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Genossenschaften sollen Kapitalinteressen unterworfen werden

Rede von Sevim Dagdelen,

Die wesentlichen Grundprinzipien der 1889 konzipierten Rechtsform sind die Grundsätze der Selbsthilfe, Selbstverwaltung und Selbstverantwortung, die Identität von Genosse/Genossin und „Kunden“und das Demokratieprinzip hinsichtlich der Entscheidungen („ein Mitglied-eine Stimme). Für Genossenschaften gilt: bürgerliche Selbstversorgung statt Staatshilfe und Selbstschutz statt Ausnutzung durch Marktmacht. Die vorgeschlagenen Regelungen zur Europäischen Genossenschaft als neu geschaffener Rechtsform werden den genannten Grundprinzipien nicht gerecht, da sie eine Annäherung an die Regelungen der Kapitalgesellschaften darstellen. Sevim Dagdelen in der Debatte zur Einführung der Europäischen Genossenschaft und zur Änderung des Genossenschaftsrechts.

Seit jeher nehmen Genossenschaften gezielt gemeinwohldienliche Aufgaben wahr. Deshalb ist die Genossenschaft eine besondere Rechtsform, die weder den Personengesellschaften noch den Kapitalgesellschaften zugeordnet werden kann. Die wesentlichen Grundprinzipien der 1889 konzipierten Rechtsform sind die Grundsätze der Selbsthilfe, der Selbstverwaltung und der Selbstverantwortung, die Identität von Genosse/Genossin und „Kunden“ - Identitätsprinzip - und das Demokratieprinzip hinsichtlich der Entscheidungen, nämlich: ein Mitglied, eine Stimme. Für Genossenschaften gilt: bürgerliche Selbstversorgung statt Staatshilfe und Selbstschutz statt Ausnutzung durch Marktmacht. Die vorgeschlagenen Regelungen zur europäischen Genossenschaft als neu geschaffener Rechtsform werden den genannten Grundprinzipien nicht gerecht, da sie eine Annäherung an die Regelungen der Kapitalgesellschaften darstellen. Hierzu gehören insbesondere die begründete Zulassung von investierenden Mitgliedern und die Möglichkeit der Gewährung von Mehrstimmrechten per Satzung bei der europäischen Genossenschaft. Beide Regelungen sind insoweit systemfremd, als sie dem genossenschaftlichen Grundgedanken widersprechen. Sie weichen vom Identitätsprinzip und dem Grundsatz „ein Mitglied, eine Stimme“ sowie dem Grundsatz der Selbstverwaltung und Selbsthilfe ab und sind Ausdruck einer neoliberalen Kapitalisierungspolitik. Damit wird erreicht, dass die europäische Genossenschaft nicht im Interesse derjenigen Mitglieder, die die Genossenschaft tatsächlich nutzen, sondern im Interesse der an hohen Dividenden interessierten Mitglieder geführt wird. Es sei in diesem Zusammenhang erwähnt, dass der Änderungsantrag der FDP, der die Mitbestimmungsregelungen bei der europäischen Genossenschaft als zu weitgehend kritisiert, völlig an der Realität der Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vorbei geht. Kommen wir nun zu den Neuregelungen im deutschen Genossenschaftsrecht: Lobenswert sind die Senkung der Mindestmitgliederzahl von sieben auf drei bei Neugründungen sowie die Öffnung der Genossenschaft für soziale und kulturelle Zwecke und die Möglichkeit, Sacheinlagen als Einzahlung auf den Geschäftsanteil zuzulassen. Die tendenziell positiv zu bewertende Einschränkung der Prüfpflicht geht jedoch nicht weit genug. Im Vorfeld der Reform des GenG waren sich alle Vertreter aus Wissenschaft und Praxis einig, kleine Genossenschaften von der umfassenden und daher kostenintensiven und gründungsfeindlichen Rechnungslegungsprüfung zu befreien; denn viele Gründungsaktivitäten scheitern an dem viel zu hohen Prüfungsaufwand eingetragener Genossenschaften. Laut PE des BMJ vom 25. Januar 2006 war erklärtes Ziel des Gesetzesentwurfs, „dass bei Unternehmensneugründungen vermehrt die Rechtsform der Genossenschaft gewählt wird“. Statt nun logischerweise eine Gleichbehandlung der kleineren Genossenschaften mit den Kapitalgesellschaften im Hinblick auf die Jahresabschlussprüfung durch die Anlehnung an die Größenmerkmale für kleine Kapitalgesellschaften nach § 267 Abs. 1 HGB herzustellen, hat man sich letztlich mit einer unzureichenden Viertelung der Werte der Umsatzerlöse und Bilanzsumme, die für kleine Kapitalgesellschaften gelten, begnügt. Einige wesentliche Vorschriften des Entwurfs bringen darüber hinaus das Gesamtkonzept der Rechtsform in Gefahr und entstellen den Sinn und Zweck der Genossenschaft: Erstens. Die Zulassung von Mindestkapitalregel-ungen per Satzung - fakultativ - und die von investierenden Mitgliedern widersprechen grundlegend allen Prinzipien und der Rechtsform allgemein. Zweitens. Entgegen der ursprünglichen Intention des Gesetzesentwurfs sieht der Vorschlag in geänderter Fassung unverständlicherweise nicht eine Einschränkung, sondern eine Erweiterung der Mehrstimmrechtsgewährung vor. Dies ist ein Verstoß gegen die demokratischen Grundsätze der Genossenschaft. Drittens. Allein die Tatsache, dass in 94 (!) Fällen wegen vermeintlich sprachlicher Anpassungen der Begriff „Genosse“ politisch motiviert durch „Mitglied“ ersetzt wird, macht uns nicht ohne Grund stutzig, meine Damen und Herren, liebe Genossinnen und Genossen der SPD. Viertens. Letztlich kann auch nur erstaunen, dass der Entwurf in geänderter Form der Angst vor zuviel genossenschaftlicher Mitbestimmung auch insoweit nachgibt, als die vorgesehenen Vorschläge für Informationsrechte ebenso wie für das selbstverständlich erscheinende Rede- und Antragsrecht auf Versammlungen der Genossen wieder in der Schublade des BMJ verschwinden sollen. Es freut mich in diesem Zusammenhang, dass sich unsere Kritik in der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses - Seite 15 - wieder findet. Der Ausschuss ist sich nämlich bewusst, „dass die neuen Möglichkeiten eine gewisse Abkehr von genossenschaftlichen Grundsätzen mit sich bringen und die Rechtsform der Genossenschaft etwas stärker an Kapitalgesellschaften annähern.“ Es ist somit gewollt. Das Bundesverfassungsgericht stellte 2001 zum Organisationsrecht sinngemäß fest, dass dieses dem Zweck diene, die Rechtsform der Genossenschaft als Mittel zur Selbstverwaltung und Selbstorganisation tendenziell wirtschaftlich Schwacher aufrechtzuerhalten. Wörtlich: „Durch sie soll eine selbstbestimmte, vergleichsweise risikolose Teilhabe breiter Bevölkerungskreise am Wirtschaftsleben sichergestellt werden, um gleichzeitig dem Ziel einer gerechten Sozialordnung ein Stück näher zu kommen.“ Gerade in den heutigen Zeiten, in denen viele Menschen wegen der zunehmenden Privatisierung öffentlicher Leistungen, wie zum Beispiel der Wohnungen, und der Verschärfung sozialer Unterschiede auf Selbsthilfe immer mehr angewiesen sind, wird auch die Genossenschaft in zunehmenden Maße benötigt, um lebensnotwendige Grundversorgung mit Wohnraum, Lebensmitteln etc. zu organisieren. Die Regierungspolitik betreibt weiterhin den Abbau des Sozialstaats und vertieft die Kluft zwischen arm und reich. Sie ist damit verantwortlich für den erhöhten Bedarf einer gemeinschaftlichen Selbstorganisation in der Bevölkerung. Ihre Änderungen konterkarieren das Ansinnen der Genossinnen und Genossen, miteinander und füreinander Förderleistungen zu erbringen, ohne dabei ihre Zusammenarbeit den Kapitalinteressen von Investoren zu unterwerfen. Endlich soll ein „Genosse“ kein Genosse mehr sein.