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Zeitenwende in der Atompolitik

Periodika,

Nach der Atomkatastrophe in Japan wird in Deutschland eine radikale Energiewende gefordert. Während die Bundesregierung taktiert, präsentiert DIE LINKE ein Programm für einen unverzüglichen Atomausstieg.

Einem Chamäleon gleich passt sich Kanzlerin Merkel (CDU) ihrer Umgebung an: Mal gibt sie sich als glühende Befürworterin der Atomindustrie, mal mimt sie die überzeugte Anti-AKW-Aktivistin. Am 6. September 2010, vor kaum einem halben Jahr, nennt sie ihren Deal mit den Bossen der vier größten deutschen Stromkonzerne eine „Revolution in der Energieversorgung“. Die Unternehmen dürfen ihre Atomkraftwerke im Schnitt zwölf weitere Jahre betreiben und mit zusätzlichen Profiten von bis zu 120 Milliarden Euro rechnen.


Die Öffentlichkeit ist empört. In Umfragen spricht sich die Mehrheit der Bevölkerung regelmäßig gegen Atomkraft aus. Die Anti-Atom-Bewegung wächst: Mitte September 2010 umzingeln rund hunderttausend Menschen in Berlin das Regierungsviertel, zwei Monate später protestieren im Wendland mehr als 50000 Menschen gegen die Castor-Transporte. In den darauffolgenden Wochen finden in ganz Deutschland Mahnwachen und Kundgebungen statt.


Kanzlerin Merkel und ihr Kabinett zeigen sich unbeeindruckt – bis zum 11. März 2011. An diesem Tag erschüttert ein gewaltiges Erdbeben Japan, das schwerer ist, als alle bisher gemessenen Erdstöße auf der Insel. Ihm folgt ein monströser Tsunami, der mit der Wucht einer Wasserstoffbombe über das Land hereinbricht und ganze Dörfer und Städte vernichtet. Im Atomkraftwerk Fukushima fällt die Notstromversorgung für drei Reaktorblöcke aus. Am nächsten Tag zerreißt eine Explosion das Dach des ersten Reaktors. Eine helle, radioaktive Wolke steigt auf. Die Strahlung auf dem Werksgelände übersteigt laut Angaben der Betreiberfirma Tepco erstmals das erlaubte Maß.


Radioaktives Trinkwasser in Millionenmetropole Tokio


Es ist die erste von vielen Explosionen, die fortan die Welt verängstigen werden, die gebannt auf das Gelände des havarierten Atomkraftwerks an der nordöstlichen Pazifikküste starrt. Innerhalb kurzer Zeit explodieren vier Reaktorgebäude, immer wieder bricht Feuer aus und katapultiert Radioaktivität in die Luft, tagelang glühen hochradioaktive Brennstäbe ungeschützt unter freiem Himmel. Aus den umliegenden Städten müssen zehntausende Menschen evakuiert werden. Binnen Tagen wird in Gemüse und Milch aus der Region Radioaktivität nachgewiesen. Sie steigt auch im Trinkwasser der 35-Millionen-Metropole Tokio. Und stetig wächst die Angst, es könnte noch viel schlimmer kommen.
 

Noch ist das Ausmaß dieser nuklearen Katastrophe nicht beschreibbar. In Deutschland hat sie aber bereits zu Konsequenzen geführt. Am 14. März 2011 verkündet Kanzlerin Merkel in Berlin eine auf den ersten Blick spektakuläre Kehrtwende: Mit einem Moratorium will sie die kurz zuvor beschlossene Laufzeitverlängerung für drei Monate aussetzen. Doch dieser Schritt ist rechtlich umstritten. Der Justiziar der Fraktion DIE LINKE, Wolfgang Neskovic, spricht von einem „vereinbarten Gesetzesbruch“. Auch die Regierung sei an geltende Gesetze gebunden und könne sie nicht einfach aussetzen, argumentiert der ehemalige Bundesrichter.


Schon am nächsten Tag ändert die Kanzlerin ihre Taktik. Nun soll die Laufzeitverlängerung doch nicht mehr ausgesetzt werden. Stattdessen vereinbart sie mit fünf CDU-Ministerpräsidenten, die ältesten sieben Atomkraftwerke für drei Monate vom Netz zu nehmen. Gleichzeitig sollen alle Reaktoren einer erneuten Sicherheitsprüfung unterzogen werden.
Erneut äußern Juristen rechtliche Bedenken. Der Paragraf des Atomgesetzes, auf den sich die Regierung bezieht, erlaubt die zeitweilige Stilllegung von Anlagen bei plötzlich auftretenden Gefahren. Doch was hat sich an der Sicherheitslage der deutschen Atomkraftwerke in den vergangenen Tagen geändert? Angesichts dieser rechtlichen Zweifel befürchten Experten, dass die Energiekonzerne mit Erfolg auf Schadenersatz klagen werden. Diese stellen zunächst nur Zahlungen infrage, zu denen sie sich als Teil des Deals mit der Regierung verpflichtet hatten und die zur Förderung erneuerbarer Energien genutzt werden sollten.


Ende des nuklearen Industriezeitalters


Unklar ist zudem, wie es nach dem Moratorium weitergehen soll. Werden die alten Reaktoren wieder ans Netz gehen? Was passiert mit den Restlaufzeiten, die die Energieunternehmen von einem Atommeiler auf den anderen übertragen können? Welche Auswirkungen hätte ein Atomausstieg auf die Stromversorgung in Deutschland? Fragen, die eine Diskussion in der ganzen Gesellschaft erfordern, da sich die möglichen Antworten auch auf die Gesellschaft als Ganzes auswirken werden.


Angesichts der Katastrophe in Japan fordert der Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE, Gregor Gysi, in der Plenardebatte im Bundestag am 17. März 2011 ein „Ende des nuklearen Industriezeitalters“. Das sei nicht nur „eine wissenschaftlich-technische Frage, sondern eine Menschheitsfrage“, sagt er. Es gehe nicht mehr um die zeitweilige Stilllegung einiger Atomkraftwerke, sondern um eine endgültige Abschaltung aller Atomkraftwerke. Tatsächlich leiden die deutschen Atomkraftwerke an gravierenden Sicherheitsmängeln. Teilweise stehen sie in Gegenden, in denen die Gefahr von Erdbeben hoch ist, mancherorts sind die Notkühlsysteme veraltet, und die meisten Atommeiler sind nicht gegen Flugzeugabstürze gesichert.


Zur selben Zeit erläutert die Fraktion DIE LINKE in einem Sofortprogramm, wie der Atomausstieg funktionieren kann. Sofort und dauerhaft sollen die sieben ältesten Reaktoren und das Atomkraftwerk Krümmel abgeschaltet werden. In einem zweiten Schritt soll der Bundestag kurzfristig ein Atomausstiegsgesetz beschließen, das die unverzügliche Stilllegung aller anderen Werke regelt. Zudem schlägt DIE LINKE vor, die Nutzung von Atomtechnologien für militärische und energetische Zwecke im Grundgesetz zu verbieten.


Mit diesem Programm geht die Fraktion DIE LINKE über den Atomkonsens hinaus, den SPD und Grüne im Jahr 2000 mit den Energiekonzernen ausgehandelt hatten: Die Energiekonzerne sollten ihre Atomkraftwerke bis über das Jahr 2020 hinaus betreiben dürfen. Zugleich wurde ihnen zugesichert, dass „die Bundesregierung keine Initiative ergreifen wird, um die Sicherheitsstandards und die diesen zugrundeliegende Sicherheitsphilosophie zu ändern“. Tatsächlich wurde seit Juni 2005 kein einziges deutsches Atomkraftwerk abgeschaltet.


Vollversorgung mit erneuerbaren Energien


In ihrem Programm fordert DIE LINKE außerdem, dass der Ausbau erneuerbarer Energien gefördert und die Energieeffizienz verbessert wird. Zudem soll das Netz der Hochspannungsleitungen um- und ausgebaut und die Entwicklung neuer Speichertechnologien unterstützt werden. Das Argument, Deutschland könne zurzeit nicht auf Atomkraft verzichten, weist Energieexpertin Dorothée Menzner (DIE LINKE) zurück. Seit Jahren exportiere Deutschland Strom ins Ausland, mit steigender Tendenz. Selbst die Bundesregierung verneint, dass durch das zeitweilige Abschalten von acht Atomkraftwerken Stromlücken auftreten können.


Menzner und die Fraktion DIE LINKE verfolgen ein ambitioniertes Ziel: Nach dem Atomausstieg soll die Stromversorgung in Deutschland in den kommenden Jahrzehnten vollständig auf erneuerbare Energiequellen umgestellt werden. Dass das bis spätestens Mitte des Jahrhunderts möglich ist, belegt ein Gutachten des Sachverständigenrats für Umweltfragen der Bundesregierung vom Januar 2011: „100 Prozent Vollversorgung mit Strom aus erneuerbaren Energien ist möglich, sicher und bezahlbar.“


Der 11. März 2011, der Tag, an dem in Japan die Katastrophe begann, stellt eine Zäsur dar, einen „Zivilisationsbruch in der Geschichte des industriell-kapitalistischen Zeitalters“ (Gysi). Die Wette, die die Menschheit seit den 1950er Jahren mit der Atomkraft eingegangen ist, hat sie verloren. Die Reaktorkatastrophen in Harrisburg in den USA im Jahr 1979, im sowjetischen Tschernobyl im Jahr 1986 und nun in Fukushima in Japan belegen: Die Kräfte der Natur und der Technik lassen sich nicht immer beherrschen. Nun ist es an der Zeit, dass die Menschheit in ein neues Zeitalter aufbricht, das Zeitalter der erneuerbaren Energien.