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»Zur Demokratie gehört der Wechsel«

Interview der Woche von Katja Kipping,

Foto: flickr.de/die-linke-thueringen

 

 

Katja Kipping, Vorsitzende der Partei DIE LINKE und sozialpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion, über den Ausgang der Landtagswahlen in Brandenburg und Thüringen, das Herumdoktern der Bundesregierung am Hartz IV-Regelsatz, das Recht auf Urlaub und eine 3-Euro-Reise von Andrea Nahles


Brandenburg und Thüringen haben neue Landtage gewählt. Was sagen Sie zu den Ergebnissen?

Katja Kipping: In Thüringen mündete ein großartiger Wahlkampf in ein herausragendes Ergebnis für die DIE LINKE. Ihre Wahlstrategie war gleichsam kämpferisch wie pragmatisch, visionär wie realistisch. Das war offenbar ein Erfolgsrezept. Und natürlich hat uns die Vorstellung, mit Bodo Ramelow erstmals einen Ministerpräsidenten stellen zu können, beflügelt.
Das Wahlergebnis in Brandenburg stimmt mich natürlich nicht so euphorisch. Das war schon ein Dämpfer. Aber wir müssen auch sehen, dass der Landtag in Brandenburg vor fünf Jahren zusammen mit dem Bundestag gewählt wurde. Bei Bundestagswahlen gelingt uns die Mobilisierung unserer Wählerinnen und Wähler immer deutlich besser, weil unsere sie ein starkes Interesse an Themen haben, die auf Bundesebene geregelt werden. Ein weiteres Problem ist, dass es uns offenbar als Partei während einer Regierungsbeteiligung nicht hinreichend gelingt, unseren Anteil an der Politik der Regierung deutlich zu machen. Deshalb profitierte in Brandenburg die SPD von der sozialeren Politik, die seit unserer Regierungsbeteiligung im Land gemacht wurde.

25 Jahre nach dem Fall der Mauer könnte Bodo Ramelow als erster LINKER Ministerpräsident in Thüringen werden. Wäre das etwas Besonderes oder eine Regierungsübernahme wie jede andere in einer Demokratie?

Zur Demokratie gehört der Wechsel. Insofern ist es eine Selbstverständlichkeit.  Gleichzeit wäre es natürlich etwas Besonderes, wenn DIE LINKE erstmals einen Ministerpräsidenten stellen würde.

Das Kabinett doktort in dieser Woche wieder einmal am Hartz IV-Regelsatz für Alleinstehende herum. Aus 391 sollen 399 Euro werden. Das Bundesverfassungsgericht hat in der vergangenen Woche die derzeit geltenden Hartz IV-Sätze als "noch" verfassungsgemäß bezeichnet. Welchen Blick haben Sie darauf?

Das Urteil ist eine Ohrfeige mit Schalldämpfer. Die Sachverständigen im Gerichtsverfahren haben heftigste Kritik an der Berechnungsmethode des Regelsatzes geübt und durchgehend unsere Kritik an Rechentricks und willkürlichen Kürzungen wiederholt. Das Gericht ist aber keine Ersatzregierung. Das Urteil sagt: So lange die Bundesregierung Kriterien für die Festsetzung benennt, die nicht von vornherein und auf den ersten Blick willkürlich erscheinen, muss dies auch ein Bundesverfassungsgericht hinnehmen. Ich hätte mich über ein mutigeres Urteil gefreut. Das Urteil zeigt aber: Man darf die politisch Verantwortlichen nicht aus ihrer Verantwortung entlassen und nur auf die Gerichte vertrauen, die das gröbste Unrecht schon wieder abbiegen mögen.

Als Sie im vergangenen Monat ein „Recht auf Urlaub“ forderten, machte das Schlagzeilen. Sie sagten, es sei ein Zeichen von Armut, wenn Menschen nicht in den Urlaub fahren könnten. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) beeindruckte das nicht. Geld für Reisen und Freizeit sei bereits im pauschalen Grundbetrag für Hartz-Beziehenden enthalten, ließ sie über einen Sprecher verlauten...

Frau Nahles weiß wie der Regelsatz berechnet wird. Das macht ihre Aussage so arglistig. Grundlage für die Regelsatzberechnung ist eine Stichprobe der Ausgaben der ärmsten Haushalte in Deutschland. An dieser Stichprobe kann man ja gerade ablesen, dass arme Menschen nicht in den Urlaub fahren. Im Regelsatz sind dementsprechend 3 Euro monatlich für Fernreisen vorgesehen. Wenn Frau Nahles von Berlin aus damit an die Ostsee fahren will, müsste sie ab Spandau zu Fuß weiterreisen.
Übernachtungskosten werden gar nicht als regelbedarfsrelevant berücksichtigt. Frau Nahles müsste hinter Spandau hoffen, dass sie jemand aus Freundschaft beherbergt oder sich eine Brücke suchen.
Die letzte Bundesregierung war wenigstens so ehrlich, auf unsere diesbezügliche Anfrage zu antworten, dass sie davon ausgeht, dass Haushalte mit niedrigem Einkommen in der Regel keine Urlaube finanzieren können.

Haben Sie nicht den Eindruck, dass sich gerade jene, denen es in Deutschland gut geht, mit der Armut einer Minderheit abgefunden haben?

Weil die sozialen Spaltungen in den vergangenen Jahren tiefer geworden sind, erleben wir einerseits, dass einige die selbst abstiegsbedroht sind, sich aggressiv nach unten abgrenzen. Leider wird das gelegentlich von Politikerinnen und Politikern befördert. Wenn Beschäftigte und Erwerbslose gegeneinander ausgespielt werden. Zum anderen erleben wir, dass sich die Lebenswelten gerade in den Städten entmischen. Die Wohlhabenden und Bessergestellten bleiben zunehmend unter sich.

Im Vergleich zu den anderen 17 Ländern der Eurozone machen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland laut einer EU-Studie die meisten Überstunden. Auch meinen 61 Prozent, dass sie in den vergangenen 12 Monaten mehr in der gleichen Zeit schaffen müssen – das hat der Deutsche Gewerkschaftsbund herausgefunden. Wie sehen Sie die Entwicklung?

Überstunden sind eine Stressfalle. Die wachsende Zahl psychischer Erkrankungen spricht eine eindeutige Sprache. Zudem verhindern Überstunden neue Jobs. Deshalb will ich klar sagen: Überstunden, selbst wenn sie bezahlt werden, machen krank und blockieren den Kampf gegen die Erwerbslosigkeit – sie sind nicht Ausweis unserer Leistungsfähigkeit, sondern der Beweis zu niedriger Löhne und eines falschen Leistungsdrucks.

Die einen arbeiten bis zum Burnout – manche davon wenigstens auskömmlich bezahlt -, andere suchen verzweifelt nach einer Arbeit, von der sich ohne Existenzangst leben lässt, wenn sie denn überhaupt Erwerbsarbeit haben. Wie lässt sich in einer Gesellschaft, die immer mehr auf Effizienz und Leistung getrimmt wird, in der Gewinner und Verlierer in Kauf genommen werden, eine Gegenbewegung einleiten, die Solidarität und eine Umverteilung möglich macht?

Das sind Auseinandersetzungen, die auf vielen Ebenen stattfinden müssen. Wir arbeiten mit außerparlamentarischen Bewegungen daran, dem weit verbreiteten Eindruck der Alternativlosigkeit einer solchen gesellschaftlichen Entwicklung entgegenzutreten. Dazu gehören neben dem Nachdenken über gesellschaftliche Alternativen auch ganz kleinteilige Forderungen, die einst Selbstverständliches in Erinnerung rufen. Dazu gehört, dass es ein Recht auf ungestörten Feierabend, das Recht auf Urlaub – auch für Erwerbslose — gibt et cetera, et cetera.
Auf der anderen Seite kämpfen wir ganz konkret an der Seite der Erwerbslosenbewegung und der Gewerkschaften dafür, sozialen Rechten Geltung zu verschaffen.

Und was wären die ersten Schritte, um so einen Prozess politisch zu gestalten?

Die letzten Jahre haben wir uns viel mit Abwehrkämpfen herumschlagen müssen. Das war notwendig, ersetzt aber nicht Bündnisse, die in die Zukunft weisen. DIE LINKE wird im kommenden Jahr einen Zukunftskongress veranstalten. Darüber hinaus bereiten wir eine breite Kampagne gegen Prekarisierung vor. Wir befinden uns am Beginn spannender Zeiten.
 

linksfraktion.de, 16. September 2014