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»Wir brauchen einen neuen Gesellschaftsvertrag über Grundrechte«

Im Wortlaut,

                                                                                                      Foto: Mike Herbst

Martin Delius, Vorsitzender der Piratenfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, nimmt in dieser Woche an der Linken Woche der Zukunft teil. Im linksfraktion.de-Interview spricht er über Politiklust und Politikfrust, das Verhältnis etablierter Parteien zu den Bürgerinnen und Bürgern, Chancen linker Politik und die Realität von Polizeistaat und Überwachung
 

Herr Delius, Sie sind jetzt mehrere Jahre im Politikbetrieb. Nach Ihren bisherigen Erfahrungen: Wie bringen Sie Anspruch und Wirklichkeit, Politiklust und Politikfrust miteinander Einklang?

Martin Delius: Mir hilft die Konzentration auf die Themen, die wir gemeinsam vertreten. So bekommt der Frust über eingeschlafene Strukturen und apathische Spitzenpolitiker*innen eine produktive Komponente und klassische Oppositionsarbeit wird mit Begeisterung für mutige Veränderungen und Visionen lebhafter. Das versuche ich öffentlich zu vertreten. Das Feedback – auch das Negative – motiviert mich dann nur umso mehr.

Draußen auf der Straße herrscht nicht immer, aber oft Politikverdruss – eine Mischung aus Resignation, Ressentiment, Empörung und Wut. Woran liegt das?

Die noch aus der alten Bonner Republik übernommenen und geübten klassischen Kommunikationsweisen zwischen der politischen Elite und dem stets betroffenen Individuum reichen nicht mehr aus. Sie behindern einen zufriedenstellenden Informationstransport und sind oft nicht geeignet, glaubwürdige Erklärungen für die komplexen Vorgänge innerhalb dieser Elite zu liefern. Gleichzeitig sehen sie einen verbindlichen und offenen Rückkanal nicht vor. In Zeiten der medialen Revolution sind viele Menschen zu Recht nicht mehr mit dem Weg über Parteien, Bürgerbriefe, Petitionen oder Sprechstunden zufrieden, wenn sie ein Anliegen vorbringen wollen oder Antworten erwarten. Journalismus und seine steigende Abhängigkeit von der kapitalistischen Verwertungslogik hat es immer schwerer, eine immer schnelllebigere und komplexere internationalisierte politische Bühne kritisch zu beleuchten. Die Parteien haben sich dieser verkürzten Berichterstattung längst angepasst und verzichten immer öfter auf tiefgreifende Kritik und Reflexion über die klassischen Medien.

Woran krankt das politische System, wo liegen die Selbstheilungskräfte –  gerade, wenn Sie an etablierte Parteien und ihr Verhältnis zu Bewegungen denken?

Grundlage unserer politischen Ordnung sind die Parteien. Sie haben die Aufgabe für Durchlässigkeit zwischen politischer Vertretung und der Basis der politischen Gesellschaft zu sorgen. Hier fehlen Instrumente, die neuen Ansprüchen nach Einbindung in Entscheidungsfindung und politischer Mehrheitsbildung genügen. Die etablierten politischen Parteien der Republik teilen unter sich meist aus Tradition eine Reihe von Institutionen des politischen Aktivismus und des Protestes auf. Für Bewegungen, die in Zeiten internationalisierter Netzwerke und beschleunigter Kommunikation wesentlich dynamischer agieren und keinen festen Parteienbezug haben, fehlen die Schnittstellen. Auf der einen Seite stehen durchbürokratisierte Apparate inklusive möglicher beruflicher Laufbahnen, auf der anderen eher informelle und viel durchlässigere Zusammenhänge. Moderne Bewegungen sind oft erst dann in der Lage, in klassischen, festen Vertretungsstrukturen bei Politik und Verwaltung anzuknöpfen, wenn sie den Charakter einer dynamischen und kreativen Bewegung zu Gunsten einer stabilen und etablierten Institution hinter sich gelassen haben. Veränderung wird so nicht gefördert.

Sie diskutieren bei der Linken Woche der Zukunft auf dem Podium unter dem Titel "die nächste Linke" mit. Welche Chancen sehen Sie für linke Politik unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen?

Linke Politik zeichnet sich durch das Formulieren von politischen Visionen für die zukünftige solidarische und faire Gesellschaft aus. Laute Kritik an bestehenden Gesellschaftsverhältnissen und teils menschenfeindlichen Systemen erscheint heute nötiger denn je. Die Probleme zeigen dabei einen möglichen Weg aus der Krise europäischer Demokratien unter dem Einfluss neokonservativer und nationalistischer Interessenslagen auf. "Die nächste Linke" muss eine junge, europäisch geeinte Linke werden, die in einer Vielfalt aus gleichberechtigten Institutionen in verschiedenen Gesellschaftsbereichen die notwendige zeitgeistliche Wende wagt. Gemeinsame Politik in allen Parlamenten ist neben internationalen Protest- und Aktionsformen und dem Führen eines gesamteuropäischen Dialogs über gemeinsame Visionen nur ein Teil einer progressiven zukunftsfähigen Linken. Die Chancen dafür stehen gut, wenn nationale Interessen einzelner Institutionen zu Gunsten von flexiblen internationalen Bewegungen weiter in den Hintergrund treten.

Bürgerrechte erscheinen derzeit oft genug als politische Manövriermasse. In der vergangenen Woche hat die Große Koalition beschlossen, die Vorratsdatenspeicherung wieder einzuführen...

Nicht überraschend. Um ehrlich zu sein, halte ich die Vorratsdatenspeicherung nur für ein Puzzlestück in der Umsetzung des staatlichen Repressions- und Überwachungsinteresses. Solange eine Totalüberwachung und –kontrolle für Menschen auf der Flucht in Deutschland und Europa an der Tagesordnung ist und es den staatlichen Organen ohne weiteres erlaubt ist, rassistische Strukturen zu finanzieren oder Proteste zu überwachen, solange die Befugnisse des Bundesverfassungsgerichtes öffentlich in Zweifel gezogen werden dürfen, halte ich diese eine Form der anlasslosen Speicherung von Daten nur für einen Nebenschauplatz. Wir brauchen endlich eine Diskussion über die Realität des Polizeistaates und der staatlichen Überwachungskultur. Die politische Elite der Republik hat den staatlichen Überwachungsinteressen viel zu lange ohne Widerstand zugesehen. Internationale Verträge müssen geändert werden. Wir brauchen einen neuen Gesellschaftsvertrag über Grundrechte im Zeitalter der totalen Vernetzung.

Sie machen Politik im Berliner Abgeordnetenhaus und sind Vorsitzender des Untersuchungsausschusses zum Fiasko um den Flughafen BER. Wie sehen Sie die derzeitige Entwicklung der Stadt unter sozialen Aspekten?

In einem Wort: dramatisch. Während die Arbeitslosenzahlen nominell sinken, steigen alle Fallzahlen von armutsbegleitenden Problemen im Bereich Sozialer Hilfen, Wohnen, Kriminalität oder Jugendhilfe dramatisch an. Die Berlinerinnen und Berliner können sich ihre Stadt zunehmend nicht leisten. Sie werden verdrängt und gegängelt. Die seit Jahren geübte Berliner Austerität führt durch Personalmangel, Infrastruktur in unterirdischem Zustand und einer in allen Belangen völlig überforderten Berliner Verwaltung dazu, dass Menschen, die es sich nicht leisten können, den staatlichen Mangel privat auszugleichen, mehr und mehr aus der Stadtgesellschaft ausgeschlossen werden. Die soziale Mischung droht längst völlig zu kippen.

linksfraktion.de, 20. April 2015