Zum Hauptinhalt springen

Auswirkungen von Corona auf Kinder: Nichts als nicken, danken und abheften

Rede von Heidi Reichinnek,

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was ist gerade, nach drei Jahren Pandemie, die Realität für Kinder und Jugendliche? Ein enormer Anstieg von Depressionen, Essstörungen, Mediensucht; massiver Druck, um Lernrückstände aufzuholen; Zukunftsängste und Krisenmodus als Dauerzustand. Diese Pandemie traf auf ein kaputtgespartes System, egal ob in Kita, Schule oder Jugendhilfe. Es brennt überall, und besonders hart trifft es wie immer Kinder aus Familien mit wenig Geld. Es brennt, und wie es Ihre Art ist, diskutieren Sie, und Sie schauen auch ganz betroffen. Die Probleme schreien zum Himmel, und Sie machen nichts, gar nichts!

(Emilia Fester [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt doch nicht!)

Aber das akzeptieren wir nicht.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich kann es nicht mehr ertragen. Ja, Mental Health Coaches hier, ein anderer Tropfen da. Ich habe jahrelang in der Jugendhilfe gearbeitet und immer wieder erlebt: Die Kinder, die Familien und auch die Mitarbeitenden dort, die sind Ihnen doch völlig egal.

(Zuruf der Abg. Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Die Situation war schon vor Corona hochproblematisch, aber während der Pandemie sind wir in eine absolute Katastrophe geschlittert – von der Regierung damals wie heute komplett im Stich gelassen. Dabei waren es meine Kolleginnen und Kollegen in der Jugendhilfe, die während der Pandemie ohne Rücksicht auf ihre eigene Gesundheit für die Kinder und Jugendlichen da waren, die Kontakt gehalten haben, die sie unterstützt haben. Sie waren da, als die Kitas und Schulen geschlossen hatten, als man keinen Hobbys mehr nachgehen konnte, als man keine Freunde mehr treffen konnte. Deswegen möchte ich – das ist das Allermindeste – an dieser Stelle wenigstens allen Kolleginnen und Kollegen in der Jugendhilfe für ihre unglaubliche Arbeit danken.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ihr fangt das auf, was hier im Bundestag immer nur wegdiskutiert wird. Danke!

Aber wie sieht es denn gerade da draußen aus, weit weg vom Bundestag, im Wahlkreis, wo man so gerne Fotos mit den netten Kindern und Jugendlichen macht und sie dann wieder zur Seite schiebt? Die Jugendämter können kaum noch pädagogisch arbeiten. Es ist ja toll, dass sich die Kinder direkt an die Jugendämter wenden können. Aber an wen denn? Die Mitarbeitenden haben doch keine Zeit mehr, die Akten stapeln sich. Und wissen Sie, was gerade in den Inobhutnahmen los ist?

(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Alles kommunale Aufgaben!)

Dorthin kommen immer mehr unbegleitete minderjährige Geflüchtete, dorthin kommen die Kinder, die akut aus ihren Familien raus müssen, und die, die sonst in keiner Einrichtung mehr Platz finden. Selbstverletzendes Verhalten, Panikattacken, Aggression und Frust – all diese Kinder landen in den Inobhutnahmen. Freie stationäre Plätze gibt es quasi nicht mehr. Die Kolleginnen und Kollegen in den ambulanten Hilfen bekommen einen neuen Fall nach dem nächsten.

All das trifft auf astronomische Krankenstände, auf Fachkräfte, die 24/7 erreichbar sein müssen, die bei miesen Gehältern arbeiten. Das ist Dauerstress, und deshalb kündigen sie massenweise. Das steht auch in Ihrem Bericht. Davon höre ich gar nichts. Verdi hat dazu auch eine Studie: 61 Prozent der Mitarbeitenden in der sozialen Arbeit sagen, dass sie ständig an der Grenze der Leistungsfähigkeit sind; 77 Prozent sagen, dass sie das bis zur Rente nicht mehr durchhalten.

Verantwortungsvolle Politik müsste doch Tag und Nacht an Lösungen arbeiten.

(Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der SPD)

Wenn Sie keine haben, außer das bisschen, was Sie hier aufgezählt haben – und das ist wirklich lächerlich –, dann stellen Sie doch wenigstens mehr Geld bereit. Ich weiß: Geld allein sei keine Lösung, ist dann immer Ihr Mantra. Aber Geld brauchen wir für bessere Bezahlung, für mehr Stellen, damit nicht jeder Cent umgedreht werden muss, damit nicht ständig Zeit in sinnlosen Projektanträgen wie die vom Zukunftspaket verschwendet wird, das übrigens ein Jahr lang mit 55 Millionen Euro Volumen läuft. Ihr eigener Bericht sagt: Wir brauchen mehr Geld, damit die dringend nötigen Angebote endlich möglich werden.

Als Nächstes heißt es dann immer, es läge bei den Kommunen, bei den Ländern. Aber durch das Spardiktat des Bundes, durch Ihre schwarze Null, durch Ihre heilige Schuldenbremse nehmen die Kommunen die billigsten Angebote mit dem absoluten Minimum an Leistungen. Und dann? Wo führt das hin? Werden Kinder und Jugendliche demnächst nur noch mit einem Sicherheitsdienst verwahrt, damit sie nicht stören? Das kann doch nicht wahr sein!

(Beifall bei der LINKEN)

Die gleiche Situation haben wir bei der offenen Jugendarbeit. Die Fachkräfte werden dort verheizt. Jede sechste Kommune plant übrigens, da noch weiter zu sparen. Und was liefert die Regierung? Sie haben das alle angesprochen – ich finde es wirklich unfassbar –: ein Zukunftspaket. Das klingt total nett, ist aber nichts als eine Projektfinanzierung für ein Jahr für 55 Millionen Euro, wenn wir diese Mental Health Coaches, für die es immer noch kein Konzept gibt, mit dazuzählen.

(Zuruf des Abg. Martin Reichardt [AfD])

Um das mal in Relation zu setzen: So viel kostet ein Kilometer der A 281 bei Bremen, die Sie ausbauen. Kinder – Autos: Die Prioritäten sind in dieser Koalition ziemlich klar. Das ist unfassbar!

(Beifall bei der LINKEN)

Zum Schluss. Es ist mir völlig unverständlich, dass Finanzminister Lindner sich in dieser Situation – natürlich ist er nicht da; hätte mich auch sehr überrascht – jetzt wirklich erdreistet, zu fordern, dass auch noch im Familienministerium gespart werden muss. Kinder und Jugendliche haben in der Pandemie auf so viel verzichtet; sie waren solidarisch. Und zum Dank passiert nichts. Diese Regierung ist für Kinder und Familien ein Totalausfall.

Schämen Sie sich!

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gereon Bollmann [AfD] – Enrico Komning [AfD]: Das stimmt!)