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Bundestagsausschuss für die neuen Länder einrichten

Rede von Gregor Gysi,

Gregor Gysi in der Debatte zum Stand der Deutschen Einheit und der perspektivischen Entwicklung bis zum Jahr 2020

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage meiner Fraktion macht eine Art Ostblindheit und Desinteresse deutlich, was auch im Bundestag immer wieder zu spüren ist. Ich glaube aber, dass wir uns das in keiner Hinsicht leisten können.

(Beifall bei der LINKEN)

Bei der Vereinigung gab es eine Schwierigkeit, unter der wir noch heute leiden. Es war nämlich keine Vereinigung, sondern ein Beitritt. Das hat Folgen. Es wurde immer nur darüber nachgedacht, welche Folgen das im Osten hat, ob es dort damals vielleicht an Selbstbewusstsein mangelte. Das stimmt, das hatte auch etwas damit zu tun. Aber das Entscheidende war eine Folge im Westen. Da man sich nichts vom Osten abgeschaut hat, da man nicht bereit war, einige Strukturen aus dem Osten im Westen einzuführen, gab es im Zusammenhang mit der Einheit für keinen Menschen in Passau, Kiel oder Frankfurt am Main eine Steigerung der Lebensqualität. Sie haben ein Glas Wein oder ein Glas Sekt getrunken, haben sich gefreut, und seitdem erleben sie, dass es mit ihnen sozial bergab geht und der Osten sich trotz hoher Transferleistungen nicht selbst finanzieren und nicht auf eigenen Füßen stehen kann. Aus ihrer Sicht nörgeln die Ossis herum und wählen komisch. Das ist ihre Einstellung. Dann gibt es noch einzelne Kandidaten, insbesondere aus der Union, die versuchen, auf dieser Schiene Wahlkampf zu machen. Aber das funktioniert nicht.

Jetzt entdeckt Frau von der Leyen, dass an der Krippenstruktur im Osten vielleicht doch etwas dran war. Jetzt sagt man, dass die Öffnungszeiten der Kindertagesstätten vielleicht gar nicht so schlecht waren. Jetzt erkennt man, dass man die eine oder andere Struktur in den Schulen vielleicht hätte übernehmen können, zum Beispiel die stellvertretende Direktorin oder den stellvertretenden Direktor für außerunterrichtliche Tätigkeiten an jeder Schule. Man hätte das ja anders organisieren können. Aber jemanden zu haben, der außerunterrichtliche Tätigkeiten anbietet und dafür verantwortlich ist, musste doch nicht falsch sein. Herr Althaus Mitglied der CDU war dafür zum Beispiel in Thüringen zuständig. Er wird deswegen doch nicht plötzlich sein ganzes Leben bereuen.

(Beifall bei der LINKEN)

Man hat im Westen keine Strukturen aus dem Osten übernommen, und das hat von Bayern bis Schleswig-Holstein bis heute psychologische Folgen. Ich rede jetzt gar nicht über die Folgen im Osten, sondern über die im Westen. Diese beschäftigen uns nach wie vor.

(Uwe Beckmeyer (SPD): Eine stellvertretende Direktorin gibt es bei uns!)

Es gibt eine Standortmarketingagentur namens Invest in Germany, die jährlich 19 Millionen Euro Bundesmittel bekommt und mit folgender Aussage für den Osten wirbt ich zitiere wörtlich :
In Ostdeutschland profitieren Investoren von Löhnen, die 30 Prozent unter westeuropäischem Standard liegen, und von einem niedrigen gewerkschaftlichen Organisationsgrad.
Aufsichtsratsvorsitzender dieses Unternehmens ist Herr Bundeswirtschaftsminister Michael Glos. Das sagt wohl alles. Diese Art von Werbung für Ostdeutschland wollen wir nicht.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): Unerhört!)

Es werden hier im Bundestag oft Gesetze beschlossen, bei denen man sich gar nicht überlegt, welche Folgen sie für strukturschwache Regionen im Westen, vor allen Dingen aber für den strukturschwachen Osten haben. Oft sind die Folgen dort viel negativer als woanders. Ich werde Ihnen Beispiele dafür nennen.

Es gibt in Deutschland Aufstockerinnen und Aufstocker; das ist übrigens ein Skandal. Das sind Leute, die so wenig verdienen, dass sie zusätzlich ALG II benötigen, um das Existenzminimum zu erreichen. Die Union sagt jetzt, sie sei für Kombilöhne. Ich möchte gerne einmal wissen, wo das Ganze enden soll. Der Unternehmer zahlt dann 1 Euro pro Stunde, und den Rest zahlen die Steuerzahlerinnen und Steuerzahlen. Wo leben wir denn eigentlich? Anständige Arbeit muss auch anständig bezahlt werden. Ich kann solche Überlegungen gar nicht nachvollziehen.
(Beifall bei der LINKEN)

Allein im Osten sind 30 Prozent der geringfügig Beschäftigten Aufstockerinnen und Aufstocker.
Ich nenne außerdem das Beispiel Elterngeld. Diesbezüglich habe ich einen deutlichen Kritikpunkt im Hinblick auf Frau von der Leyen. Warum? Sie hat auf der einen Seite das Elterngeld auf bis zu 1 850 Euro erhöht, damit auch Besserverdienende mehr Elterngeld bekommen, aber gleichzeitig die Bezugsdauer von zwei Jahren auf ein Jahr gekürzt. Das betrifft insbesondere diejenigen, die den geringsten Elterngeldbetrag in Höhe von ungefähr 300 Euro bekommen, wozu der größte Anteil der Bezieherinnen und Bezieher gehört. Wenn die Männer oder auch einmal die Frauen noch zwei Monate übernehmen, sind es 14 statt 12 Monate. Das ist übrigens eine gute Idee; diesbezüglich bewegt sich auch etwas in der Gesellschaft.

Ich sage Ihnen aber, was das im Kern bedeutet: Es ist eine direkte Umverteilung. Um den Besserverdienenden mehr Geld geben zu können, kürzt man die Bezugsdauer um ein Jahr. Genau das ist auch im Osten geschehen: Der Leistungsbezug für die Ärmeren in der Gesellschaft ist um zwölf, mindestens aber um zehn Monate gekürzt worden, damit die Reicheren mehr Geld bekommen können.

(Beifall bei der LINKEN)

Das ist nicht hinnehmbar; aber das wurde von der SPD und der Union beschlossen.
Es gibt ein weiteres Problem. Ich weiß um die hohen Transferleistungen. Dafür muss man sich auch einmal dankbar zeigen, weil diese finanziellen Mittel eine Art Solidarleistung der Gesellschaft sind, um den Osten voranzubringen.

(Joachim Günther (Plauen) (FDP): Dann machen Sie es doch auch!)

Ich habe es doch gerade gemacht. Aber es gibt ein großes Fragezeichen dahinter; denn bei allen Bundesfördermitteln ist der Anteil für den Osten extrem niedrig. Jetzt müssten wir das gegenrechnen. Muss das sein? Was soll das Ganze? Ich nenne Ihnen zwei Beispiele.

Erstes Beispiel. Der Osten stellt 20 Prozent der Bevölkerung, bekommt aber nie 20 Prozent der Bundesfördermittel. Von den 1,2 Milliarden Euro für die Exzellenzinitiative für die Forschung bekommt der Osten nicht 20 Prozent, sondern nur 4 Prozent. Jetzt könnte man sagen, den Rest müsse der Osten aus den Transferleistungen bestreiten. Aber dann stimmte die ganze Rechnung nicht mehr, weil man das sofort gegenrechnen müsste. Das gilt auch für die Förderung der Energieforschung. Hier bekommt der Osten nur 10 Prozent, obwohl ihm theoretisch 20 Prozent zustünden.
Welche Folgen hat das? Wenn die Mittel so gering sind, kann man keine Forschungseinrichtungen bezahlen. Dann entstehen im Osten keine Unternehmen und keine Wirtschaftstätigkeit. Dann wird die Arbeitslosigkeit nicht abgebaut. Das bringt so nichts. Wir brauchen bei den Fördermitteln des Bundes eine gerechte Verteilung in der Bundesrepublik Deutschland, und zwar gerade im Hinblick auf die strukturschwachen Regionen.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn ich die strukturschwachen Regionen anspreche, dann meine ich das ist neu; die Debatte wird heutzutage anders geführt nicht nur den Osten, sondern auch strukturschwache Regionen in Nordrhein-Westfalen und anderen westlichen Bundesländern, die genauso gefördert werden müssen wie der Osten. Das müssen wir hinbekommen.

Zweites Beispiel. Wir im Osten bekommen nicht etwa 20 Prozent, sondern gerade einmal 2 Prozent der Fördermittel für den Austausch von Studenten und Wissenschaftlern. Der Osten wird also an den Bundesmitteln ständig unterdurchschnittlich beteiligt.
Im Osten gibt es zudem keinen Aufschwung. Die durchschnittliche Arbeitslosenquote im Osten liegt bei 14,8 Prozent. Das ist mehr als doppelt so hoch wie in den alten Bundesländern, wo sie 7 Prozent beträgt. Laut der Welt vom 21. November 2005 gibt es im Osten 15 Unternehmen, die Umsatzmilliardäre sind, aber in den alten Bundesländern 500. In der DDR gab es fast 100 Großbetriebe mit mehr als 10 000 Beschäftigten. Heute gibt es im Osten lediglich zwei Unternehmen mit einer solchen Anzahl von Beschäftigten. 20 Prozent mehr Frauen als Männer verlassen den Osten und gehen in die alten Bundesländer, um eine Ausbildungschance zu haben. Das hat unter anderem die demografischen Probleme zur Folge, die wir alle kennen.
Wir fordern die Angleichung der Löhne und Gehälter sowie der Renten.

(Beifall bei der LINKEN)

Im Jahre 18 der deutschen Einheit wird noch immer so getan, als müssten die Unterschiede bei den Löhnen und Gehältern noch 20 Jahre fortbestehen. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit, gleiche Rente für gleiche Lebensleistung, das muss doch endlich zu einer Selbstverständlichkeit werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Gysi!

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Herr Präsident, ich will nur noch einen Satz sagen.
Herr Bundesminister Tiefensee, Sie sind für den Osten zuständig. Aber wie arbeiten Sie eigentlich mit dem Parlament zusammen? Es gibt ja gar keinen entsprechenden Ausschuss. Wollen Sie im Verkehrsausschuss über den Osten reden? Wir brauchen im Bundestag dringend einen Ausschuss für die neuen Bundesländer und alle anderen strukturschwachen Regionen in Deutschland. Ich bitte Sie, einen solchen Ausschuss einzurichten.

(Beifall bei der LINKEN)