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Amira Mohamed Ali: Soziale Sicherheit ist Voraussetzung dafür, dass wir gut durch die Krise kommen!

Rede von Amira Mohamed Ali,

Sehr geehrter Herr Präsident! Frau Bundeskanzlerin! Kolleginnen und Kollegen! Ja, richtig: Die Infektionszahlen steigen dramatisch. Es ist jetzt dringend notwendig, etwas zu tun. Ja, es ist auch richtig: Persönliche Kontakte müssen deutlich reduziert werden. Dazu wurden jetzt viele Maßnahmen vorgelegt, die sehr einschneidend sind. Aber ob diese Maßnahmen wirklich alle erforderlich sind, um die Infektionszahlen zu reduzieren, ist, so möchte ich sagen, zumindest noch nicht nachvollziehbar erklärt worden.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich persönlich habe zum Beispiel nicht verstanden, warum Sportplätze im Freien jetzt geschlossen werden müssen, wo doch gerade Aktivitäten im Freien mit weniger Risiken verbunden sind. Profifußball findet hingegen weiterhin statt, wenn auch ohne Zuschauer. Es ist wichtig, dass die Maßnahmen nachvollziehbar und transparent begründet werden, damit entsprechende Akzeptanz in der Bevölkerung vorhanden sein kann.

Ich möchte auch etwas zur Parlamentsbeteiligung sagen. Man kann ja juristisch unterschiedlicher Auffassung sein, ob das Parlament vorher hätte entscheiden müssen oder nicht – ich bin der Meinung, das Parlament hätte darüber entscheiden müssen –,

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

aber Sie müssen doch bitte zur Kenntnis nehmen, dass es für die Akzeptanz der Maßnahmen wesentlich besser ist, wenn die Debatte vor der Entscheidung hier in diesem Parlament stattfindet; das ist wichtig, um die Akzeptanz zu gewährleisten und zu erhöhen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Franziska Gminder [AfD])

Wichtig für die Akzeptanz der Maßnahmen – ich möchte jetzt auf die Folgen zu sprechen kommen; das ist heute noch viel zu kurz gekommen – ist eben auch, dass sie sozial abgefedert sind, dass dadurch niemand in eine Notlage gerät.

(Beifall bei der LINKEN)

Aber hier muss man leider feststellen: Mit Ihrer Politik, Frau Bundeskanzlerin, haben Sie genau das im ersten Lockdown leider nicht sichergestellt.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Stattdessen ist die Schere zwischen Arm und Reich und noch einmal kräftig auseinandergegangen. Und genau das droht sich jetzt zu verschärfen. Noch nie, auch nicht in der Finanzkrise, ist die Wirtschaftsleistung so stark eingebrochen wie im zweiten Quartal dieses Jahres. Wir haben aktuell immer noch rund 3,5 Millionen Menschen in Kurzarbeit. Das sind mehr als doppelt so viele wie auf dem Höhepunkt der Finanzkrise 2009. Die Einkommenseinbußen durch Kurzarbeit sind besonders für die Menschen, die ein niedriges Einkommen haben, existenzbedrohend. Und auch diejenigen, die mit dem geringeren Einkommen über die Runden kommen, haben Sorge um ihren Arbeitsplatz, um ihre Zukunft.

Wir haben schon im Frühjahr beantragt, dass das Kurzarbeitergeld auf 90 Prozent erhöht wird, im Niedriglohnbereich auf 100 Prozent. Ich muss sagen: Es war ein großer Fehler der Regierungskoalition, das abzulehnen.

(Beifall bei der LINKEN)

Genauso falsch war es, dass Sie den von uns beantragten Pandemiezuschlag für Menschen in Hartz IV und für Menschen in Grundsicherung in Höhe von 200 Euro pro Monat nicht realisiert haben.

Ich merke, auch jetzt ist von diesen Dingen in Ihren Plänen überhaupt nicht die Rede. Dabei wären diese Maßnahmen so wichtig, sie würden wirklich helfen.

(Beifall bei der LINKEN)

Das würde die Kaufkraft stärken, es wäre also konjunkturpolitisch sinnvoll, und es würde den Menschen vor allem Sicherheit geben, und genau das ist es doch, was wir besonders in dieser Krise brauchen.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Stattdessen wächst die Unsicherheit. Auch die Liste der Unternehmen, die Tausende Arbeitsplätze streichen wollen, wird immer länger. Allein in der Automobil- und Zulieferindustrie ist ein Abbau von weit über 50 000 Stellen angekündigt. Ich muss sagen: Jetzt rächt es sich doppelt, dass Sie den Strukturwandel in der deutschen Autoindustrie verschlafen haben. Wo ist Ihre Zukunftsstrategie für die deutsche Industrie? Ein weiteres Zuwarten können wir uns hier wirklich nicht erlauben, Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der LINKEN)

So ist es auch bei den Hilfen für kleine und mittlere Unternehmen, für Soloselbstständige, für Künstlerinnen und Künstler, für das Gaststättengewerbe. Die Bundesregierung konnte diesen Menschen ihre Existenzsorgen bisher nicht nehmen. In den letzten Hilfspaketen wurden ganze 25 Milliarden Euro Überbrückungshilfen versprochen. Stand heute ist davon gerade einmal 1 Milliarde Euro bewilligt worden; das sind nur 4 Prozent. Das heißt, die Bundesregierung hat es nicht geschafft, den überwiegenden Anteil dieser Hilfen da ankommen zu lassen, wo sie benötigt werden. Das geht nicht!

(Beifall bei der LINKEN)

Und jetzt stellen Sie in Aussicht, dass besonders betroffene Unternehmen, Restaurants, Konzertveranstalter, den ausgebliebenen Umsatz zum großen Teil erstattet bekommen sollen. Das klingt ja erst mal wie ein Schritt in die richtige Richtung; aber dann müssen Sie diesmal auch wirklich sicherstellen, dass die Hilfen passgenau sind, und vor allem, dass sie die Betroffenen erreichen, und zwar zeitnah.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich möchte jetzt noch auf einen weiteren Punkt hinweisen, über den heute noch nicht gesprochen worden ist; da trifft Sie wirklich ein großes Versäumnis, Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD: Sie haben es versäumt, die letzten Monate, die Sommermonate, dafür zu nutzen, unser Land auf die zweite Welle vorzubereiten. Denn die kommt nun wirklich nicht überraschend.

Schauen wir mal in die Schulen: Es ist wirklich gut – darüber bin ich sehr erleichtert –, dass sie offenbleiben sollen; ich glaube, darüber sind wir alle erleichtert. Aber sind die Schulen auf die zweite Welle vorbereitet?

(Anke Domscheit-Berg [DIE LINKE]: Nein!)

Warum hat die Bundesregierung die Zeit nicht genutzt, um gemeinsam mit den Ländern ein Konzept zu erarbeiten, das vorsieht, dass bundesweit die Klassenstärken deutlich reduziert werden? Das ist doch der zentrale Punkt.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Wie lange, meinen Sie, sollen die Kinder in den Schulen im herannahenden Winter bei offenen Fenstern in vollbesetzten Klassenräumen unterrichtet werden? So ist vernünftiger Infektionsschutz doch überhaupt nicht zu gewährleisten.

Schauen wir mal in den Pflegebereich. Um eine Überlastung unseres Gesundheitswesens zu vermeiden, braucht es vor allem eins: Wir brauchen mehr Pflegerinnen und Pfleger, und das wissen Sie.

(Beifall bei der LINKEN)

Trotzdem hat die Bundesregierung nicht dafür gesorgt, dass hier endlich die Löhne deutlich steigen, zum Beispiel durch die Einführung flächendeckender, allgemeinverbindlicher Tarifverträge für alle Pflegerinnen und Pfleger.

(Beifall bei der LINKEN)

Hier heißt es dann immer – Frau Bundeskanzlerin, auch Sie sagen das, und auch Bundesminister Spahn habe ich das sagen hören –: Na ja, durch höhere Löhne bekommen wir nicht mehr Pflegekräfte, zumindest nicht kurzfristig. – Aber das ist einfach falsch. Sie müssen doch einmal zur Kenntnis nehmen, wie viele Menschen diese Branche in den letzten Jahren verlassen haben, weil die Löhne mies sind, weil die Arbeitsbedingungen unzumutbar sind. Selbstverständlich wäre es durch deutlich höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen möglich, kurzfristig Menschen für die Pflege zurückzugewinnen.

(Beifall bei der LINKEN)

Aber dann muss man bereit sein, dafür Geld in die Hand zu nehmen. Es ist einfach fatal, dass Sie das nicht sind.

Fatal ist auch, dass Menschen, die in finanziellen Schwierigkeiten sind, jetzt, genau genommen seit Juli, wieder befürchten müssen, dass ihnen die Wohnung gekündigt und dass ihnen der Strom in der Wohnung abgeschaltet wird. Auch auf unser Wirken hin gab es einen Ausschluss von Mietkündigungen und Stromsperren bis zum 30. Juni. Wir haben beantragt, dass diese Regelung verlängert wird. Aber das haben Sie von Union und SPD allen Ernstes abgelehnt.

(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Das ist die Wahrheit! Genau!)

Sie lassen ernsthaft zu, dass Menschen mitten in dieser Situation, mitten in einer Pandemie der Strom in ihren Wohnungen abgeschaltet werden kann – bei einem drohenden, herannahenden Winter. Ich finde das unglaublich!

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Denken Sie da mal bitte an Ihr christlich-soziales Gewissen.

Und übrigens: Zu einem reinen Gewissen gehört auch, dass man die Wahrheit darüber sagt, wer am Ende die Kosten dieser Krise tragen wird.

(Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Sehr richtig!)

Und diese Kosten sind immens. Auf Anfrage meiner Fraktion bezifferte das Bundesfinanzministerium sie für dieses und nächstes Jahr auf gigantische 1,5 Billionen Euro; das sind 1 500 Milliarden Euro. Und darin sind die Kosten für diesen zweiten Lockdown noch nicht berücksichtigt.

Wenn alles so bleibt, wenn Sie nichts verändern, dann wird dieses Geld über die Kürzung von Sozialleistungen, Rentennullrunden, Steuererhöhungen für kleine und mittlere Einkommen wieder reingeholt werden. Das müsste nicht so sein. Es ist dringend notwendig, diejenigen, die extrem hohe Einkommen haben, gerecht an der Finanzierung dieser Krise zu beteiligen. Wir brauchen eine Vermögensabgabe für Multimillionäre und Milliardäre. Das ist dringend notwendig, um Sozialabbau zu vermeiden.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich fasse zusammen. Die Coronamaßnahmen müssen nachvollziehbar und gut begründet sein, damit sie akzeptiert werden können. Wir brauchen soziale Sicherheit. Es muss alles sozial gut abgefedert werden. Niemand darf durch diese Krise in Not geraten. Wenn wir das schaffen, dann kommen wir auch gemeinsam gut und sicher hier durch.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)