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Andrej Hunko: Gesamteuropäisches Haus bleibt die historische Aufgabe in Europa

Rede von Andrej Hunko,

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir reden heute über 60 Jahre Römische Verträge; aber noch kein Redner ist bislang auf diese Verträge eingegangen. Was waren denn die Römischen Verträge? Das waren zwei Verträge. Der erste Vertrag war der Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Ja, Frau Groden-Kranich, das war ein Elitenprojekt. Wenn man sich den Vertrag anschaut, dann sieht man das. Das ist ein Vertrag, der maßgeblich für große Konzerne geschrieben wurde.

(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh! – Ursula Groden-Kranich [CDU/CSU]: Wie bitte? Dann haben Sie mir gerade nicht zugehört!)

Das ist einer der Geburtsfehler der Europäischen Union.

Der zweite Vertrag, Herr Özdemir, war der Euratom-Vertrag, in dem es um die Schaffung einer mächtigen Atomindustrie in Europa ging. Es wundert mich, dass das alles von Ihrer Seite so gefeiert wird.

(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Von Ihrer Seite nicht, oder wie?)

– Den Euratom-Vertrag feiern wir nicht. Wir halten die Schaffung einer mächtigen europäischen Atomindustrie nicht für zielführend.

(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben nicht kapiert, was die Europäische Union ist!)

Aber wir halten es für zielführend und für eine große Errungenschaft, dass die Länder, die zwei Weltkriege gegeneinander geführt haben, miteinander kooperieren.

(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein Beispiel für eine Rede, die man am besten nicht hält! Schämen Sie sich für Ihren Auftritt!)

Wir halten Integration für zielführend. Das gilt für Frankreich, für Großbritannien, aber auch für Russland.

(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist so was von peinlich!)

Zu einem gemeinsamen europäischen Haus gehören auch eine Kooperation und der Frieden mit Russland. Das will ich sehr deutlich sagen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ja, es ist eine historische Leistung, dass es eine wirtschaftliche Integration gegeben hat.

(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unerträglich!)

Wir erkennen das an; es ist sehr gut. Aber es ist eben nur ein Teil Europas gewesen. Es waren am Anfang sechs Länder. Die Anzahl der Mitgliedsländer ist dann größer geworden. Aber Russland, ein Hauptopfer von zwei Weltkriegen, ist nach wie vor ausgeschlossen, und wir stehen vor einer neuen Konfrontation und einer neuen Aufrüstung in Europa; auch dies muss man sehr deutlich sagen. Wir wollen ein gemeinsames europäisches Haus, ein gesamteuropäisches Haus, und nicht einen neuen Kalten Krieg mit Russland.

(Beifall bei der LINKEN – Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Russland ist gut, und wir sind böse!)

Im Juli 1989 hat Michael Gorbatschow in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates diese Vision eines gemeinsamen europäischen Hauses vorgetragen. In den 90er-Jahren gab es eine historische Chance, es Wirklichkeit werden zu lassen. Leider ist das nicht eingetreten, sondern gescheitert, und das hat auch mit der NATO-Osterweiterung und den dann folgenden Reaktionen von russischer Seite zu tun. Es wird nach wie vor eine große historische Aufgabe sein, dieses gesamteuropäische Haus zu schaffen.

(Beifall bei der LINKEN – Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat Ihnen denn diese Rede geschrieben?)

Ein zweites Problem, auf das man hinweisen muss, besteht darin, dass sich ebenfalls in den 90er-Jahren der neoliberale Charakter der Europäischen Union verstärkt hat, so in den Verträgen von Maastricht und Lissabon. Es ist ein großes Problem in vielen europäischen Ländern, dass nach einer Bertelsmann-Studie gegenwärtig 118 Millionen Menschen von Armut betroffen sind und dass der Anteil der Vollzeit arbeitenden Menschen, die in Armut leben, wächst.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das hat doch nichts mit Europa zu tun!)

Das schafft natürlich den Boden für Rechtspopulisten. Der Rechtspopulismus ist die andere Seite des Neoliberalismus, seine Schattenseite, und diese Orientierung muss aufhören. Wir brauchen ein sozial gerechtes Europa, ein integratives Europa, sowohl sozial als auch geopolitisch.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn wir also über die Römischen Verträge reden, sollten wir auch über den Inhalt der Verträge reden und hier nicht nur Sonntagsreden halten. Ich halte das durchaus für sehr wichtig.

(Beifall bei der LINKEN)

Diese zwei Säulen, einerseits eine Überwindung des neoliberalen Charakters der Grundlagenverträge wie des Lissabon- und des Maastricht-Vertrages

(Zurufe der Abg. Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

und andererseits eine Entspannung und eine integrative Politik gegenüber dem Osten, umreißen die historische Aufgabe, vor der Europa steht. Ich glaube, darüber müssten wir ernsthaft diskutieren. Es ist gut, dass die Europäische Kommission jetzt Szenarien entwirft. Ich hielte es für wichtig, über diese Szenarien zu diskutieren und nicht nur Sonntagsreden zu halten. Wenn das nicht passiert – das sage ich hier auch sehr deutlich –, wird die Krisenhaftigkeit der Europäischen Union leider fortschreiten. Wir brauchen diese Debatte dringend.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der LINKEN)