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Red Ribbon, rote Schleife, das weltweite Symbol der Solidarität mit HIV-Infizierten und AIDS-Kranken © iStock/burakkarademir

Was haben wir für die Pandemie jetzt aus der Aidskrise gelernt?

Kolumne,

Um es vorweg zu sagen: Natürlich lassen sich Covid-19 und Aids nicht gleichsetzen. Zu unterschiedlich sind die Übertragungswege, die Krankheitsverläufe, die Mortalitätsraten. Und dennoch kann die Community aus der Aidskrise wichtige Lehren ziehen. Genauso wichtig wird es sein, diese Lehren rasch und mit starker Stimme in den öffentlichen Diskurs einzubringen. Denn jetzt werden die Weichen für den weiteren Umgang mit der Pandemie und damit auch für unser gesellschaftliches Miteinander der nächsten Monate, wenn nicht Jahre, gestellt.

Die Situation, in der wir stecken, ist durchaus mit der frühen Aidskrise Mitte der 1980-er Jahre vergleichbar. Damals wussten die Fachleute ähnlich wenig über HIV, die Debatten waren ähnlich heftig und alle tasteten sich mühsam an eine neue Wirklichkeit heran. Je weniger die Wissenschaft weiß, umso drastischer die Maßnahmen. Das war auch damals so, das ist jetzt auch so. Die ersten Safer-Sex-Regeln ließen außer Wichsen und Streicheln nicht viel zu. Aus Bayern kamen Vorschläge, Infizierte zu isolieren, in ein Lager zu sperren. Zum Glück kam es anders. Denn der westdeutsche Weg, die Betroffenen in die politischen Diskurse einzubeziehen und auf Information und freiwillige Verhaltensänderungen zu setzen, war am Ende erfolgreicher als diejenigen Länder, die stärker auf Restriktion setzten. 

Gefragt ist Eigenverantwortung

Die persönliche Referentin der damaligen Gesundheitsministerin Rita Süssmuth, Regina Görner, formuliert die Lehre aus der Aidskrise so: »Eine langfristige Strategie kann immer nur auf der Eigenverantwortlichkeit der Menschen beruhen, denn wir können nicht neben jeden einen Polizisten stellen, der sein Verhalten kontrolliert. Politik muss Menschen dazu bringen, einzusehen, was nützt und was schadet und das Nützliche zu tun und das Schädliche zu lassen.«

Das Kondom war spätestens ab 1986 ein wirksames Mittel zur Eindämmung des Virus. Tatsächlich aber war seine Wirksamkeit wissenschaftlich gar nicht so gesichert, wie das rückblickend heute den Anschein hat. Wichtig war vor allem die Symbolkraft, die davon ausging: Es verschaffte in der Misere eine Perspektive. Es führte von der Phase der Panik in die Phase der allmählichen Handhabbarkeit. In der aktuellen Pandemie können Atemmasken und Abstandsregeln mit Zeit und Geduld Ähnliches leisten. 

In der Aidskrise haben wir auch gelernt, wie wichtig Kampagnen sind, um Menschen aufzuklären und sie in die Lage zu versetzen, sinnvoll zu handeln. HIV ist bis heute eine unheilbare Krankheit und dementsprechend gibt es in der Community von den 1980-ern bis heute Safer-Sex-Kampagnen. Kampagnen, die dem jeweiligen Wissenstand immer wieder angepasst werden. Ähnliche Aufklärungskampagnen könnte es für die derzeitige Pandemie auch geben. Was Politik dabei besonders aus der Aidskrise lernen kann, ist, Betroffenengruppen und ihre Organisationen frühzeitig in die Entscheidungsprozesse miteinzubeziehen. Derzeit wären es die Interessenvertreter der Senioren und Seniorinnen, der Pflegekräfte, des medizinischen Personals und der chronisch Kranken. Sie müssen gehört und ihre Forderungen berücksichtigt werden in einem politischen Fahrplan durch die Covid-Krise. 

Test: ja, nein, jein

Für schwule Männer ist es übrigens seit Langem Alltag, sich regelmäßig auf HIV testen zu lassen. HIV-Negative auf Antikörper und HIV-Positive auf ihre Viruslast. Schwule Männer wissen um die Vorteile, die es bringt, den eigenen Status zu kennen. Sie wissen aber auch um die wiederkehrenden Ängste, wenn sie zum Test gehen. Und sie wissen, was es bedeutet, wenn eine Community in unterschiedliche Serostatus aufgeteilt wird. Diese Erfahrung kann für alle auch in der Covid-Krise äußerst hilfreich werden. Die Community besitzt einen Informations- und Erfahrungsvorsprung, den sie in die gesamtgesellschaftliche Debatte einbringen kann und sollte. Diese Erfahrungen sollten lautstark in den gesellschaftlichen Diskursen der nächsten Wochen und Monate eingebracht werden.

Dirk Ludigs ist freier Journalist