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Abschiebungshaft und Inhaftierungspraxis überprüfen

Rede von Sevim Dagdelen,

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Dokumentationsstelle der Antirassistischen Initiative Berlin berichtet für die Jahre 1993 bis 2006 von 50 Flüchtlingen, die in deutschen Abschiebehaftanstalten starben. 399 Häftlinge hätten sich bei dem Versuch, sich umzubringen, infolge von Hungerstreiks oder aus Protest gegen ihre drohende Abschiebung selbst zum Teil schwer verletzt.
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
So heißt es in Art. 1 Grundgesetz. Der Eingriff in die Freiheit der Person ist im demokratischen Rechtsstaat einer der massivsten staatlichen Eingriffe in die Menschenrechte, der nur unter sehr begrenzten Bedingungen überhaupt statthaft ist.
(Reinhard Grindel (CDU/CSU): Freiwillige Ausreise, dann passiert nichts!)
Doch im Umgang mit Flüchtlingen wurde und wird in der Bundesrepublik etwas ganz anderes deutlich. Da werden Grundrechte und einige wesentliche, von der Bundesrepublik unterzeichnete und anerkannte Menschen- und Völkerrechtsstandards in vielen Fällen nicht gewährleistet bzw. nicht umgesetzt.
(Reinhard Grindel (CDU/CSU): Wie wäre es mit einer freiwilligen Ausreise?)
Die Würde von Flüchtlingen in Deutschland ist antastbar, ihre Freiheit ist verletzlich und ihre Gleichheit ist anfechtbar. Das ganze gegenwärtige System der Abschiebehaft und der Abschiebepraxis Freiheitsentzug ohne Straftatbestand, Strafe ohne Rechtsgrund und ohne Rechtsschutz ist in einem sich demokratisch nennenden Staat das eklatanteste Beispiel eines staatlichen Rassismus.
(Reinhard Grindel (CDU/CSU): Unglaublich!)
Die Linke lehnt die Inhaftierung von Menschen, die ausschließlich zur Sicherung einer Verwaltungshandlung erfolgt, grundsätzlich ab und fordert, die Abschiebehaft als Mittel zur Durchsetzung von Abschiebungen abzuschaffen.
(Beifall bei der LINKEN)
Abschiebehaft ist unverhältnismäßig und stempelt Migrantinnen und Migranten zu Kriminellen ab.
(Reinhard Grindel (CDU/CSU): Das sind sie ja auch! Sie können doch freiwillig ausreisen!)
Das stimmt einfach nicht. Das, was Sie hier behaupten, ist grottenfalsch und unwahr.
Aber nicht nur das: Abschiebehäftlinge, die sich weder einer Straftat schuldig gemacht haben noch einer solchen verdächtigt werden, werden schlechter gestellt
(Reinhard Grindel (CDU/CSU): Sie sind zur Ausreise verpflichtet!)
das ist keine Straftat
(Beifall des Abg. Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))
und behandelt als verurteilte Straftäterinnen und Straftäter. - Herr Grindel, Sie sollten sich erst einmal im Strafvollzugsgesetz und auch im Strafrecht kundig machen. - Dies kritisierte das Antifolterkomitee des Europarates schon im Jahr 2000. Daran hat sich bis zum letzten Besuch Ende 2005 nichts geändert. Nach wie vor bleibt die Kritik bestehen. Keine der besuchten Anstalten verfüge ich zitiere „über die personelle oder materielle Ausstattung zur Schaffung von Haftbedingungen, wie sie dem rechtlichen Status von Abschiebehäftlingen angemessen“ wären, etwa in Bezug auf Besuchsrechte, den Hofgang, den Zugang zu Medien und auch die Beschäftigungsmöglichkeiten.
Leider sind wir heute nicht hier, um über die Abschaffung der Abschiebehaft zu diskutieren. Dazu fehlt es in diesem Haus wie jetzt von der CDU/CSU noch einmal dargelegt offenkundig an einer humanistisch gesonnen Mehrheit.
(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Iris Gleicke (SPD): Na, na!)
Die Damen und Herren der Großen Koalition wollen Asylsuchende in Zurückweisungshaft nehmen, was eine klare Verletzung internationaler Standards ist. Flüchtlinge dürfen während des Asylverfahrens generell nicht inhaftiert werden. Auch die von der Regierungskoalition gestern beschlossene Durchbeförderung ist glatter Rechtsbruch. Eine Inhaftierung ohne richterliche Anordnung ist mit Art. 104 Grundgesetz da sollten Sie einmal bei Gelegenheit hineinschauen unvereinbar.
(Beifall bei der LINKEN)
Auch wenn ich es sonst mit Che Guevaras Leitsatz halte „Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche“ in Ihrem Falle halte ich menschenrechtlich Hopfen und Malz für verloren. Was Sie im Rahmen der Umsetzung der aufenthalts- und asylrechtlichen EU-Richtlinien gestern vorgestellt haben, ist nichts anderes als „demokratisch abgesicherte Barbarei“,
(Widerspruch bei der CDU/CSU und der SPD Helmut Brandt (CDU/CSU): „Barbarei“ ist eine Unverschämtheit! - Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Ein bisschen mäßigen müsste sich die Dame schon!)
wie es Heiko Kauffmann, Vorstandsmitglied von Pro Asyl, bezogen auf die Abschiebungshaft sagte.
(Unruhe Zuruf des Abg. Reinhard Grindel (CDU/CSU))
Frau Präsidentin, ich kann so nicht weitermachen.
(Lachen und Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)
Könnten Sie vielleicht für Ruhe sorgen?
Umso erfreulicher ist es, dass am 1. September 2006 der Aachener Friedenspreis an den Verein „Hilfe für Menschen in Abschiebehaft Büren e.V.“ verliehen wurde. Ziel der Auszeichnung war es, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf ebendiese immer rigoroser und unmenschlicher werdende Abschiebungspolitik zu lenken, der die Abwehr von Flüchtlingen wichtiger ist als der Schutz bedrohter Menschen in diesem Land. Laudator Günter Wallraff kritisierte die deutschen Abschiebegefängnisse als „Institutionen der Unmenschlichkeit“. Damit steht er nicht allein.
(Beifall bei der LINKEN)
Darum geht es auch in unserem Antrag. Es geht um die Wahrung von Mindeststandards in der Inhaftierungspraxis. Es ist aus menschenrechtlicher Sicht einfach unzumutbar, wenn Minderjährige, traumatisierte und alte Menschen, Schwangere sowie Menschen mit Behinderungen inhaftiert werden. Es ist unzumutbar, dass die medizinische und psychologische Betreuung nur rudimentär besteht. Es ist auch unzumutbar, viel zu häufig, zu leichtsinnig und auch viel zu lange in einigen Fällen bis zu 18 Monaten in Abschiebungshaft genommen zu werden, ohne dass die Abschiebung unmittelbar bevorsteht. Das ist untragbar. Bei Ihnen ist die Abschiebungshaft eben nicht Ultima Ratio zur Durchsetzung einer Ausreiseverpflichtung. Wenigstens daran möchten wir Sie erinnern, und das erwarten wir von Ihnen.
Danke sehr.
(Beifall bei der LINKEN)