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»Wir können die Männer nicht allein kämpfen lassen«

Periodika,

Der Lebensweg und der politische Werdegang von Silvia Lazarte stehen beispielhaft für den sozialen und demokratischen Wandel in Bolivien, der sich mit der Wahl des linken Präsidenten Evo Morales Ende 2005 Bahn brach. Als Indigene, die keine Universitäts- und kaum eine Schulbildung genießen durfte, steht sie der Verfassunggebenden Versammlung vor. Die alte Elite des Landes begegnet ihr mit rassistischen Angriffen.

Doch ihre lange Gewerkschaftsarbeit, als Anführerin der Koka-Bauern ihrer Region, hat Silvia Lazarte ausreichend politische Erfahrung mitgegeben, um diese Auseinandersetzung zu bestehen. Mitte Oktober haben Zehntausende mit einem Marsch nach La Paz und einer Kundgebung vor dem Kongress für das Verfassungsreferendum demonstriert. Anfang November 2008 besuchte Silvia Lazarte auf Einladung der Bundestagsfraktion DIE LINKE Deutschland. Dabei berichtete die Bolivianerin über die aktuelle Situation in ihrem Land.

»Der Verfassungsentwurf war der Bevölkerung übergeben worden. Das Gesetz über die Abhaltung des Verfassungsreferendums konnte im Kongress jedoch lange nicht verabschiedet werden. Wir marschierten deshalb in die Hauptstadt, um zu erreichen, dass das Referendum endlich beschlossen wird. Tatsächlich soll das nun am 25. Januar geschehen«, erklärte Silvia Lazarte.

Die bislang gültige Verfassung berücksichtigt nicht die Interessen der Frauen, Bauern und Indigenen. Der neue Verfassungsentwurf hingegen anerkennt nicht nur diese Rechte, sondern spricht auch der Natur Achtung und Schutz aus. Das gilt insbesondere für das Wasser, das als Naturressource der ganzen Bevölkerung zur Verfügung stehen muss. Wasser darf nicht kapitalistisch ausgebeutet oder privatisiert werden. »Wir wollen die Gleichberechtigung und die aktive Beteiligung der Frauen am politischen Leben. Im neuen Verfassungsentwurf legen wir fest, dass die Frauen künftig in allen Parlamenten zu mindestens 50 Prozent vertreten sein müssen. Wir Frauen können die Männer nicht alleine kämpfen lassen. Es ist ein Kampf der gesamten Familie: der Männer, der Frauen und der Jugend«, berichtet die Präsidentin weiter.

Der Marsch habe gezeigt, dass sich die sozialen Gruppen politisiert haben. Sie hätten viel Geduld bewiesen und den Bedrohungen standgehalten, denen alle ausgesetzt waren. Es gehe darum, ein geregeltes Leben zu führen und friedlich der Arbeit nachzugehen. Bis zum Referendum müsse der Verfassungsentwurf in allen Winkeln des Landes bekannt gemacht werden.

Die Entwicklungspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE im Bundestag, Heike Hänsel, würdigte die Leistungen der Bolivianerinnen und Bolivianer in den zurückliegenden Monaten als positives Zeichen für einen linken Aufbruch in Lateinamerika. »Silvia Lazarte steht als Frau und Indigene für diese Entwicklung. Dass man ihr dieses hohe Amt übertrug, ist ein gutes Beispiel für den sozialen und demokratischen Aufbruch in Bolivien«, sagte Heike Hänsel.
Lazarte war in der Provinz Chapara im Norden des Departements Cochabamba Funktionärin der Gewerkschaftsbewegung. Sie führte den Job ihres Vaters weiter, als er die Region verlassen musste. Unter früheren Regierungen war die Familie Bedrohungen und Verfolgung ausgesetzt. Unter dem Vorwand des Kampfes gegen den Drogenhandel wurden Aktionen gegen die Koka-Bauern und gegen die Landbevölkerung insgesamt unternommen. »Viele von uns wurden gefoltert, auch ich selbst. Ich leide heute noch unter den Folgen«, erzählt Sivia Lazarte.

In den Verfassungsprozess sollten nicht nur Berufspolitiker, sondern alle Bereiche der Bevölkerung einbezogen werden. Es gab viele Widrigkeiten, aber gemeinsam sei in der Verfassunggebenden Versammlung erfolgreiche Arbeit bis zur Einbringung des Verfassungsentwurfs geleistet worden. Sie sei stolz, dass zum ersten Mal in der bolivianischen Geschichte auch Frauen an der Ausarbeitung einer neuen Verfassung beteiligt waren. »Deshalb hatte es eine gewisse Logik, dass ich als Frau und Indigene, die keine Berufspolitikerin ist, die Präsidentin der Verfassunggebenden Versammlung wurde«, sagt die Bolivianerin und erntet den Applaus aller Mitglieder der Linksfraktion im Bundestag.
Alexander King