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Fehlanzeige Pflegereform

Positionspapier,

Die schwarz-gelbe Bundesregierung scheitert an der Aufgabe, eine grundlegende Reform der Pflegeversicherung auf den Weg zu bringen. Eine Reform der Pflegeversicherung, die sich an den individuellen Bedürfnissen der Menschen orientiert, ist bei dieser Regierung Fehlanzeige. Der Entwurf eines Gesetzes zur Neuausrichtung der Pflegeversicherung (Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz – PNG) sieht weder vor, den neuen Pflegebegriff gesetzlich zu verankern noch die Finanzierung der Pflegeversicherung auf eine stabile Grundlage zu stellen. Vom groß angekündigten Jahr der Pflege 2011 bleibt 2012 nur Stückwerk übrig. Von einer Neuausrichtung kann keine Rede sein.

Bewertung des Pflege-Neuausrichtungs-Gesetzes der schwarz-gelben Bundesregierung

Arbeitskreis IV - Arbeit, Gesundheit und Soziales, verantwortlich: Kathrin Senger-Schäfer, pflegepolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag

 

Die schwarz-gelbe Bundesregierung scheitert an der Aufgabe, eine grundlegende Reform der Pflegeversicherung auf den Weg zu bringen. Eine Reform der Pflegeversicherung, die sich an den individuellen Bedürfnissen der Menschen orientiert, ist bei dieser Regierung Fehlanzeige. Das Gesetz zur Neuausrichtung der Pflegeversicherung (Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz – PNG) sieht weder vor, den neuen Pflegebegriff gesetzlich zu verankern noch die Finanzierung der Pflegeversicherung auf eine stabile Grundlage zu stellen. Vom groß angekündigten Jahr der Pflege 2011 bleibt 2012 nur Stückwerk übrig. Von einer Neuausrichtung kann keine Rede sein.
 

Die zentralen Regelungen des Pflege-Neuausrichtungs-Gesetzes im Einzelnen:

Neues Verständnis von Pflege bleibt aus

Für eine Neuausrichtung der Pflegeabsicherung ist ein neues Verständnis von Pflege und/oder Betreuung erforderlich. Der derzeitige enge, verrichtungsbezogene Pflegebegriff, welcher der Pflegeversicherung (SGB XI) zu Grunde liegt, war schon bei seiner Einführung 1995 überholt. Ziel des engen Pflegebegriffs war es, den anspruchsberechtigten Personenkreis von vornherein zu begrenzen und die Kosten in einem engen Rahmen zu halten. Der geltende Pflegebegriff bezieht sich einseitig auf die alltäglichen „Verrichtungen“, der allgemeine Bedarf an Beaufsichtigung und Betreuung sowie die Kommunikation werden nicht berücksichtigt. Er wird weder pflegewissenschaftlichen Erkenntnissen noch den Alltagserfordernissen der Betroffenen und ihrer Angehörigen gerecht. Pflege muss sich an den Menschen in ihrer jeweiligen Gesamtheit und damit am Grad ihrer individuellen Selbstständigkeit und individuellen Ressourcen orientieren und weder an ihren jeweiligen Defiziten noch am Zeitfaktor der alltäglichen Verrichtungen.

Die Vorschläge des „Beirats zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs“, der bereits im November 2006 vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) einberufen worden war, liegen seit Anfang 2009 auf dem Tisch. Die Politik ist am Zug, die Vorschläge für einen neuen Pflegebegriff und ein neues Begutachtungsverfahren umzusetzen. Doch hiervor scheint sich die Bundesregierung zu scheuen; das Pflege-Neuausrichtungsgesetz enthält noch nicht einmal einen Auftrag, konkrete Umsetzungsschritte zu erarbeiten. Nach Ansicht des BMG sei eine sofortige Einführung des Pflegebegriffs nicht möglich, zu klären wären noch eine Reihe von technischen Fragen. Daher wurde am 01.03.2012 der Expertenbeirat unter der Leitung des Patientenbeauftragten der Bundesregierung Wolfgang Zöller und Karl-Dieter Voß (ehemals im Vorstand des GKV-Spitzenverbandes) neu eingesetzt. Anfang 2013 wird mit den Ergebnissen gerechnet. Mit einer gesetzlichen Verankerung des neuen Pflegebegriffs ist in dieser Legislatur nicht mehr zu rechnen. Eine ganzheitliche, selbstbestimmte Pflege wird es damit auf lange Sicht nicht geben. Besonders betroffen sind Menschen mit demenziellen Erkrankungen.

 

Zusätzliche Leistungen für Menschen mit demenziellen Erkrankungen kein Vorgriff auf den neuen Pflegebegriff

Bis zur Einführung eines neuen Pflegebegriffs sollen Menschen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz ab dem 1.1.2013 höhere Leistungen erhalten (vgl. Tabelle). Das bestehende Begutachtungsverfahren und das Verfahren zur Feststellung einer eingeschränkten Alltagskompetenz werden nicht geändert.

 

 

Pflegegeld

(Stand: 1.1.2012)

Pflegegeld

(geplante Anhebung zum 1.1.2013)

Differenz

Pflegesach-leistung

(Stand:

1.1.2012)

Pflegesachleistung

(geplante Anhebung zum 1.1.2013)

Differenz

sogenannte Stufe 0*

- 120 Euro + 120 Euro - 225 Euro + 225 Euro

Stufe I*

235 Euro 305 Euro + 70 Euro 450 Euro 665 Euro + 215 Euro

Stufe II*

 

440 Euro 525 Euro + 85 Euro 1 100 Euro 1 250 Euro + 150 Euro

Stufe III*  

700 Euro - - 1 550 Euro - -

Stufe III (in Härtefällen)

      1 918 Euro - -

* Leistungen für Pflegebedürftige mit einer erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz

Pflegegeld und Pflegesachleistung können auch in der sog. Pflegestufe 0 kombiniert werden (§ 38 SGB XI). Zudem besteht künftig – wie bislang bereits bei den Pflegestufen I bis III – in der sog. Pflegestufe 0 auch ein Anspruch auf Verhinderungspflege, Pflegehilfsmittel und wohnumfeldverbessernde Maßnahmen.

Die zusätzlichen Betreuungsleistungen nach § 45b SGB XI [100 Euro pro Monat (Grundbetrag) bzw. 200 Euro pro Monat (erhöhter Betrag)] bleiben weiterhin bestehen. Der Betrag wird für Aufwendungen, die den Versicherten bei der Inanspruchnahme von qualitätsgesicherten Betreuungsleistungen entstehen, erstattet).

 

Nach Angaben des BMG werden etwa 500 000 ambulant versorgte Personen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz und einem Pflegebedarf unterhalb der Pflegestufe III mehr Leistungen erhalten (davon 40 000 Personen mit einem Pflegebedarf unterhalb der Pflegestufe I).

Für die vollstationäre Pflege sieht Schwarz-Gelb keine verbesserten Betreuungsleistungen vor. Die Bundesregierung begründet ihr Nichthandeln damit, dass die stationäre Pflege die soziale Betreuung mit einschließe und zudem künftig bei allen Formen stationärer Pflege zusätzliche Betreuungskräfte (§ 87 SGB XI) zu Lasten der Pflegekassen eingesetzt werden könnten. Im Vergleich zur bisherigen Regelung sollen künftig die Tages- und Nachtpflegeeinrichtungen (teilstationäre Pflege) einbezogen werden.

Die geplante Einführung von vorübergehenden Leistungen für Menschen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz packt die Probleme nicht an der Wurzel. Erforderlich ist ein Gesamtkonzept, um die systematische Ungleichbehandlung von geistigen, psychischen und körperlichen Beeinträchtigungen zu beenden. Nicht nachvollziehbar ist, weshalb in Pflegestufe III keine zusätzlichen Leistungen vorgesehen sind – dabei erhöht sich die Anzahl von Personen mit einer demenziellen Erkrankung mit zunehmender Pflegestufe. Ebenso ist nicht nachvollziehbar, auf welcher Grundlage die Höhe der zusätzlichen Leistungen bestimmt wurde. Es drängt sich stark der Eindruck auf, dass nicht der Bedarf, sondern der Finanzrahmen des Pflege-Neuausrichtungs-Gesetzes der ausschlaggebende Faktor ist.

Keine grundlegenden Leistungsverbesserungen

Es ist höchste Zeit, die soziale Pflegeversicherung hin zu einer solidarischen, bedarfsorientierten und umfassenden Absicherung des Pflegerisikos weiterzuentwickeln. Nur so kann eine Neuausrichtung der Pflegeabsicherung gelingen. Von Anfang an war die Pflegeversicherung als „Teilkaskoversicherung“ konzipiert. Sie billigt pflegebedürftigen Menschen nur einen Zuschuss zu den Pflegekosten zu, der insbesondere dazu dient, die familiäre, nachbarschaftliche oder ehrenamtliche Pflege zu ergänzen. Um den individuellen Pflege- und Betreuungsbedarf abzudecken, müssen die Betroffenen und ihre Angehörigen auf ihr Einkommen und Vermögen zurückgreifen. Doch Vielen ist das nicht möglich. Immer mehr pflegebedürftige Menschen werden von der Sozialhilfe oder von der Unterstützung durch ihre Angehörigen abhängig.

Der „Teilkaskocharakter“ der Pflegeversicherung wird dadurch verschärft, dass der Realwertverlust der Pflegeleistungen seit ihrer Einführung 1995 bis heute nur ungenügend ausgeglichen wurde. In den Pflegestufen I und II der vollstationären Pflege gab es sogar überhaupt keine Leistungsanpassungen. Wie die folgende Tabelle zeigt, sind für pflegebedürftige Personen, bei denen keine erheblich eingeschränkte Alltagskompetenz vorliegt, keine Leistungserhöhungen vorgesehen. Erst für das Jahr 2015 ist entsprechend des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes 2008 eine – wenn auch völlig unzureichende – Leistungsdynamisierung vorgesehen.

  Pflegegeld (Stand: 1.1.2012) Pflegegeld (geplante Anhebung) Pflegesach-leistung (Stand: 1.1.2012) Pflegesach-leistung (geplante Anhebung) Voll-stationäre Pflege (Stand: 1.1.2012) Voll-stationäre Pflege (geplante Anhebung) sogenannte Stufe 0 - - - - - - Stufe I 235 Euro - 450 Euro - 1 023 Euro - Stufe II 440 Euro - 1 100 Euro - 1 279 Euro - Stufe III 700 Euro - 1 550 Euro - 1 550 Euro - Stufe III (in Härtefällen) - - 1 918 Euro - 1 918 Euro

 

Feigenblatt: Entlastung von pflegenden Angehörigen

Pflegende Angehörige müssen stärker unterstützt und entlastet werden. Pflege ist eine schwere Arbeit. Überlastung und Überforderung sind vorprogrammiert. Nach wie vor übernehmen die schwere Pflegearbeit vor allem Frauen –Ehe- und Lebenspartnerinnen, Töchter oder Schwiegertöchter. Doch es entspricht heute zumeist nicht mehr der Lebensrealität, dass Angehörige die Pflege übernehmen können oder wollen. Die Fähigkeit oder Bereitschaft, Angehörige mit Pflegebedarf zu versorgen, werden zunehmend durch Veränderungen der Familienstruktur, des Familienbildes, der Erwerbsbiographien von Frauen und den Anforderungen der Arbeitswelt eingeschränkt. Ein Trend zur professionellen Pflege ist bereits jetzt zu konstatieren.

Häusliche Pflege bedeutet nicht, dass pflegebedürftige Menschen automatisch von ihren Angehörigen gepflegt werden wollen. Oftmals reichen die finanziellen Möglichkeiten für eine professionelle Pflege nicht aus. Es existiert eine soziale Ungleichheit in der Versorgung, eine selbstbestimmte Entscheidung für das gewünschte Pflegearrangement ist in vielen Fällen nicht möglich. Damit die Pflege – wenn gewünscht – von Pflegefachkräften übernommen werden kann, wollen wir die so wichtige professionelle Pflege stärken. Die Bundesregierung zieht die kostenintensive Entlastung der familiären Pflege durch professionelle Pflegekräfte nicht in Betracht. Zwar verspricht Schwarz-Gelb, pflegende Angehörige zu entlasten, was aber nur Tropfen auf dem heißen Stein sind. So wird bspw. künftig bei Inanspruchnahme von Leistungen der Kurzzeit- oder Verhinderungspflege das hälftige Pflegegeld weitergezahlt und bei der gleichzeitigen Pflege von zwei oder mehr pflegebedürftigen Menschen werden die rentenrechtlichen Zeiten addiert.

Die bessere Anerkennung der Pflegeberufe lässt auf sich warten

Der Alltag von Pflegekräften ist von Arbeitsverdichtung, starren Zeitvorgaben und schlechter Bezahlung geprägt. Darunter leiden alle Beteiligten: das Pflegepersonal und die zu pflegenden Menschen, sowie deren Angehörige. Pflege ist eine schwere und anspruchsvolle Arbeit, die gesellschaftlich anerkannt werden muss. Wer hofft, die Bundesregierung würde die Probleme in Angriff nehmen, wird bitter enttäuscht. Regelungen für eine verbindliche Personalbemessung oder eine Weiterentwicklung der Pflegeausbildung finden sich nicht im PNG. Vielmehr sind Verschlechterungen für die Beschäftigten in der Pflege zu erwarten.

So sollen die Zulassungsvoraussetzungen für Pflegeeinrichtungen geändert werden. Derzeit ist der Abschluss eines Versorgungsvertrages daran gebunden, dass eine ortsübliche Vergütung gezahlt wird. Künftig soll die Pflicht der Pflegeeinrichtungen zur Zahlung einer ortsüblichen Vergütung nur noch für die Beschäftigten gelten, für die die Einrichtungen keinen Pflege-Mindestlohn zu zahlen haben. Das sind z. B. Betreuungskräfte oder Küchenpersonal. Für die Beschäftigten in der Pflege gilt die Mindestlohnregelung und nicht wie bisher die ortsübliche Vergütung als unterste Lohngrenze. Damit müssen sich Einrichtungen bei der Bezahlung von Pflegekräften im Bereich der Grundpflege nicht mehr an der ortüblichen Vergütung, sondern lediglich am Mindestlohn ausrichten. Für die Beschäftigten ergibt sich ein Lohndruck nach unten. Der Mindestlohn kann aber nur die unterste Auffanglinie sein, um Lohndumping zu verhindern und sollte keineswegs zum allgemeinen Orientierungswert für die Entlohnung werden.

Klientelpolitik statt gerechter Finanzierungsreform

Der Beitragssatz zur sozialen Pflegeversicherung soll zum 1.1.2013 um 0,1 Beitragssatzpunkte angehoben werden (von 1,95 Prozent auf 2,05 Prozent; für Kinderlose von 2,2 Prozent auf 2,3 Prozent). Dies führt im Jahr 2013 nach Angaben des BMG zu Mehreinnahmen von rund 1,14 Mrd. Euro; im Jahr 2014 von 1,18 Mrd. Euro und 2015 von 1,22 Mrd. Euro. Die Anhebung des Beitragssatzes reicht bestenfalls bis Ende 2014. Die geplante Dynamisierung der Pflegeleistungen ab 2015 macht eine Finanzierungsreform erforderlich. Schwarz-Gelb wird damit der nächsten Regierung eine pflegepolitische Baustelle übergeben, bei der noch dringender Handlungsbedarf als derzeit besteht wird. Gibt es dann keine gute Lösung, besteht die Gefahr, dass die soziale Pflegeversicherung vor die Wand gefahren wird.

Zudem soll die soziale Pflegeversicherung um eine mit 5 Euro im Monat geförderte, private Pflegezusatzversicherung ergänzt werden („Pflege-Riester“) - ein weiterer Schritt zur Demontage des Sozialstaats und zur Abwicklung der solidarischen Finanzierung. Der Einstieg in die Privatisierung der Pflegevorsorge ist unsozial, volkswirtschaftlich unsinnig und benachteiligt Geringverdienende und Menschen mit Behinderungen. Verheerend ist, dass mit der privaten Pflege-Zusatzversicherung die soziale Kluft noch tiefer wird. Das von Union und FDP gleichermaßen vorgeschlagene Modell folgt dem Aschenputtelprinzip „die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen“ und führt damit weder zu langfristiger Sicherheit noch zu bezahlbaren Beiträgen. Während Geringverdienende und Menschen mit einem potentiellen Pflegerisiko sich den Pflege-Riester nicht leisten können, ist es Besserverdienern und Gesunden möglich, auf günstigere, nicht geförderte Produkte zurückzugreifen. Diese bleiben sowohl älteren als auch kranken Menschen verwehrt und sind somit für die Versicherungsindustrie profitabler zu kalkulieren. Das führt am Ende zu einer Zweiklassen-Pflege.

Eine solche kapitalgedeckte private Zusatzversicherung bietet keine Lösung der grundlegenden Probleme der Pflegeversicherung. Die Umlagefinanzierung hat sich bewährt. Das Hauptproblem in der Finanzierung liegt in den Umbrüchen der Erwerbsarbeit: Zunehmende Erwerbslosigkeit, Prekarisierung und gebrochene Erwerbsbiographien, ein sich ausweitender Niedriglohnsektor und ausbleibende Lohnzuwächse haben geringere Einnahmen der beitragsfinanzierten Pflegeversicherung zur Folge. Zugleich wächst die Bedeutung anderer Einkommensarten. Auf die relativ schnell wachsenden Kapitalerträge müssen bislang fast keine Beiträge gezahlt werden. Statt die Einnahmeseite der Pflegeversicherung mit einer solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung sozial gerecht und zukunftsfest zu gestalten will die Bundesregierung die soziale Pflegeversicherung weiter schwächen.

Begründet wird der Einstieg in die Kapitaldeckung mit der demographischen Entwicklung. Richtig ist: Es gibt immer mehr ältere Menschen. Falsch ist, daraus zu schließen, dass die Pflege- und Assistenzbedarfe im gleichen Umfang zunehmen müssen. Mit der gestiegenen Lebenserwartung geht auch eine Verbesserung des Gesundheitszustands alter Menschen einher. Das Risiko, pflegebedürftig zu werden, sinkt in den jeweiligen Alterskohorten. Das bedeutet, Menschen werden gesund älter und später pflegebedürftig. Ein besonderes Augenmerk sollte vielmehr auf die Auswirkungen sozialer Ungleichheit gelegt werden. Personen mit niedrigem Sozialstatus sterben in der Regel nicht nur früher als Personen mit hohem Sozialstatus, sie werden auch deutlich eher pflegebedürftig.

 

Unsere Alternativen für eine Neuausrichtung der Pflegeabsicherung

Selbstbestimmung und Teilhabe in der Pflege gewährleisten

Für eine Teilhabe ermöglichende, selbstbestimmte und ganzheitliche Pflege ist der Vorschlag für einen neuen Pflegebegriff des Beirats zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs vom Januar 2009 zügig gesetzlich zu verankern und umzusetzen. Gleichzeitig ist ein neues, praxistaugliches Begutachtungsverfahren einzuführen.

Der neue Pflegebegriff und das neue Begutachtungsverfahren müssen körperliche Beeinträchtigungen ebenso wie kognitive und/oder psychische Einschränkungen umfassen, ohne die Defizitorientierung beizubehalten. Vielmehr müssen selbstbestimmte Teilhabeermöglichung und Alltagskompetenz im Vordergrund stehen. Ebenso muss das neue Begutachtungsverfahren eine Methode zur Bestimmung der Pflegebedürftigkeit von Kindern und Jugendlichen enthalten.

Die Wahlmöglichkeit von geschlechtergleicher Pflege/Assistenz und einer kultursensiblen Pflege/Assistenz ist zu gewährleisten.

Leistungen der Pflegeversicherung deutlich anheben

Die Leistungen der Pflegeabsicherung sind so auszugestalten, dass allen Menschen tatsächlich ermöglicht wird, selbstbestimmt zu entscheiden, ob sie ambulante, teilstationäre oder stationäre Pflege- oder Assistenzleistungen in Anspruch nehmen wollen. Gute Pflege darf nicht von den eigenen finanziellen Möglichkeiten abhängig sein. Damit eine solche Neuausrichtung gelingt, muss das Leistungsniveau der Pflegeversicherung deutlich angehoben werden. Das eröffnet die Möglichkeit, in der häuslichen Umgebung bedarfsgerecht gepflegt zu werden und stärker auf professionelle Pflege zurückzugreifen.

Als Sofortmaßnahme sind der Realwertverlust der Pflegeleistungen vollständig auszugleichen und die Sachleistungsbeträge für die ambulante, teilstationäre und stationäre Pflege je Kalendermonat um weitere 25 Prozent zu erhöhen. Damit die Leistungen ihren Wert erhalten, sind sie jährlich regelgebunden zu dynamisieren. Perspektivisch sind die Leistungen am individuellen Bedarf zu orientieren.

Mit der Einführung eines neuen Begutachtungsverfahrens ist auch das starre Pflegestufenmodell zu überwinden.

Menschen, die bereits Leistungen der Pflegeversicherung erhalten, dürfen dadurch finanziell nicht schlechter gestellt werden.

Angehörige entlasten

Die Rahmenbedingungen für Angehörige und Ehrenamtliche sind zu verbessern:

Es ist eine sechswöchige bezahlte Pflegezeit für Erwerbstätige einzuführen, die der Organisation der Pflege und der ersten pflegerischen Versorgung von Angehörigen oder nahestehenden Personen dient. Für Personen, die die Pflege dauerhaft übernehmen wollen, sind Teilzeitvereinbarungen und flexible Arbeitszeitregelungen zu ermöglichen (vgl. Bundestagsdrucksache 17/1754).

Die notwendige Infrastruktur ist weiter auszubauen, um eine professionelle, unabhängige und wohnortnahe Beratung, Anleitung, Betreuung und Supervision auf hohem Niveau flächendeckend sicherzustellen.

Alternative Wohn- und Versorgungsformen sind weiter auszubauen. Es ist darauf hinzuwirken, dass hierfür in angemessenem Umfang finanzielle Mittel zur Verfügung stehen.

Die deutliche Anhebung der Leistungen der Pflegeversicherung eröffnet die Möglichkeit, in der häuslichen Umgebung gepflegt zu werden und stärker auf ambulante Dienste zurückgreifen zu können.

Die Rentenversicherungsbeiträge für Zeiten der Pflege von Angehörigen sind zu verbessern, damit die oft langjährige Pflege nicht zu Rentenlücken und Altersarmut führt.

Pflege attraktiver gestalten – Pflegeberufe anerkennen

Für eine qualitativ hochwertige Pflege brauchen wir dringend mehr qualifizierte Pflegekräfte, bessere Arbeitsbedingungen und eine höhere Bezahlung der Pflege(-fach)kräfte. Die Pflegeberufe und deren Berufsausbildung müssen insgesamt attraktiver werden. Nur so kann auch dem sich bereits abzeichnenden Fachkräftemangel entgegengewirkt werden.

Die Anhebung des Leistungsniveaus der Pflegeabsicherung eröffnet den finanziellen Spielraum, Pflegekräfte besser zu bezahlen. Damit Lohndumping in der Pflege verhindert wird, ist als unterste Grenze ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn von 10 Euro einzuführen.

Gute Pflege hängt entscheidend vom Personal ab. In den ambulanten und stationären Einrichtungen ist daher eine ausreichende Ausstattung mit qualifiziertem Personal zu gewährleisten. Zur Sicherung der Qualität in der Pflege ist ein bundesweit anzustrebender Standard über eine qualitätsbezogene Personalbemessung zu entwickeln. Bis dahin muss die Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern erreichen, dass mindestens die Hälfte des Personals aus Fachkräften besteht.

Die Pflegeausbildung ist zeitgemäß weiterzuentwickeln, um den Ansprüchen an eine qualitativ hochwertige Versorgung gerecht zu werden und den Handlungsradius der Pflegeberufe zu erweitern. Dazu ist die Integration der Pflegeberufe zu einer dreijährigen dualen Ausbildung mit einer zweijährigen einheitlichen Grundausbildung und einer anschließenden einjährigen Schwerpunktsetzung in allgemeiner Pflege, Kinderkrankenpflege oder Altenpflege mit gleichwertigen Abschlüssen vorzusehen. Der Zugang zu den Pflegeberufen soll auch künftig über eine dreijährige Berufsausbildung erfolgen. Die Durchlässigkeit zwischen den Pflegeberufen und innerhalb des Bildungssystems muss gegeben sein. Der Zugang zu einschlägigen Hochschulstudiengängen in Pflegewissenschaften, Pflegemanagement oder Lehramt ist ohne zusätzliche Hochschulzugangsberechtigung auf der Grundlage einer dreijährigen Ausbildung zu ermöglichen. Hierfür ist eine enge Abstimmung mit den Bundesländern zu suchen. Daneben ist die Anrechnung erworbener Qualifikationen und Berufserfahrungen auf weitergehende Qualifizierung sicherzustellen.

Die integrierte Pflegeausbildung bietet eine breite Basisqualifikation. Die Vertiefung und Differenzierung bspw. in psychiatrischer Pflege, Geriatrie oder Familiengesundheitspflege erfolgt in Form von Weiterbildung oder in Pflegestudiengängen. Weiterbildungsabschlüsse sollten standardisiert und bundeseinheitlich geregelt werden.

Für eine gerechtere Ausbildungsfinanzierung ist ein Umlageverfahren zur Einrichtung eines Ausbildungsfonds einzuführen. Da alle Pflegeeinrichtungen prinzipiell von der Ausbildung profitieren, zahlen sie in diesen Fonds ein. Wer ausbildet, erhält hieraus Unterstützung. So wird eine solidarische Finanzierung der Ausbildung ermöglicht, zu der alle Pflegeeinrichtungen nach ihren Möglichkeiten beitragen. Die Bundesregierung soll sich gegenüber den Ländern dafür einsetzen, dass die Zahl der Ausbildungsplätze erhöht wird, um allen Bewerberinnen und Bewerbern einen Zugang zur Pflegeausbildung zu ermöglichen sowie Schulgelder, Studiengebühren und Prüfungsgebühren abzuschaffen. Letztlich ist nur so der Bedarf an Pflegekräften für zukünftige Herausforderungen zu decken.

Die Förderung des dritten Umschulungsjahres durch die Bundesagentur für Arbeit ist fortzusetzen, da die Vollfinanzierung der dreijährigen Umschulung zur Altenpflegerin/zum Altenpfleger in den Jahren 2009/2010 erfolgreich war und einen Beitrag dazu leisten kann, dem sich abzeichnenden Fachkräftemangel entgegenzuwirken.

Gerechte und stabile Finanzierung

Die solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung in der Pflege würde für soziale Gerechtigkeit und eine stabil finanzierte Pflegeabsicherung sorgen. Finanziell starke Schultern müssen mehr tragen. Alle anderen werden entlastet. Mit einer wissenschaftlichen Studie konnte nachgewiesen werden, dass der Beitragssatz trotz eingerechnetem Ausgleich des Realwertverlusts und einer sofortigen Erhöhung der Sachleistungen um 25 Prozent dauerhaft unter 2 Prozent gehalten werden kann. Finanzielle Sicherheit und die Grundlage für eine weiterreichende Pflegereform sind also nachweislich solidarisch gerecht zu erreichen.

In der solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung zahlen alle Versicherten nach ihrer individuellen finanziellen Leistungsfähigkeit ein. Grundsätzlich werden alle Einkommen aus unselbständiger und selbständiger Arbeit sowie alle sonstigen Einkommensarten wie Kapital-, Miet- und Pachterträge bei der Bemessung des Beitrags zu Grunde gelegt. Kapitalerträge und Zinsen bis zum Sparerpauschbetrag bleiben beitragsfrei. Die Beitragsbemessungsgrenze ist perspektivisch abzuschaffen. Alle Menschen, die in Deutschland leben, werden Mitglied der solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung. Die private Pflegeversicherung wird auf Zusatzleistungen beschränkt.

Bei Einkommen aus Löhnen und Gehältern hat der Arbeitgeber die Hälfte der Beiträge zu zahlen. Der zur Entlastung der Arbeitgeber bei der Einführung der Pflegeversicherung abgeschaffte Feiertag wird wieder eingeführt oder eine andere Maßnahme ergriffen, welche die Parität zwischen Beschäftigten und Arbeitgebern tatsächlich herstellt. Für Sachsen ist aufgrund der Beibehaltung des Buß- und Bettages eine Sonderregelung vorzusehen. Rentnerinnen und Rentner zahlen in der Pflegeversicherung künftig nur den halben Beitragssatz; die andere Hälfte wird aus der Rentenversicherung beglichen (vgl. Bundestagsdrucksache 17/7197).