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Amira Mohamed Ali: Die Bundesregierung knickt vor den starken und mächtigen Lobbys ein

Rede von Amira Mohamed Ali,

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Als ich letzte Woche von einem erneuten Coronaausbruch in einem Schlachthof der Firma Tönnies gehört habe, da habe ich, ehrlich gesagt, gedacht, ich höre nicht richtig. Das passiert ernsthaft schon wieder, nachdem wir über den Sommer so viele Ausbrüche in Schlachthöfen hatten? Das kann doch wohl nicht wahr sein! Wie kann das sein?

Jetzt werden Sie sagen – Sie haben es gerade angesprochen, Herr Mützenich –, Sie haben ja was getan; Sie haben ja jetzt ein Gesetz auf den Weg gebracht, das ab Januar Werkverträge in den Schlachthöfen verbieten soll. -Okay, gut.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Aber wo ist in diesem Haushalt das Geld für die Länder, damit das geschehen kann, was wirklich notwendig ist, nämlich mehr Personal in den Kontrollbehörden einzustellen? Das müsste doch geschehen.

(Beifall bei der LINKEN)

Aber das passiert nicht.

Dieses Beispiel ist leider typisch für das Handeln dieser Bundesregierung. Die Probleme sind vollkommen offensichtlich, sie werden angeblich erkannt, aber sie werden dann trotzdem nicht gebannt. Der Grund ist folgender: Diese Bundesregierung knickt weiterhin konsequent vor den Interessen der starken und mächtigen Lobbys ein, selbst in diesen dramatischen Zeiten. Das ist vollkommen unverantwortlich.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich frage ernsthaft: Für wen regieren Sie eigentlich? Für die Menschen in unserem Land, die jeden Tag den Laden am Laufen halten, oder für die, die einzig und allein ihren Profit im Blick haben, und zwar Profit um jeden Preis, Leute wie Clemens Tönnies?

(Beifall bei der LINKEN)

Was sagen Sie denn den wahren Leistungsträgern unserer Gesellschaft, zum Beispiel den Krankenpflegerinnen und ‑pflegern, die schon in der ersten Pandemiewelle mit zig Überstunden an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gegangen sind und die jetzt weiter jeden Tag darum kämpfen, Menschenleben zu retten? Was sagen Sie ihnen? Was haben Sie für sie getan?

Frau Bundeskanzlerin, wir erinnern uns alle noch gut an Ihren Auftritt damals in der Wahlarena 2017, als Ihnen der Pfleger Alexander Jorde in aller Deutlichkeit gesagt hat, wie dramatisch die Lage in den Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen damals schon war. Sie haben das so zur Kenntnis genommen; geschehen ist nichts. Offen gesagt hat mich das damals nicht überrascht; ich hatte von dieser Bundesregierung nichts anderes erwartet. Aber – das muss ich Ihnen ehrlich sagen – als wir im Frühjahr hier in diesem Hause alle aufgestanden sind und für die wahren Helden dieser Krise applaudiert haben, da hatte ich tatsächlich Hoffnung, und zwar die Hoffnung darauf, dass jetzt endlich in Ihnen die richtige Erkenntnis gereift sein könnte, nämlich dass die Pflegerinnen und Pfleger, die Beschäftigten im Einzelhandel, die Lkw-Fahrer in der Logistik, die Paketzustellerinnen und Paketzusteller – also alle, die, wie Sie ja selber sagen, den Laden am Laufen halten – endlich das bekommen, was ihnen wirklich zusteht, nämlich anständige Löhne, anständige Arbeitsbedingungen.

(Beifall bei der LINKEN)

Aber das ist noch nicht gekommen. Im Einzelhandel sind die Einkommen während der Krise sogar gesunken. Das ist doch wirklich unglaublich!

(Zuruf von der LINKEN: Wahnsinn!)

Was meinen Sie, Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD, wie sich diese Coronahelden, die hier von Ihnen vor einem halben Jahr noch beklatscht worden sind, heute von Ihnen behandelt fühlen? Es ist wirklich ein fatales Signal, nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die gesamte Gesellschaft, dass Sie ernsthaft keine Mittel und Wege gefunden haben, für echte Anerkennung zu sorgen: für höhere Löhne, für bessere Arbeitsbedingungen. Das wäre dringend nötig gewesen.

(Beifall bei der LINKEN)

Aber nicht einmal die spärlichen Coronaprämien für die Pflegekräfte sind bei allen angekommen. Insbesondere Beschäftigte in privatisierten Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen haben oft keinen Cent gesehen. Ist das Ihre Initiative für mehr Pflegekräfte, die wir dringend brauchen? Das ist doch wirklich ein Hohn.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir wissen, dass sich viele Pflegerinnen und Pfleger in den letzten Jahren ausgebrannt und frustriert aus diesem Beruf verabschiedet haben. Natürlich könnte man jetzt kurzfristig durch deutlich höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen diese Menschen für die Pflege zurückgewinnen. Wir brauchen flächendeckende Tarifverträge, wir brauchen auch Bonuszahlungen, die wirklich ankommen. Das wäre jetzt richtig.

(Beifall bei der LINKEN)

Richtig wäre auch, endlich zu erkennen, dass Ihr Privatisierungskurs im Gesundheitswesen ein Irrweg ist.

(Beifall bei der LINKEN)

Es geht nicht, dass in Krankenhäusern, in Pflegeeinrichtungen gespart wird, damit private Investoren ihren Schnitt machen können. Schluss damit! Das Gesundheitswesen gehört konsequent in öffentliche Hand.

(Beifall bei der LINKEN)

Seit über einem Monat sterben täglich zwischen 300 und 500 Menschen an den Folgen von Covid-19, teilweise nach einem langen und qualvollen Überlebenskampf. Hinter jedem dieser Toten steht ein persönliches Schicksal, stehen trauernde Familien und Angehörige. Die Situation ist bereits jetzt dramatisch. Deshalb muss doch endlich alles darangesetzt werden, die Situation in den Krankenhäusern zu verbessern.

Das gilt auch für die Pflegeeinrichtungen.

(Beifall bei der LINKEN)

Bereits jetzt mussten einige Pflegeheime wieder einen totalen Besuchsstopp verhängen. Zum Teil ist nicht einmal Sterbebegleitung möglich. Das ist für die Betroffenen und für die Angehörigen schier unerträglich. Und es ist eine Tatsache, die von Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, und von den Kolleginnen und Kollegen der Regierung immer verschwiegen wird, wenn Sie sich hierhinstellen und über die furchtbare Lage in den Pflegeeinrichtungen reden: Selbstverständlich hat die Notwendigkeit von Besuchsverboten und anderen einschneidenden Maßnahmen auch etwas mit dem Personalmangel und der schlechten Ausstattung der Pflegeeinrichtungen zu tun.

(Beifall bei der LINKEN)

Vieles müsste nicht so sein, wenn Sie bereit wären, das Geld auch unverzüglich an die richtigen Stellen zu geben. Es ist fatal, dass Sie das nicht tun.

Und, Herr Finanzminister, es ist auch fatal, dass Sie zwar riesige Summen zur Verfügung stellen, aber dass diese nicht zielgerichtet und effektiv eingesetzt werden, und vor allem, dass sie nicht da ankommen, wo sie dringend gebraucht werden. Viele, denen jetzt Einkünfte und Umsätze wegen der notwendigen Infektionsschutzmaßnahmen weggebrochen sind, brauchen sofort Hilfe. Aber Ihre Soforthilfen, Herr Scholz und Herr Altmaier, sind leider viel zu oft Zu-spät-Hilfen. Die Betroffenen können gerade einmal darauf hoffen, dass die für November zugesagten Hilfen im Januar endlich ausgezahlt werden; vielleicht gibt es jetzt einen kleinen Abschlag. So sichert man keine Existenzen, so schafft man keine Sicherheit.

Wie müssen sich die vielen Hoteliers, die Restaurantbesitzer, die Veranstalter, die Künstlerinnen und Künstler, die Soloselbstständigen fühlen, die jetzt Angst vor der Pleite haben müssen, weil Ihre Hilfen nicht ankommen? Wochenlang konnten nicht mal Anträge gestellt werden, weil Sie die entsprechende Homepage nicht programmieren konnten. Das ist doch wirklich ein Armutszeugnis.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

An anderer Stelle können Sie schnell sein, das haben Sie ja gezeigt, zum Beispiel bei den Soforthilfen für die Lufthansa. Das Milliardenpaket war schnell geschnürt, aber natürlich ohne diese Hilfen daran zu koppeln, dass auch die Arbeitsplätze gesichert werden. Dabei hätten Sie genau das tun können und auch müssen.

(Beifall bei der LINKEN)

Jetzt sollen bei Lufthansa weltweit 29 000 Stellen bis Jahresende abgebaut werden, 9 000 davon in Deutschland. Ihre Hilfen sollen offensichtlich vor allem die Eigentümer und Aktionäre von Lufthansa schützen, aber nicht die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das ist doch wirklich unglaublich.

(Beifall bei der LINKEN)

Aber leider ist das nichts Neues. Kolleginnen und Kollegen von der Regierung, seit Jahren schon driftet unsere Gesellschaft immer weiter auseinander, und daran ist Ihre Politik schuld. Während Altersarmut wächst, während immer mehr Menschen in unsicheren Arbeitsverhältnissen stecken, während die Angst vor dem sozialen Abstieg immer weitere Teile der Bevölkerung erfasst, haben Sie vor allem ein offenes Ohr für die Interessen der mächtigen Lobbyisten. Das ist Ihre gesamte Amtszeit hindurch schon so, Frau Bundeskanzlerin. Egal ob die Automobilindustrie beim Dieselabgasskandal oder die Banken im Cum/Ex-Skandal: Immer konnten sich die mächtigen Konzerne und ihre Manager auf die Rückendeckung dieser Regierung verlassen. Und diejenigen, die eigentlich Ihre Unterstützung bräuchten, zum Beispiel die vielen Millionen Menschen, die zum Mindestlohn arbeiten müssen, die speisen Sie bestenfalls mit Brotkrumen ab, aktuell zum Beispiel mit einer mickrigen Mindestlohnerhöhung um gerade mal 15 Cent pro Stunde ab Januar nächsten Jahres. Das lässt wirklich tief blicken.

Ihre Politik treibt seit Jahren den Keil der sozialen Spaltung immer tiefer in unsere Gesellschaft. So machen Sie auch in dieser Pandemie weiter, und das ist wirklich brandgefährlich.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir haben momentan 2,5 Millionen Menschen in Kurzarbeit, die Tendenz ist steigend. Für viele reicht das Kurzarbeitergeld eben nicht zum Leben aus oder um den Lebensstandard zu sichern. Eine halbe Million Menschen sind bereits jetzt durch die Coronakrise arbeitslos. Auch hier ist die Tendenz leider steigend. Fast 1 Million Minijobs sind in dieser Krise bereits weggefallen. Davon betroffen sind oft Studierende, Rentnerinnen und Rentner und Menschen, die auf Hartz IV angewiesen sind. Sie haben jetzt keine Möglichkeit mehr, ihr spärliches Einkommen aufzubessern. Das ist ein unhaltbarer Zustand. Hat die Bundesregierung dafür gesorgt, dass auch Minijobber Kurzarbeitergeld erhalten? – Nein. So kann man mit Menschen wirklich nicht umgehen.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Wir brauchen eine viel bessere Unterstützung einkommensschwacher Familien, wir brauchen einen Pandemiezuschlag auf niedrige Renten und auf Hartz IV. Nichts davon steht in Ihrem Haushalt. Das ist unverantwortlich.

(Beifall bei der LINKEN)

Mit den sinkenden Einkommen wächst auch die Gefahr der Überschuldung. Bereits vor der Pandemie betraf das fast jeden zehnten Bürger. Wir brauchen dringend eine flächendeckende, kostenlose Schuldnerberatung. Das bisschen, was Sie jetzt für die Schuldnerberatung in Ihrem Haushalt zur Verfügung stellen, sind wieder allenfalls Brotkrumen. Es reicht bei Weitem nicht aus.

Aber damit nicht genug. Das Nächste, was ich jetzt sage, habe ich hier in den letzten Wochen schon einige Male gesagt, aber ich sage es immer wieder, weil es wirklich ein Skandal ist: Seit Mitte dieses Jahres ist es wieder möglich, dass Menschen, die ihre Miete aufgrund von coronabedingten Einkommensverlusten nicht zahlen können, die Wohnung gekündigt wird. Außerdem erlauben Sie allen Ernstes, dass milliardenschwere Energiekonzerne wieder Stromsperren verhängen können. Das heißt konkret, dass Menschen, die ihre Stromrechnung nicht zahlen können – und da reicht ein Rückstand von gerade einmal 100 Euro –, der Strom in ihrer Wohnung abgeschaltet werden darf.

Sie schwadronieren hier lang und breit darüber, dass allen schöne Feiertage ermöglicht werden sollen. Und dann lassen Sie so etwas zu? Ich finde das unglaublich.

(Beifall bei der LINKEN)

Kollegen von der Union, Sie können das „C“ in Ihren Parteinamen wirklich streichen, wenn Sie so etwas zulassen, und dass Sie von der SPD da mitmachen: Da fehlen mir wirklich die Worte.

Genauso fassungslos macht mich, dass Sie in dieser historischen Krise, in dieser Not, die viele Menschen trifft, allen Ernstes den Rüstungsetat um 1,16 Milliarden Euro auf gigantische 46,8 Milliarden Euro anheben. Das ist mehr als das Doppelte dessen, was für Bildung und Forschung vorgesehen ist. Das ist doch wirklich unglaublich.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie halten sogar weiterhin an dem Irrsinn fest, das NATO-Rüstungsziel von 2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes zu erfüllen, und das bedeutet, dass in den kommenden Jahren sogar noch deutlich mehr Geld unnötig verpulvert werden soll; denn es ist unnötig.

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Es geht um die deutsche Sicherheit!)

Oder kann mir hier irgendjemand erklären, wie uns Kriegsgerät bei der Bewältigung der Coronakrise helfen soll?

(Beifall bei der LINKEN)

Und das möchte ich jetzt einmal in Richtung der Grünen sagen: Wenn Sie als ehemalige Friedenspartei jetzt in diesen Chor der Aufrüstung mit einstimmen, dann habe ich das Gefühl, dass Sie Ihre Sonnenblume entwurzeln, um sie besser in den Wind hängen zu können.

(Beifall bei der LINKEN – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach, Frau Mohamed Ali! – Gegenruf des Abg. Jan Korte [DIE LINKE]: Ja, ist doch so!)

Wir als Linke sagen klar und deutlich Ja zur Abrüstung. Dieses Geld sollte in Krankenhäuser fließen, und es sollte für ein besseres Bildungssystem eingesetzt werden; denn hier wird es viel dringender benötigt. Die Situation an den Schulen ist dramatisch.

(Beifall bei der LINKEN)

Investieren Sie das Geld besser in eine gute Zukunft als in den nächsten Krieg! Und für eine gute Zukunft brauchen wir allgemein mehr Investitionen in die soziale Sicherung, in Infrastruktur und in Forschung. Denn wie wollen Sie sonst die notwendige Energie- und Verkehrswende bewerkstelligen? Wie wollen Sie sonst die Digitalisierung schnell genug voranbringen? Im Moment ist für viele Menschen auf dem Land an Homeoffice oder Homeschooling überhaupt nicht zu denken.

Aber davon sieht Ihr Haushalt nichts vor. Kein Wunder, Sie haben ja noch nicht mal gesagt, wie Sie die gigantischen Kosten der Coronakrise finanzieren wollen. Sie wollen ja die gigantischen Schulden von aktuell fast 300 Milliarden Euro zurückzahlen; Sie legen auch einen Tilgungsplan vor. Aber woher das Geld kommen soll, sagen Sie nicht. Und das hat einen Grund: Im nächsten Jahr ist Bundestagswahl. Die Bundesregierung will nicht zugeben, dass das Geld nach der Wahl durch Steuererhöhungen für die Bezieher niedriger und mittlerer Einkommen, Nullrunden bei der Rente und Sozialkürzungen wieder hereingeholt werden soll. Aber genau das darf nicht geschehen.

(Beifall bei der LINKEN)

Deshalb fordert Die Linke eine einmalige Vermögensabgabe für superreiche Multimillionäre und Milliardäre nach dem Vorbild des Lastenausgleichs nach dem Zweiten Weltkrieg.

(Beifall bei der LINKEN)

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat für die Linksfraktion errechnet, dass eine solche Abgabe machbar ist. Schon eine sehr moderate Form, die gerade einmal die reichsten 0,7 Prozent der Bevölkerung überhaupt belasten würde, würde dreistellige Milliardenbeträge einbringen, und das wäre wirklich nur fair; denn viele Superreiche sind in dieser Krise noch reicher geworden, weil sie zum Beispiel Aktienpakete von Krisengewinnern wie Amazon und Co halten. Außerdem ist es wirklich nur recht und billig, wenn diesmal endlich diejenigen zur Kasse gebeten werden, die jahrelang insbesondere durch Ihre Steuergesetzgebung privilegiert worden sind.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn wir gut durch diese Krise kommen und gestärkt aus ihr hervorgehen wollen, dann brauchen wir endlich eine vernünftige Politik, die sich nicht von den Interessen der mächtigsten Lobbyisten instrumentalisieren lässt. Wir als Linke kämpfen weiter für einen echten Politikwechsel, damit die Folgen der Pandemie unsere Gesellschaft nicht weiter spalten.

Danke schön.

(Anhaltender Beifall bei der LINKEN)