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Ein Feldweg neben einem Bahngleis mit einem Regionalexpress der Bahn © iStock/Say-Cheese

Die Verkehrswende ist eine soziale Frage

Positionspapier,

Arbeitskreis II »Sozial-ökologischer Umbau und Haushalt«
Beschluss vom 20. April 2021
Zwölf Thesen zur Mobilitätsgerechtigkeit


Klimakrise, Luftverschmutzung, Lärmbelastungen – die Krise unseres Verkehrssystems wird oft als eine rein ökologische diskutiert. Grünere Antriebe oder hohe Parkraumgebühren aber greifen das einseitig auf das Auto ausgerichtete System kaum an. Noch mehr Autos können nicht die Lösung sein, denn Autos bieten keine Mobilität für alle Menschen. Die Verkehrswende muss sozial gerecht sein, unterschiedliche Zugänge und Verteilungsfragen beachten. Denn nur auf technische Lösungen zu setzen, löst diese sozialen Schieflagen nicht auf, wodurch sie sich verschärfen. Eine Verkehrswende muss als soziale und ökologische Transformation gedacht werden. Dazu müssen endlich alle Menschen in den Mittelpunkt von Verkehrspolitik gestellt werden – nicht nur Autofahrer*innen.

1. Mobilität ist Daseinsvorsorge
Um am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, zu arbeiten oder Freizeit zu genießen, müssen Menschen mobil sein können. Die Möglichkeiten, sich unabhängig und klimafreundlich an verschiedene Orte zu bewegen, sind sehr ungleich verteilt, manche Menschen sind schlicht ausgeschlossen. Offensichtlich ist, dass das Einkommen, der Wohnort und das Angebot an Verkehrsmitteln eine große Rolle spielen. Aber auch das Geschlecht (Frauen besitzen sehr viele seltener Autos als Männer), rassifizierte Zuschreibung, Bildung, körperliche und psychische Voraussetzungen bedingen Mobilitätsverhalten und -möglichkeiten. Zudem werden viele Wege von Mobilitätszwängen verursacht, die Krankenpflegerin kann nicht im Homeoffice arbeiten. Der Zugang zu Mobilität für alle ist eine zutiefst soziale Frage und muss selbstverständlicher Teil gesellschaftlicher Daseinsvorsorge sein.

2. Der Vorrang fürs Auto ist nicht gerecht
Viele Orte sind ohne (eigenes) Auto nicht oder schlecht erreichbar. Daher sind Menschen entweder vom eigenen Auto abhängig oder gar nicht oder weniger mobil. Für Mobilitätsgerechtigkeit müssten Ressourcen umverteilt werden zu Gunsten des ÖPNV für alle und für lebenswerte Kommunen. Das derzeitige Verkehrssystem aber privilegiert das Auto im Privatbesitz und räumt dem Autoverkehr deutliche räumliche und finanzielle Vorteile ein. Dieses Privileg wird über die Politik, das Steuersystem, die Planungsinstanzen sowie über zahlreiche mediale Bilder zementiert und kaum in Frage gestellt. Nicht Mobilität, sondern der Autoverkehrsfluss hat oberste Priorität. Dieses Privileg drängt aber andere Mobilitätsformen zurück; sie müssen sich dem Auto vielfach unterordnen.

3. Ungleiche Lastenverteilung
Unter den Lasten, den negativen Auswirkungen des Verkehrs, leiden insbesondere diejenigen, die am wenigsten zu ihnen beitragen. Insbesondere Straßenlärm und Luftverschmutzung betreffen überwiegend ärmere Bevölkerungsschichten, die dann auch mit den entsprechenden gesundheitlichen Folgen zu kämpfen haben. Reiche Haushalte haben mehr und größere Autos, sie haben insgesamt einen deutlich größeren ökologischen Fußabdruck, tragen also viel mehr zur Umweltverschmutzung bei. Viele der negativen Folgeerscheinungen des Verkehrs werden räumlich, zeitlich und sozial verlagert. Auch global betrachtet geht es um Umweltgerechtigkeit: Im Globalen Süden sind die Menschen gegenüber den Folgen der auch durch den Verkehr in und zwischen den reichen Ländern des Nordens verursachten Klimakrise stärker betroffen. Zunehmende Dürren und der Meeresspiegelanstieg vernichten die Lebensgrundlagen vieler, gleichzeitig tragen sie am wenigsten dazu bei.

4. Soziale Fragen verknüpfen
Autogerechte Städte und Infrastrukturen lassen keinen Platz für umweltfreundliche Alternativen für alle und begrenzen den Raum für soziale Begegnungen und Naherholungsorte. Eine Verkehrswende hängt daher eng mit einer sozialen Wohnungs- und Infrastrukturpolitik sowie der Schaffung von allgemein verfügbaren und barrierefreien Räumen zusammen. Lebenswerte öffentliche Plätze, Parks und Grünanlagen oder öffentliche Räume wie Spiel- oder Grillplätze dürfen nicht nur in »besseren« Wohngebieten zur Verfügung stehen – gute Lebensqualität im öffentlichen Raum muss für alle da sein!

5. Die Schwächsten in den Mittelpunkt stellen
Von Unfällen und unsicheren Straßen sind vor allem die schwächeren Verkehrsteilnehmenden betroffen, also ältere Menschen, Kinder und körperlich eingeschränkte Personen. Ein gerechtes Verkehrssystem muss ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellen, statt sie zu übersehen. Zudem haben Menschen, die von rassistischer und sexistischer Diskriminierung bedroht sind, ein erhöhtes Sicherheitsbedürfnis. Unsere Verkehrsmittel und -wege, unsere öffentlichen Räume müssen daher so konzipiert sein, dass sie Übergriffe und Belästigungen vorbeugen. Die Sicherheit aller Verkehrsteilnehmenden muss absolute Priorität haben.

6. Steuerung durch Umverteilung
Die geltenden Gesetze benachteiligen einkommensschwache Menschen: vom Dienstwagenprivileg, der Entfernungspauschale oder dem Dieselprivileg profitieren vor allem die reicheren Haushalte, Geringverdienende haben davon wenig bis nichts. Viele der diskutierten politischen Maßnahmen zur ökologischen Verbesserung des Verkehrs bestehen in einer Erhöhung der Preise (z.B. Parkraumbewirtschaftung oder City-Maut). Diese würden vorrangig die Mobilität der Geringverdienenden einschränken, während Reiche diese Maßnahmen wenig berühren. Statt die Mobilität von ärmeren oder benachteiligten Menschen zu erhöhen, würden sie bestehende Ungerechtigkeiten sogar noch verschärfen. Maßnahmen zum Klimaschutz müssen sozial ausgewogen sein. Die öffentlichen Mittel müssen massiv hin zu umweltfreundlichen und allen zugänglichen Verkehrsmitteln umverteilt werden.

7. Mobilitätsgerechtigkeit überall – in der Stadt und im ländlichen Raum
Für eine sozialökologische Verkehrswende und die Mobilitätsrevolution gibt es in den Städten gute Voraussetzungen. Hier gibt es bereits vielfältige Alternativen zum privaten Pkw, die ausgebaut und aufeinander abgestimmt werden müssen. Für ländliche Räume braucht es neue und regional angepasste Konzepte, die die Menschen in ihren Lebensrealitäten mitnehmen und Mobilität fernab vom eigenen Auto ermöglichen. Hier erfordert es viel Mut, Kreativität und einen langen Atem – aber auch mehr öffentliche Mittel und politischen Willen.

8. Partizipation und Repräsentation
Im Verkehrssektor gibt es - in Politik, Verwaltung und Unternehmen - keine breite Partizipation aller gesellschaftlichen Gruppen. Stadt- und Verkehrsplanung sichern vor allem gut ausgebaute Pendelstrecken für Lohnarbeitswege. Die komplexen und vielschichtigen Sorgearbeitswege, sehr oft für Frauen wichtig, bleiben unsichtbar. Viele Menschen sind im Verkehrssektor nicht repräsentiert, zahlreiche Stimmen, Bedürfnisse und Interessen werden nicht gesehen und berücksichtigt. Das schafft blinde Flecken und Ungerechtigkeiten!

9. Transparenz und Demokratie
Der Verkehrssektor ist von einem undurchsichtigen und machtvollen Komplex aus Autokonzernen und Politik geprägt, die von der Fortsetzung der bisherigen, das Auto privilegierenden Politik profitieren und die sozial-ökologische Verkehrswende ausbremsen. Wir brauchen stattdessen eine bedürfnisorientierte, transparente und demokratische Transformation der Verkehrspolitik und des Mobilitätssektors, die die profitorientierten Machtstrukturen des autoindustriellen Komplexes ersetzt.

10. Verkehrswende als sozial-ökologische Industriepolitik
Die Automobilwirtschaft ist einer der wichtigsten Industriezweige in Deutschland, hier stehen ca. 800.000 Beschäftige in Lohn und Brot und ihre Jobs sind vergleichsweise gut bezahlt. Durch jahrelanges verfehltes Management, getrieben von Antriebswende und Digitalisierung, sind viele dieser Jobs bedroht. Die Transformation der Automobilindustrie darf nicht zulasten der Beschäftigten gehen. Sie muss sozial-ökologisch ausgerichtet werden und neue gute Jobs, mehr klimafreundliche Verkehrsmittel und mobilmachende Dienstleistungen hervorbringen. Wir brauchen eine sozial-ökologisch ausgerichtete Mobilitätswirtschaft!

11. Gute Löhne und gute Jobs
Mobilitätsdienstleistungen sind oftmals gering bezahlt, mit unsicheren Jobs und schlechten Arbeitsbedingungen verbunden. Scheinselbstständige Uber-Fahrer*innen und in Schicht fahrende, oft in Billig-Tochtergesellschaften ausgelagerte Busfahrer*innen verdienen zu wenig und arbeiten unter harten Bedingungen. Ihre Situation muss strukturell verbessert, die Löhne deutlich erhöht und für die Beschäftigten müssen Perspektiven eröffnet werden. Nur wenn es hier neue, attraktive Jobs gibt, kann die Verkehrswende gelingen. Der Mobilitätssektor muss im Sinne einer Mobilitätswirtschaft den Automobilsektor mit guten Jobs und fairen Löhnen dominieren - nicht umgekehrt!

12. Mobilitätsrevolution statt Flugtaxis
Bei der Verkehrswende werden oft nur technische Scheinlösungen wie synthetische Kraftstoffe, autonome Fahrzeuge oder Flugtaxis diskutiert. Mit dieser Augenwischerei wird von den tatsächlichen Problemen abgelenkt. Mit Technologien allein sind die ökologischen Krisen nicht zu lösen, sie verlagern die Probleme nur in andere Regionen und die Folgekosten auf kommende Generationen. Zudem können diese Technologien die zahlreichen sozialen Schieflagen nicht angehen, weil sie das autozentrierte System nicht in Frage stellen. Nicht zuletzt sind diese Scheinlösungen sehr kostspielig und aufwendig in der Entwicklung, während ein Ausbau des Umweltverbunds aus Bussen und Bahnen, Fahrrad und zu Fuß gehen günstiger ist und die Verkehrswende auch sofort beschleunigt. Eine Antriebswende ist keine Verkehrswende – es braucht eine Mobilitätsrevolution, weniger Verkehr und mehr Mobilität für alle!