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Ein bisschen Volksvermögen verscherbeln

Periodika,

Kapitel 1 -
Die Abgeordnete

Dorothée Menzner fährt viel durch Niedersachsen. Oft auch mit dem Auto, wenn es keine passende Bahnverbindung gibt. Das Bundesland, in dem die 42-jährige Ingenieurin in den Bundestag gewählt wurde, ist groß. Auf einer Landkarte, die alle Bundesschienenwege verzeichnet, findet man in Niedersachsen viele weiße Flecken. Noch schlimmer sieht es aus, wenn man von Wolfsburg über die einstige Grenze in die Altmark fährt. Dort bleibt das Papier auf großen Flächen ganz unschuldig. Weiß eben. Ohne Schienen.
Dorothée Menzner ist verkehrspolitische Sprecherin ihrer Fraktion und arbeitet im Unterausschuss Eisenbahninfrastruktur. Der befasst sich mit Trassen, Grundstücken und Bauwerken der Bahn. Mit den Zügen nicht. Auch wenn die das Schönste an der Eisenbahn sind.
Wenn die Abgeordnete einen Wahlkreis-Arbeitstag hat, steht sie morgens um fünf auf. Sie wohnt in einem kleinen Ort zwischen Gifhorn und Uelzen. Um halb sieben müssen die Kinder in den Schulbus steigen. Danach fährt Dorothée Menzner mit dem Auto in ihr Wolfsburger Wahlkreisbüro. »Ich mochte Zug fahren sehr. Das hatte fast immer etwas mit Urlaub zu tun. Ich fahre auch heute alles, was irgendwie geht, mit dem Zug. Aber wenn es Abend wird in Niedersachsen…«
Wenn es Abend wird in Niedersachsen, kommt es oft vor, dass die Abgeordnete mit dem Auto zu einer Veranstaltung fährt, auf der sie ausschließlich über die Bahn redet, mit der sie nach der Veranstaltung allerdings nicht mehr nach Hause kommt. »Wenn man sich was wünschen könnte«, sagt die Abgeordnete, »dann, dass die Kapitalprivatisierung der Bahn nicht stattfindet, und einen Regionalverkehr, der Menschen Tag und Nacht von A nach B bringt. Das wäre Grundversorgung und Daseinsvorsorge im Wortsinn.« Nach solchen Sätzen grinst die Abgeordnete manchmal. Daseinsvorsorge und Kapitalprivatisierung sind zwei Begriffe, die man nicht in einen Raum sperren möchte. Um es mal so zu beschreiben.
Seit in dieser Republik über die Bahnprivatisierung diskutiert wird, Bahnchef Mehdorn und Verkehrsminister unisono wegen der Privatisierungspläne drängeln, ist Dorothée Menzner mehrmals im Monat in Sachen Bahn unterwegs. Die Menschen wollen wissen: Brauchen wir überhaupt eine Privatisierung?
Leider, sagt Dorothée Menzner, erübrige sich diese Frage. Denn die Deutsche Bahn sei längst privatisiert. Sie wurde 1994 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, in der der Bund sämtliche Anteile hält. »Jetzt geht es um die Kapitalprivatisierung. Mehdorn will frisches Kapital und dafür soll, so stellt er sich das vor, der Bund bis zu 49,9 Prozent seiner Anteile an der Bahn oder deren Tochterunternehmen an private Investoren verschleudern.«
Klingt nicht schlimm. Allerdings weiß man, dass private Investoren ihr Geld nicht umsonst irgendwo anlegen. Sie wollen Rendite sehen. Und zwar schnell. Heißt, überall dort, wo kein Überschuss gemacht werden kann, drohen Verkauf oder Schließung. Ein Großteil der Bahnhöfe und Strecken in dünn besiedelten Gebieten wäre gefährdet. Noch mehr weiße Flecken auf der Landkarte der Bundesschienenwege.
Dorothée Menzner sagt, Personenverkehr und Güterverkehr gehörten in öffentliche Hand. Bereits jetzt sei die Deutsche Bahn AG ein Konzerngeflecht mit über 200 Tochterfirmen. Sie bekomme jährlich rund acht Milliarden Euro Steuergelder für unmittelbare Verkehrsaufgaben. Etwa viereinhalb Milliarden Regionalisierungsgelder für den Regionalverkehr und dreieinhalb Milliarden Euro für den Ausbau des Schienennetzes. »Es ist unseriös, einen Teil der Bahn oder Bereiche wie den Personennah- und Fernverkehr oder den Güterverkehr und andere Dienstleistungen in dritte Hände zu geben. Diese Geschäftsbereiche wären nach einer Kapitalprivatisierung nur noch dem Aktiengesetz verpflichtet mit all seinen Renditenvorgaben. Was will eine wie Dorothée Menzner? Die Transportbereiche wie die Infrastruktur, also Gleise, Bahnhöfe, Signal- und Energieanlagen in öffentlichem Eigentum lassen. »Schließlich wird die Bahn auch künftig vom Bund alimentiert. Und da müssen auch seine Einflussmöglichkeiten gewahrt bleiben.«
Infrastruktur und Fahrbetrieb, sagt sie, sollten voneinander getrennt in Bundeshand bleiben. Weder das eine noch das andere sei kostendeckend zu betreiben. »Aber beides gehört zur Daseinsvorsorge. Wir wollen, dass der Schienenverkehr verdoppelt wird. So entstehen neue Arbeitsplätze und wird die Straße entlastet.«
So denken offensichtlich und zum Glück noch viele andere. Und so kam es, dass im ersten Anlauf dem Gesetzesvorhaben durch die Bundesländer Einhalt geboten wurde. Die Kuh ist deshalb trotzdem nicht vom Eis.
Manchmal, wenn die Abgeordnete anderen Menschen erklärt, was es mit der Kapitalprivatisierung auf sich hat, sagt sie: »Börsenbahn heißt: Weniger Strecken, weniger Bahnhöfe und weniger Züge.« Es kommt vor, dass drei Abende in der Woche »Bahnabende« sind für Dorothée Menzner. Müde wird sie daran nicht. Sie wünschte nur, es wäre endlich vom Tisch und sie müsste von einem Minister nicht im Bahnmagazin »mobil« Sätze lesen, die so klingen: »Wollen wir, dass künftig überwiegend ausländische Züge über das deutsche Netz fahren?«
Wäre doch lustig, denkt sie dann, wenn der Minister einmal abends und ohne Auto im Gifhorner Land und in der Altmark unterwegs sein müsste. Um den Leuten zu erklären, dass ohne Kapitalprivatisierung der Bahn hier bald der Teufel los sein wird. Aber nur bis 19 Uhr, sagten die Leute dann vielleicht. Danach kommt der Teufel hier nicht mehr weg.

Kapitel 2 - Der Lokführer, er will anonym bleiben

Wenn der Lokführer seinen Dienst antritt, um Güterzüge durch Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern zu fahren, nimmt er immer ein recht dickes weißes Buch mit, das inzwischen fast wöchentlich von der Bahn neu aufgelegt wird. Es enthält die Zusammenstellung der vorübergehenden Langsamfahrstellen und anderer Besonderheiten. 200 Seiten umfasst das Buch. Es werden eher mehr als weniger. Als Titel könnte auch vorn drauf stehen: »Zustandsbericht der Gleise und Signalanlagen«.
Auf Seite zwei wird der Lokführer, einer von rund 800 im Dienstbereich TM Nord, vor eine schöne Aufgabe gestellt: »Da der Fahrzeitzuschlag nur ausnahmsweise an den Stellen in den Fahrplan eingearbeitet ist, wo er benötigt wird, ist die Fahrzeit
vor und hinter den Stellen mit reduzierter Geschwindigkeit möglichst zu kürzen. Die zulässigen Geschwindigkeiten dürfen aber nicht überschritten werden.«
Der Lokführer sollte also bei jedem Dienst die Quadratur des Kreises schaffen. Schafft er auch. Irgendwie. Und auf seine Kosten.
Fragt man den Lokführer, der fast 20 Jahre bei der Bahn arbeitet, was er von den Plänen zur Kapitalprivatisierung hält, sagt er kurz und bündig: »Nicht viel und ja.«
Die Erfahrungen der vergangenen Jahre haben die »Eisenbahnfahrzeugführer«, wie sie in den Unternehmensrichtlinien genannt werden, gelehrt, dass die Angelegenheiten nicht besser werden. Nicht die Bezahlung, nicht die Arbeitsbedingungen, nicht der Umgang mit mitbestimmenden Arbeitnehmern, nicht der Arbeitsschutz und nicht die gesamten betrieblichen Abläufe. Der Lokführer sagt: »Ich arbeite gern. Dies ist mein Wunschberuf. Ich habe Familie. Die will ich auch sehen. Und ich will planen können. Früher galten Schichtpläne fast ein Jahr. Heute wechseln sie alle zwei Monate. Und so, wie die Schichten angeordnet sind, bin ich in ständigem Wechsel. In den letzten 12 Jahren ist die Deutsche Bahn, wenn ich das alles richtig lese, börsenfähig geworden. Offensichtlich auch auf meine Kosten. Ich erlebe, dass viele Gleise stillgelegt wurden. Die Züge sind länger und schwerer geworden. Ich fahre heute Güterzüge, die sind bis zu 700 Meter lang. Bei der Zahl ständig wachsender Langsamfahrstrecken muss ich viel öfter bremsen und anfahren. Das kostet bei der Länge und Masse viel Strom und viel Zeit. Die Höchstzeit, die ich auf der Lok sitze, ist in den vergangenen Jahren um eine Stunde gestiegen. Alle Verschlechterungen passieren ganz allmählich, sind kleinteilig. In der Summe aber sind sie sehr spürbar.«
Der Lokführer weiß, dass Privatisierungen nicht für Angestellte gemacht werden, sondern für Unternehmer und Investoren. Ihm sind bereits Urlaubstage gestrichen worden, das Weihnachtsgeld wurde gekürzt, die Jahresarbeitszeit stieg um rund 100 Stunden. Er hat heute Aufgaben zu erledigen, für die früher andere zuständig waren. Er ist heute Tankwart, Zugführer, Rangierleiter und Teil-Triebfahrzeug-Wart in einem. »Ich habe letztens jemanden getroffen, der arbeitet für ein privates Transportunternehmen. Was die für Lenkzeiten haben, ist einfach unglaublich. Ich denke, da würden wir dann nach und nach auch hinkommen. Wenn die Privatisierung wirklich stattfindet.«
Der Lokführer muss zur Schicht. Vorher schaut er noch in das dicke weiße
Buch - die Bibel der Langsamfahrstellen.

3. Kapitel - Der Lehrer

Uwe Andersen lebt seit 1978 in Wittingen, einer kleinen Stadt zwischen Salzwedel und Celle. Er unterrichtet Erdkunde und Geschichte am Gymnasium. Wittingen hat rund 6000 Einwohner, dazu kommen noch einmal 6000 Menschen aus eingemeindeten Dörfern. Viele arbeiten bei VW in Wolfsburg.
Uwe Andersen hat zwar einen Führerschein, aber er fährt nicht Auto. Er engagiert sich für DIE LINKE, kandidiert bei den Landtagswahlen im kommenden Jahr als Direktkandidat für den Niedersächsischen Landtag. Da ist er viel unterwegs. Politik will erklärt werden. Die Schule, in der Uwe Andersen arbeitet, ist zehn Kilometer entfernt. Dahin fährt er mit dem Rad oder kümmert sich um eine Mitfahrgelegenheit.
Der Geografielehrer holt eine Karte von 1935 aus dem Schrank. »Früher konnte man von Wittingen aus in sechs Richtungen mit dem Zug fahren.« Will man heute von hier nach Wolfsburg, muss man umsteigen, durchgehende Züge gibt es nicht mehr.
Auf dem Land gewöhnen sich die Menschen daran, dass Mobilität harte Arbeit ist. Kinder machen ihre ersten Erfahrungen mit dem öffentlichen Personennahverkehr, wenn sie Schulbusse benutzen. Das könne einem, sagt der Lehrer ironisch, dann den ÖPNV im Zweifelsfall bis ans Lebensende austreiben.
»Vor 25 Jahren«, erzählt er und es klingt wie ein Märchen, »haben wir mit der Schule einen Ausflug nach Braunschweig gemacht. Da haben wir bei der Bahn angerufen und die haben zwei Waggons zusätzlich an den Zug gehängt. Damit die Plätze reichen.« Wie das heute wäre, wenn der Lehrer bei der Bahn um zwei zusätzliche Waggons bäte, wegen eines Schulausfluges, das spricht der Mann gar nicht erst aus. Man hielte ihn wahrscheinlich für ein bisschen verrückt. Bei der Bahn.
Geradezu symbolisch kommt einem dann die Geschichte mit Rühen, nicht weit weg von Wittingen, vor. Die Bahnstrecke endet dort, hinter Rühen ist sie stillgelegt. Nun wird die Strecke entwidmet, wie es so schön heißt. Es gibt eine Bürgerinitiative, die würde die Strecke gern wiederbeleben. Damit man Rühen wieder in wenigstens zwei Richtungen verlassen kann mit dem Zug. Die Kommune aber will da, wo heute noch die Gleise liegen, eine Tankstelle bauen.
So was bringt einen linken Lehrer aus der Fassung. Tankstellen statt Züge. Auch schlechte Perspektiven sind in die Zukunft gedacht.

Schlusskapitel

»Mit diesem Gesetz wird der Bahn die Schieneninfrastruktur für anderthalb Jahrzehnte auf den Silberteller gepackt. Oben drüber fließen 37,5 Milliarden Euro (15 Jahre lang je 2,5 Milliarden) Steuergelder als süße Soße. Als Sahnehäubchen werden die Stimmrechte des Bundes gereicht. Und damit es der Bahn richtig mundet, erklärt sich der Bund noch bereit, nach Jahren das Schienennetz für weitere Milliarden als Leergut zurückzunehmen«, sagt Dorothée Menzner.