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Transparente und zukunftsweisende Reform der Kinder- und Jugendhilfe statt Kürzungen von Leistungen und Abbau von Rechtsansprüchen

Positionspapier,

Positionspapier des Arbeitskreises Kultur, Wissen, Lebensweisen zur SGB VIII-Novelle

CDU, CSU und SPD haben sich im Koalitionsvertrag erneut auf eine Reform des Kinder- und Jugendhilfegesetzes verständigt. Als Grundlage für die Reform soll das in der letzten Wahlperiode stark kritisierte und letztlich gescheiterte sogenannte Kinder- und Jugendstärkungsgesetz dienen. Die Bundestagsfraktion DIE LINKE hat in der letzten Wahlperiode eng mit Kritiker*innen aus Verbänden, Fachwelt, Wissenschaft und Gewerkschaften sowie mit Beschäftigten zusammengearbeitet. Allen Beteiligten ist es gemeinsam gelungen, die Zerschlagung zentraler Eckpfeiler des Kinder- und Jugendhilfegesetzes zu stoppen. DIE LINKE im Bundestag wird auch in der aktuellen Wahlperiode den Prozess intensiv begleiten und sich gegen Kürzungen von Leistungen und Abbau von Rechtsansprüchen engagieren.

1. Ausgangslage: SGB VIII – Aufgaben und Umsetzungsdefizite

Das 1991 in Kraft getretene Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) ist in seiner Gesamtheit ein hochkomplexes Gesetzeswerk, das dutzende Angebote und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe vereint und das junge Menschen und Familien beim Aufwachsen begleiten. Das bekannteste Angebot ist die Kita. Aber auch Jugendzentren, Schülerclubs, Familienberatungsstellen, Strukturen des Kinderschutzes, Jugendsozialarbeit und -berufshilfe, Förderung von Jugendverbänden, Jugendbildung, Ferienfreizeiten sowie umfangreiche Unterstützungssysteme für Familien in Krisensituationen bis hin zu Pflegefamilien, Kinderheimen und Jugendwohngruppen gehören in den Aufgabenkatalog des SGB VIII; dazu gehören außerdem die Versorgung und Betreuung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz formuliert Bildungsaufträge, leistet einen erheblichen Beitrag zur Sicherung von Kinderrechten und trägt dazu bei, armutsbedingte Benachteiligungen zu reduzieren und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen.

Grundlage für eine funktionierende Kinder- und Jugendhilfe ist in der Arbeit mit ihren Adressat*innen regelmäßig das persönliche Vertrauensverhältnis. Dies erfordert Fachlichkeit auf hohem Niveau. Wo die Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe gut ausgestattet sind, greifen die komplexen Strukturen der Angebote wie Zahnräder ineinander und bieten umfassenden Halt im Rahmen der öffentlichen Daseinsvorsorge.

Dies ist aber nicht überall der Fall. Vielerorts wird der Geist des Gesetzes nicht gelebt und das Gesetz nicht in seiner Komplexität umgesetzt. Es werden Angebote vorenthalten, indem sie als sogenannte freiwillige Leistungen entwertet werden oder indem gesetzeswidrig gehandelt wird. Eine Besonderheit dieses Sozialgesetzbuches ist nämlich, dass es zwar ein Bundesgesetz ist, die Umsetzung aber durch die Kommunen und ihre Jugendämter in Zusammenarbeit mit den örtlichen Akteuren und freien Trägern erfolgt. Für die damit verbundenen Kosten müssen überwiegend die Kommunen aufkommen. Größter Kostentreiber ist der Kitaausbau, gefolgt vom Kinderschutz und der Versorgung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. Die Verweigerung des Bundes, sich an diesen Kosten angemessen zu beteiligen, brachte viele Kommunen an den Rand der finanziellen Belastbarkeit. Der Druck, Einsparpotenzial in der Kinder- und Jugendhilfe auszuloten, wuchs. Zudem hat eine harte Kürzungspolitik zugunsten der „schwarzen Null“ und aufgrund leerer kommunaler Kassen vielerorts bereits in den 90er- und 00er-Jahren große Lücken hinterlassen. Auch Fachlichkeit und Professionalität haben darunter gelitten, ebenso das für die erfolgreiche Arbeit erforderliche Vertrauensverhältnis in die Kinder- und Jugendhilfe.

Dementsprechend unterschiedlich wird das SGB VIII von den Kommunen umgesetzt. Von dem Verfassungsziel, gleichwertige Lebensverhältnisse im Bundesgebiet herzustellen, ist der Bereich der Kinder- und Jugendhilfe derzeit weit entfernt.

2. Die gescheiterte Reform – das sogenannte Kinder- und Jugendstärkungsgesetz

Mit dem Kinder- und Jugendstärkungsgesetz plante die Bundesregierung mit über 80 Einzelveränderungen den bislang größten Eingriff in das Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII). Vorgesehen waren unter anderem ein massiver Abbau von Rechtsansprüchen von Familien, Kindern und Jugendlichen, insbesondere im Bereich der Krisenunterstützung. Die Selbstorganisation von jugendlichem Engagement sollte erschwert, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in schlechter ausgestatteten Parallelsystemen geparkt sowie strittige Vorhaben im Bereich Kinderschutz und Pflegefamilienwesen umgesetzt werden. Gleichzeitig hätte der Verwaltungsaufwand zulasten der Arbeit mit den Menschen weiter zugenommen. Praktizierte institutionalisierte Gesetzesbrüche, z. B. im Bereich der Unterstützung von Familien in Krisensituationen oder der Hilfen für junge Erwachsene, sollten zur Gesetzesnorm und damit legalisiert werden.

Dementsprechend groß war das Entsetzen in der Fachwelt. Das federführende Familienministerium (BMFSFJ) war mit einer geballten fachlichen Opposition unterschiedlichster Akteure konfrontiert und einer starken Welle der Kritik ausgesetzt. Mit jedem weiteren Arbeits- bzw.  Referentenentwurf wuchs das Misstrauen gegenüber dem Ministerium. Neben ausgewogener breiter fachlicher und juristischer Kritik wurde auch von einer „Verhartzung“ der Jugendhilfe, einer Entfachlichung und Deprofessionalisierung, von Neoliberalisierung, von einer „Deform“ bzw. einem Sparpaket gesprochen. Im Zentrum der Kritik stand ebenso das bis dato ungewohnt intransparente Verfahren des Ministeriums, welches hiermit eine bewährte Tradition des Austausches und der Abstimmung bei Gesetzesänderungen in der Kinder- und Jugendhilfe aufgekündigt hatte. Damit vollzog des BMFSFJ einen Bruch mit weiten Teilen der Fachwelt.

Der geballte Widerstand zeigte Erfolg: Der Gesetzentwurf wurde im Bundestag im Juni 2017 massiv abgeschwächt, eine Verabschiedung im Bundesrat ist nicht absehbar. Damit kann das Gesetz als gescheitert betrachtet werden.

3. Aus Fehlern nichts gelernt

CDU, CSU und SPD haben sich im Koalitionsvertrag auf eine Neuauflage der Reform des Kinder- und Jugendhilfegesetzes auf Grundlage des in der letzten Wahlperiode gescheiterten Kinder- und Jugendstärkungsgesetz verständigt. Das Festhalten der Bundesregierung am sogenannten Kinder- und Jugendstärkungsgesetz sorgte vielerorts für Entsetzen und Ungläubigkeit. Das Misstrauen gegenüber dem BMFSFJ ist entsprechend groß.

Das BMFSFJ reagiert auf die Kritik am Kinder- und Jugendstärkungsgesetz und dem Verfahren in der letzten Wahlperiode und kündigt ein geordnetes Verfahren mit Beteiligungsmöglichkeiten und Transparenz an. Mit dem im November 2018 gestarteten Dialogverfahren „Mitreden – Mitgestalten“ (www.mitreden-mitgestalten.de) sollen alle Akteure und Interessierten eingebunden werden. Eine zentrale Rolle im Dialogverfahren nimmt eine Arbeitsgruppe mit ca. 50 Mitgliedern ein. Diese AG der 50 tagt nach einer konstituierenden Sitzung im Januar 2019 je einmal zu den vier Themenschwerpunkten, die bereits im Kinder- und Jugendstärkungsgesetz kritisiert wurden: Kinderschutz (12.02.2019), Inklusion (04.04.2019), Fremdunterbringung (11.06.2019) und Sozialraum (17.09.2019). Mittels Online-Konsultationen und Interviews soll im Vorfeld der Sitzungen eine Beteiligung sichergestellt werden. Dabei sollen jeweils Ergebnisse der Online-Konsultationen und Interviews, des Dialogforums Pflegekinderhilfe, der AG Kinder psychisch kranker Eltern, des Dialogforums Zukunft der Kinder und Jugendhilfe, des Dialogforums Bund trifft kommunale Praxis sowie „relevante“ Forschungsarbeiten miteinfließen. Alle Ergebnisse und Arbeitspapiere der AG sollen veröffentlicht werden. Auch ein Newsletter ist geplant.

Schon vor der konstituierenden Sitzung der AG der 50 steht das Dialogverfahren in der Kritik. Die Besetzung der AG wird als intransparent wahrgenommen, viele Interessierte wurden nicht berücksichtigt. Die AG ist in die folgenden sechs Säulen gegliedert: I Bund/Länder/Kommunen, II Bereichsübergreifende Dachverbände, III Verbände der Kinder- und Jugendhilfe, IV Verbände der Behindertenhilfe, V Verbände der Gesundheitshilfe, VI Institute [evtl. auch als Liste?]. Dadurch wird die Kinder- und Jugendhilfe mit ihren hunderten Interessensvertretungs- und Fachorganisationen in ihrer Vielfalt nicht ansatzweise adäquat widergespiegelt. Auch die insgesamt vier AG-Sitzungen zu den jeweils hochkomplexen Themenfeldern werfen viele Fragen auf bezüglich der Bearbeitung und Diskussion der vorliegenden Expertisen, der Konsultationen und Interviews sowie der Erstellung der Berichte und Empfehlungen. Umfangreichen Expertisen stehen ein enger Zeitplan und eine große Anzahl an teils fachfremden Beteiligten gegenüber.
Die Ergebnisse sollen in den Gesetzentwurf einfließen, der 2020 fertiggestellt und ins Verfahren gebracht werden soll. Viele Kritiker*innen meinen, dass die Ergebnisse im Kern bereits feststehen. Aus diesen und anderen Gründen lehnt DIE LINKE im Bundestag dieses Beteiligungsverfahren ab.

4. DIE LINKE und das SGB VIII

Seit dem Jahr 2011 gibt es mit der Vorlage des sogenannten A-Länderpapiers zu den Hilfen zur Erziehung einen Diskurs, der eine Radikalkur des SGB VIII beinhaltet. Mit der Debatte um das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz seit 2016 gerät eine grundsätzliche Frage in den Blick, die vielerorts kontrovers diskutiert wird: Braucht es eine Reform des SGB VIII oder nicht? DIE LINKE hat eine differenzierte Sicht auf diese grundlegende Frage. Es braucht keine Reform, die eine Stärkung der Bürokratie zur Folge hat. DIE LINKE lehnt einen Abbau von Rechtsansprüchen und Kürzungen von Leistungen ab, wie es im sogenannten Kinder- und Jugendstärkungsgesetz vorgesehen war. Dennoch gibt es Bereiche, in denen eine Reform sinnvoll ist, um z. B. die Rechte von Kindern und Jugendlichen sowie deren Familien zu stärken. Eines aber lässt sich nicht abstreiten: Die Reform wird von der Bundesregierung vorangetrieben. Wir alle müssen uns diesem Fakt stellen.
DIE LINKE streitet für einen ergebnisoffenen Neustart der Reform. Wir lehnen jeglichen Bezug und Vorfestlegungen auf das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz ab. Wir meinen: Einer Novelle müssen umfangreiche Analysen des Ist-Zustandes vorgeschaltet werden, welche u. a. die unterschiedliche und zum Teil nicht rechtskonforme Umsetzung des SGB VIII sowie eine Unterfinanzierung des Systems berücksichtigen. Eine Reform muss zu einer Verbesserung der Rechtslage für Kinder, Jugendliche und ihre Familien führen. Eine Reform muss zudem von den Akteuren und Beschäftigten in der Kinder- und Jugendhilfe mitgetragen werden, sie sind an der Reform zu beteiligen. Hier sitzt die Expertise, hier wird mit den Familien, Kindern und Jugendlichen gearbeitet, hier wird das Gesetz umgesetzt.
Für einen Reformprozess der Kinder- und Jugendhilfe gelten daher folgende Prämissen:

  • Motor des Reformprozesses muss das Parlament werden. Hierfür bietet sich die Einrichtung einer Enquete-Kommission an.
  • Der Reformprozess muss auf Grundlage einer Bestandsaufnahme erfolgen; die Defizite in der bestehenden Umsetzung des SGB VIII gehören auf den Tisch. Dabei muss die Expertise aller Beteiligten genutzt werden.
  • Die Kinder- und Jugendhilfe und ihre zahlreichen Angebote und Leistungen sind als Gesamtsystem zu betrachten und strukturell zu stärken.
  • Das Verfassungsziel, gleichwertige Lebensverhältnisse im Bundesgebiet herzustellen, muss eine zentrale Rolle im Reformprozess einnehmen. Es darf nicht sein, dass Kinder, Jugendliche und ihre Familien teilweise vollkommen unterschiedliche Strukturen und Angebote in der Kinder- und Jugendhilfe vorfinden. Die Kommunen sind finanziell in die Lage zu versetzen, die ihnen obliegende Umsetzung des SGB VIII fachgerecht zu gewährleisten. Das Konnexitätsgebot ist zu achten.
  • Die individuellen Rechtsansprüche der Adressat*innen der Kinder- und Jugendhilfe sind zu stärken.
  • Bei der Verwirklichung der inklusiven Lösung sind die teils unterschiedlichen Bedürfnisse der Adressat*innen der Kinder- und Jugendhilfe strukturell zu berücksichtigen und Unterstützungsangebote individuell auszugestalten.
  • Armutsbedingte Benachteiligungen von Kindern und Jugendlichen müssen abgebaut werden, um die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben allumfassend zu gewährleisten.
  • Es muss rechtlich klargestellt werden, dass die im SGB VIII verankerten Rechtsnormen nicht auf Freiwilligkeit beruhen.
  • Die Stellung der Landesjugendämter als Fachaufsichtsbehörden, Anleitungs- und Bildungsinstitutionen für die örtlichen Träger der Jugendhilfe ist zu stärken, um die Grundlagen für Fachlichkeit und einheitliche Gesetzesauslegung auszubauen.
  • Für die Adressat*innen der Angebote und Leistungen sind Strukturen der Mitbestimmung in der Kinder- und Jugendhilfe zu schaffen.
  • Der Kinderschutz ist durch präventive Arbeit zu stärken, der Datenschutz ist zu achten.
  • Die fachlichen Grundlagen der Sozialen Arbeit sind in einem Reformprozess zu berücksichtigen und zu stärken.