Zum Hauptinhalt springen
Dietmar Bartsch © Marc DarchingerFoto: Marc Darchinger

Weniger Markt, mehr politische Gestaltung!

Im Wortlaut von Dietmar Bartsch, The European,

Gastkolumne von Dietmar Bartsch für The European

 

In einer Tageszeitung las ich zwei scheinbar widersprüchliche Leserbriefe: „Wir haben immer gesagt, der Aufschwung Ost findet im Westen statt“, hieß es aus dem brandenburgischen Wittstock. Ein Leser aus Mülheim a.D. Ruhr hingegen kritisierte DIELINKE für eine „ostlastige Politik, die die Probleme unserer überschuldeten Kommunen im tiefen Westen … mit ihren extremen sozialen Brennpunkten vollkommen ignoriert.“ Beides keine Einzelmeinungen, beides überspitzt, beides mit einer Portion Wahrheit.

 

Für die meisten Westdeutschen verbinden sich mit der Vereinigung wenig konkrete positive Erlebnisse. Die gravierendste Veränderung war vielmehr, dass sie fortan den „Soli“ berappen mussten. Der wird auch von den Ostdeutschen kassiert. Die gerieten jedoch in eine neue Ordnung. Unbestritten mit Gewinn: volle Regale, aufblühende Städte, Reisefreiheit. Schlussendlich frohlockt haben andere. Billige Arbeitskräfte, schwache Gewerkschaften, reichlich Fördermittel – traumhafte Bedingungen aus Kapitalsicht. Dennoch blieb das Jobwunder aus. Viele Ossis standen nicht mehr beim Einkauf, sondern beim Arbeitsamt Schlange.

Goldrausch im Osten

Und die Eliten? Im Osten wurden sie abgewickelt. Für viele aus den alten Bundesländern wurde der Landstrich zwischen Oder und Elbe zum Goldgräbergebiet. Beamte kletterten auf der Karriereleiter, Versicherungen machten Milliardengewinne, 50 Prozent Sonderabschreibung für Immobilienerwerb ließ Miethaie jauchzen. „Volk von hier, Eliten von drüben“, meinte die FAZ.

Alles Geschichte? Offiziell beträgt der Durchschnittslohn-Ost derzeit 87 Prozent des Westniveaus, oft beläuft sich der Unterschied auf über 20 Prozent. Im Westen erhalten 19 Prozent der Beschäftigten Niedriglohn, im Osten fast 35 Prozent. „Land der Frühaufsteher“ – was als sinnfreier Slogan des Landes Sachsen-Anhalt daherkam, erhält eine bittere Bedeutung, weil immer noch mehr als 400.000 Ostdeutsche in die alten Länder pendeln, und zwar weiter als die bundesdurchschnittlich 16,8 Kilometer zwischen Wohn- und Arbeitsort. Die politisch unsinnigen Sanktionen gegen Moskau, schaden besonders der ostdeutschen Wirtschaft. Sachsen musste 2016 beim Export nach Russland einen Rückgang von fast 30 Prozent hinnehmen. In Mecklenburg-Vorpommern schrumpften die Ausfuhren um 51 Prozent, auch Hamburg und Bremen erlitten Verluste. Deutschlandweit gingen die Exporte Richtung Russland aber nur um 0,3 Prozent zurück.

Ohne Perspektive

Drei Jahrzehnte nach der Einheit sind die Ostdeutschen vielfach nicht gleichgestellt. Es fehlt an Perspektive. Trauriges Symbol dafür ist die Ost-West-Rentenangleichung, nunmehr angekündigt für das Jahr 2025. Wer 1990, im Jahr der Einheit, mit 65 in die Ost-Rente ging, muss 100 Jahre alt werden, um die Rentenangleichung zu erleben! Das ist einfach irre! Weil die soziale Herkunft hierzulande maßgeblich über Bildungs- und Karrierechancen entscheidet, schauen viele Ostdeutsche auch in dieser Hinsicht in die Röhre. Als das Kölner Institut der deutschen Wirtschaft Anfang 2017 jubelte, die Abwanderung aus den neuen in die alten Bundesländer sei niedrig wie nie, meinte Iris Gleicke, die Ostbeauftragte der Bundesregierung, lakonisch, in vielen ostdeutschen Regionen gebe es schlicht niemanden mehr, der abwandern könne. Wie Recht sie hat!
Keine Blaupause für Sozialabbau

„Zu viel Markt, zu wenig politische Gestaltung“, so charakterisierte Klaus von Dohnanyi dieser Tage die Vereinigungspolitik. Das Prinzip muss umgekehrt werden. Zum einen, weil gleichwertige Lebensverhältnisse im Grundgesetz festgeschrieben und nach wie vor nicht realisiert sind. Zum anderen, weil Fehlentwicklungen nicht zur Blaupause für bundesweiten Sozial- und Demokratieabbau werden dürfen. Wir müssen uns diesem bereits laufenden Prozess entgegen stellen! In gesamtdeutschem Interesse! Heute sitzen die Kommunen in Nordrhein-Westfalen auf dem höchsten Schuldenberg. Kinderarmut ist in Schleswig-Holstein so wenig zu akzeptieren wie in Thüringen. Alleinerziehenden droht Altersarmut in Leipzig-Connewitz wie in Bremerhaven-Lehe. Überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit und unterdurchschnittlicher Lohn betreffen viele Ostdeutsche, aber z.B. auch viele Frauen in den alten Ländern. Beim Breitbandausbau hinkt der Oberbergische Kreis ebenso hinterher wie die Uckermark, und während „Stuttgart 21“ oder der „BER“ Milliarden Steuergelder verschlingen, klagen im Osten Deutschlands Industrie und Tourismus über unzulängliche Verkehrsanbindungen auch nach Osteuropa.

Auch nach 2019 besondere Beachtung des Ostens

Der Osten bleibt die größte Ansammlung von strukturschwachen Regionen bundesweit. Soziale oder regionale Herkunft dürfen Lebenschancen nicht einengen. 2019 wird der Solidarpakt II auslaufen und die Fördermittel der EU werden rückläufig sein. Die besondere Aufmerksamkeit der Bundespolitik für den Osten bleibt notwendig. Ein mit Entscheidungskompetenz ausgestattetes “Ostministerium” wäre eine Möglichkeit. Kluge regionale Wirtschaftsförderung und nachhaltige Strukturpolitik müssen gute Arbeit für gutes Geld möglich machen und die Forschungs- und Industrieentwicklung mit dem ökologischen Umbau verbinden. Für Zeiten des Niedriglohns brauchen wir für die Betroffenen in Ost wie West eine Hochwertung in der Rente. Letztlich muss mit einem Mindestlohn, der zügig auf 12 Euro angehoben werden sollte, dem Niedriglohnsektor der Kampf angesagt werden.

The European,