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Die Desintegrationspolitik zementiert die Ungleichheiten

Rede von Sevim Dagdelen,

Beim Thema Integration predigen Sie Gleichheit, schaffen tatsächlich aber Ungleichheit. Sie predigen Integration und schaffen Ausgrenzung. Sie rücken immer wieder das Erlernen der deutschen Sprache in das Zentrum Ihres Integrationsverständnisses. Konkrete Lösungswege zeigen Sie nicht auf. Hier herrscht Fehlanzeige! Außer Sanktionen und Sonntagsreden fällt Ihnen hierzu nichts ein.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist leider so: Vor mir kam eine Sonntagsrede, und nach mir wird wahrscheinlich auch eine kommen.
(Widerspruch bei der SPD Gerd Andres (SPD): Die einzige ist Ihre!)
Kommen wir zu dem vorliegenden Antrag der Grünen. In dem Titel des Antrags wird die große Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit beklagt. Ich aber behaupte, diese gibt es gar nicht. Was ist die integrationspolitische Wirklichkeit in Deutschland? Die Wirklichkeit ist, dass Herkunft sowie soziale Lage über den Lebensweg in Deutschland entscheiden. Migrantinnen und Migranten sind dabei besonders betroffen. Sie gehören häufig den sozial benachteiligten Schichten an.
Die Wirklichkeit für sie ist, dass ihre Kinder wegen der Gebühren oftmals nicht in die Kitas gehen können. Zudem fehlt es an Angeboten frühkindlicher Sprachentwicklung im Rahmen einer institutionalisierten Tagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren. Der Mangel an Kita-Plätzen ist in den westdeutschen Ballungsgebieten extrem hoch, also genau da, wo Migrantinnen und Migranten meistens leben. In den alten Bundesländern beträgt die Versorgungsquote bei unter Dreijährigen lediglich 8 Prozent.
Die Wirklichkeit ist auch, dass Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund der Zugang zu weiterführenden Schulen, zu Ausbildungsplätzen und zu Hochschulen weitgehend verwehrt bleibt. An den Hauptschulen sind sie überrepräsentiert, an den Gymnasien hingegen unterrepräsentiert. 17,5 Prozent der ausländischen Jugendlichen beispielsweise verließen 2005 die Schule ohne Schulabschluss. Das ist weit mehr als bei den deutschen Jugendlichen. Bei ihnen sind es lediglich 7,2 Prozent; auch das ist schlimm genug.
Die Wirklichkeit ist aber auch, dass es seit Mitte der 90er-Jahre einen ungebrochenen Negativtrend bei der Ausbildungsbeteiligung ausländischer Jugendlicher gibt. Ihr Anteil an allen Auszubildenden betrug im Jahr 2006 nur noch 4,2 Prozent. 1994 waren es noch 8 Prozent. Die Ausbildungsquote betrug 2006 bei ihnen 23 Prozent gegenüber 57 Prozent bei deutschen Auszubildenden. Nur jeder dritte ausländische Jugendliche konnte in eine betriebliche Ausbildungsstelle vermittelt werden. Bei deutschen Jugendlichen war es die Hälfte.
Nach dem im Dezember 2007 veröffentlichten Bericht zur Lage der ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger in Deutschland haben ausländische Jugendliche bei freien Berufen die größten Chancen. Dort beträgt ihr Anteil 7,7 Prozent. Am geringsten sind die Ausbildungschancen mit 2,1 Prozent im öffentlichen Dienst. In dem vorherigen Bericht aus dem Jahre 2005 betrug diese Zahl auch das ist noch jämmerlich, aber immerhin 2,6 Prozent, also deutlich mehr als heute.
Die Wirklichkeit in Deutschland ist auch, dass die Arbeitslosenquote von Migrantinnen und Migranten doppelt so hoch wie die der Gesamtbevölkerung ist. Außerdem befinden sie sich vorwiegend in sogenannten prekären Arbeitsverhältnissen, zumeist im Niedriglohnbereich. Um die Chancengleichheit am Arbeitsmarkt Herr Körper hat in diesem Zusammenhang von Teilhabe gesprochen herzustellen, müssten circa 700 000 Migrantinnen und Migranten eine Beschäftigung finden. Voraussetzung dafür ist eine identische Erwerbsquote.
Die Wirklichkeit ist auch, dass 38 Prozent der Hartz-IV-Empfängerinnen und Empfänger in diesem Land einen Migrationshintergrund haben. Jede fünfte Person mit Migrationshintergrund muss Grundsicherungsleistungen in Anspruch nehmen. Bei Personen ohne Migrationshintergrund ist es nur jede 14. Während die Armutsrisikoquote in der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund bei fast 12 Prozent liegt, liegt sie bei Migrantinnen und Migranten bei 28 Prozent.
Das ist die integrationspolitische Wirklichkeit in Deutschland. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Diese Wirklichkeit ist Ihnen aber seit Jahren und Jahrzehnten bekannt. All diese Informationen stammen aus offiziellen Berichten, meist aus denen der Bundesregierung selbst. Sie predigen Gleichheit Herr Körper hat von Teilhabe gesprochen , schaffen tatsächlich aber Ungleichheit.
(Beifall bei der LINKEN)
Sie predigen Integration und schaffen Ausgrenzung. Das war und ist gewollt. Wie sonst lässt sich erklären, dass Sie keinerlei Ursachenbekämpfung von all dem betreiben, was Sie hier beklagen? Sie rücken immer wieder das Erlernen der deutschen Sprache in das Zentrum Ihres Integrationsverständnisses.
(Paul Lehrieder (CDU/CSU): Das ist auch wichtig!)
Konkrete Lösungswege zeigen Sie nicht auf. Hier herrscht Fehlanzeige! Außer Sanktionen und Sonntagsreden fällt Ihnen hierzu nichts ein.
(Beifall bei der LINKEN)
Was tut die Bundesregierung im Hinblick auf diese katastrophale bildungspolitische Bilanz? An keiner Stelle des Berichts der Bundesregierung wird die frühe Selektion der Schülerinnen und Schüler durch das dreigliedrige Schulsystem infrage gestellt. Die diskriminierende und benachteiligende Beurteilungspraxis bei der Aufteilung auf die unterschiedlichen Schulformen spielt in dem Bericht ebenfalls keine Rolle. Dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund bei gleicher Leistung schlechtere Beurteilungen von den Lehrerinnen und Lehrern bekommen, ist für diese Bundesregierung offensichtlich überhaupt kein Problem. Die frühe Selektion nach der vierten Klasse im deutschen Bildungssystem ist von Ihnen gewollt; sie wird sogar noch vorangetrieben.
Dies alles passt gut zu der neoliberalen Politik, die Sie auch sonst betreiben. Ihr Ziel ist nicht die Angleichung der Lebensverhältnisse, Ihr Motor des Fortschritts ist die Ungleichheit und die Zementierung der Kluft zwischen Arm und Reich in unserer Gesellschaft. Sie haben bewusst über Jahrzehnte jede Integrationsförderung unterlassen das betrifft nicht nur diese, sondern auch die vorangegangenen Bundesregierungen und stattdessen eine Politik der gezielten Verweigerung der Integration und der Verweigerung von Rechten für Migrantinnen und Migranten gemacht. Im Rahmen der Novellierung des Zuwanderungsbegrenzungsgesetzes von Rot-Grün sind im letzten Jahr folgerichtig noch weitere Verschärfungen festgeschrieben worden. Über all das kommt immer das Deckmäntelchen der Integration. Es hört sich natürlich gut an.
(Reinhard Grindel (CDU/CSU): Ist auch gut!)
Dabei handelt es sich aber um ein Flüchtlingsabwehr- und Desintegrationsgesetz.
Diese Politik setzen Sie unbeirrt fort. Nicht umsonst verweigern Sie den hier geborenen oder lange hier lebenden Menschen die Beteiligung am politischen Willensbildungsprozess. Ich hoffe, dass Frau Böhmer die Güte haben wird, einmal zu erklären, warum sie, wenn sie sagt, dass das kommunale Wahlrecht nicht ausreiche, nicht das aktive und passive Wahlrecht insgesamt fordert, wie wir es zusammen mit den Grünen getan haben.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))
Meine Damen und Herren, bei dieser erfolgreichen Integrationspolitik, nein, Desintegrationspolitik
(Dr. Michael Bürsch (SPD): Guter Versprecher!)
Ausnahmen bestätigen die Regel ist es auch nicht verwunderlich, dass laut einer Umfrage nur 14 Prozent der Migrantinnen und Migranten aus der Türkei ihre Anliegen bei der Bundesregierung in guten Händen sehen. Wie das Essener Zentrum für Türkeistudien gestern mitteilte, fühlt sich ein Viertel von Parteien gut vertreten, 29 Prozent von Gewerkschaften und 32 Prozent von Migrantenselbstorganisationen. Allerdings sehen 27 Prozent das ist das Schlimmste an dieser Mitteilung die türkische Regierung als Vertreterin ihrer Interessen an. Hier muss sich die Bundesregierung schon einmal fragen lassen, warum das so ist. Der Grund liegt auf der Hand: die Wirklichkeit der Lebensverhältnisse dieser Menschen in Deutschland.
Wenn Sie von Integration sprechen, Herr Körper und wie Sie alle heißen mögen, und damit Teilhabe meinen, dann will ich Ihnen deutlich machen, was Sie für die Teilhabe dieser Menschen in Deutschland tun können. Sie müssen das dreigliedrige Schulsystem abschaffen und eine gemeinsame Schule für alle schaffen, damit auch diese Kinder und Jugendlichen Teilhabechancen in Deutschland wahrnehmen können.
(Beifall bei der LINKEN)
Es bedarf zusätzlicher Mittel für Krippen, Kindergärten, Schulen, Hochschulen, berufliche Bildung und Weiterbildung. Nur so kann die Teilhabe in unserer Gesellschaft gelingen. Wenn nicht der soziale Status über den Bildungsweg entscheiden soll, bedarf es einer gebührenfreien Kinderbetreuung auch in Kindergärten. Studiengebühren lehnen wir ebenfalls ab, weil sie einen sozialen Selektionsfaktor darstellen, der sich gerade bei jungen Migrantinnen und Migranten bemerkbar macht.
(Beifall bei der LINKEN Rüdiger Veit (SPD): Das ist wahr!)
Wenn Sie Jugendliche mit Migrationshintergrund besser integrieren wollen, dann müssen Sie die Unternehmen der Privatwirtschaft und den öffentlichen Dienst in die Verantwortung nehmen. Deshalb ist eine gesetzliche Ausbildungsplatzumlage erforderlich, nicht aber ein Ausbildungsbonus, wie er von Ihnen beschlossen und hier am Mittwoch von Ihrem Arbeitsminister erläutert wurde. Wenn Sie nicht wollen, dass Migrantinnen und Migranten im Niedriglohnbereich ausgebeutet werden, müssen Sie einen gesetzlichen Mindestlohn einführen und die Minijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse umwandeln.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. Wenn Sie von Fachkräftemangel schwadronieren, dann fordere ich Sie auf, endlich die biographischen Lebensleistungen der 500 000 Menschen anzuerkennen, die einen im Ausland erworbenen akademischen Abschluss haben, der in Deutschland bis heute nicht anerkannt worden ist. Dann haben Sie auch Fachkräfte, die Sie einsetzen können.
Es ging in den letzten Jahrzehnten nie um Teilhabe und tatsächliche Integration von Migrantinnen und Migranten. Es ging vor allem im Interesse der kapitalistischen Wirtschaftsordnung immer nur darum, die bestehenden Ungleichheiten zu zementieren.
Ich fordere Sie auf: Wenn Sie Integration wollen, dann schaffen Sie die notwendigen Rahmenbedingungen, damit die Migrantinnen und Migranten nicht mehr bekämpft werden, sondern tatsächlich an unserer Gesellschaft teilhaben können.
(Beifall bei der LINKEN)