werden. Vor allem brauchen die Staaten des Südens Entscheidungsfreiheit in der Frage, wie sie ihre Volkswirtschaften in der Aufbauphase schützen wollen. Ihnen darf nicht über die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen der EU eine Liberalisierung aufgezwungen werden, die ihre Märkte zerstört und ihnen wirtschaftspolitische Gestaltungsspielräume entzieht.

(Beifall bei der LINKEN)

Im aktuellen kapitalistischen Wettbewerb gehen die Entwicklungsländer mit dem Fahrrad an den Start, während die Industriestaaten im Porsche sitzen. Das ist keine Marktwirtschaft. Das ist einfach unsozial.

(Beifall bei der LINKEN)

Die globale Finanzkrise hat auch die Schwellen- und Entwicklungsländer erfasst. Nur wenige wie China und Indien konnten diese abfedern. Mexiko geriet unter Druck und muss höhere Kredite beim IWF aufnehmen. Die zuletzt deutlich gesunkenen Rohstoffpreise bringen die Haushalte vieler Rohstoffexporteure im Süden in eine ernste Schieflage.

(Dr. Karl Addicks (FDP): Vor allem in Venezuela!)

Zudem sind eine Reduzierung der Entwicklungshilfe sowie der Abzug oder die Zurückstellung von Investitionen zu befürchten.

(Dr. Karl Addicks (FDP): Was ist mit Hugo Chávez?)

Vor diesem Hintergrund hat die Regulierung der Finanzmärkte höchste Priorität. Notwendig sind unter anderem ein Verbot der Nahrungsmittelspekulation, die Schließung der Steueroasen und die strenge Kontrolle von Private Equity Fonds sowie Hedgefonds. Es muss außerdem ein internationales Insolvenzrecht geschaffen werden, das zahlungsunfähigen Staaten eine Mitsprache einräumt. Illegitime Schulden müssen erlassen werden. Wer an Diktatoren oder korrupte Betrüger verleiht, soll nicht mit der Rückzahlung seiner Gelder rechnen dürfen.

Die Umsetzung dieser Forderung setzt die Demokratisierung der internationalen Finanzdienstleistungsinstitutionen voraus. Es kann nicht angehen, dass IWF und Weltbank von den OECD-Staaten dominiert werden, während die Entwicklungsländer die Zeche für deren verfehlte Politik zahlen müssen.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Nahrungsmittelkrise in Haiti ist dafür ein Beispiel. Über Jahrzehnte wurden auf Geheiß von Weltbank und IWF die Zölle gesenkt und Billigimporte ins Land geholt. Heute ist Haiti ein Nahrungsmittelimportland geworden.

Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege, würden auch Sie freundlicherweise auf die Zeit achten?

Herr Präsident, ich komme zum Ende. Entwicklungspolitik ist kein Nebenschauplatz der internationalen Beziehungen. Sie hat eine zentrale Aufgabe bei der Gestaltung einer gerechten Weltordnung. Sie ist ein wesentlicher Bestandteil einer internationalen Sozialpolitik, für die die Linke einsteht, Herr Müntefering.

(Beifall bei der LINKEN)