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Was alles möglich ist!

Periodika,

Unvergessen die Wahlnacht 2005: zu erleben wie Bundeskanzler Schröder die Kontrolle über sich verliert, über seine Gesichtszüge, über sein Lachen, über seine Gesten, über seine Worte … Sturz aus der Macht. Und dies zu erleben in einem Moment, in dem feststeht, dass ich Mitglied des Bundestages sein werde. Sehe ich dieses öffentliche Schauspiel einer Abwahl immer noch mit meinen »journalistischen« Augen oder schon mit »politischen«?

Die versteinerte Miene der Herausforderin, das müde Einmischen des Außenministers, der genussvoll hohe Ton des liberalen Chefs, das zufriedene Gesicht von Lothar Bisky … Beobachte ich das mit »journalistischem« oder »politischem« Blick?

Ich weiß nur, dass ich dachte: Wie gut, dass es eine Verfassung gibt, ein Parlament, feste Regeln, die sich Geschäftsordnung nennen. Und meine Neugier auf die Arbeit in diesem Rahmen einer Demokratie - sowieso das Motiv für meinen Wechsel in die Politik - meine Neugier wuchs in dieser Nacht. Der Machtwechsel in dieser Nacht war Ausgangspunkt für unsere politische Arbeit in dieser Legislaturperiode - und wir waren der Ausgangspunkt für diesen Machtwechsel. Die Zeit der alten Blöcke war vorbei. LINKS wirkte schon in diesem allerersten Augenblick.

»Seid Sand, nicht Öl im Getriebe!« Dieser alte Satz von Günter Eich, für den mich schon meine Kommilitonen in Hamburg ausgelacht haben, an dem ich aber trotzdem hängengeblieben bin, dieser alte Satz war eine gute Handlungsanleitung für journalistisches Arbeiten - und sollte es auch für die politische Arbeit in der Opposition sein. Allerdings, wer sich danach verhält, bekommt es zu spüren. Vom ersten Tag an wollte die Macht uns auf den Platz der Ohnmacht verweisen.

Schnell und unerbittlich wie eine Guillotine fiel das Urteil ABGELEHNT und machte kurzen Prozess mit unseren Ideen und Entwürfen von einer friedlicheren und gerechteren Politik in den Ausschüssen wie im Plenum, und so heißen sie heute noch.

Man müsste sich einmal die Mühe machen, genau nachzuzählen, wie viel Ablehnungen es waren in diesen vier Jahren. Hunderte? Tausende? Andererseits lohnt sich das wiederum nicht, denn Erstaunliches passierte. Die abgelehnten Ideen und Entwürfe verschwanden nicht. Sie ließen sich durch diesen Prozess der Übermacht nicht einfach »erledigen«. Sie blieben im politischen Raum - obwohl auch die Presse sie totschwieg oder diffamierte. Die Bevölkerung nahm sie auf. Sogar mehrheitlich. Und so kamen unsere Vorschläge zur Rente, zur Lohnentwicklung, zum Sozialstaat und zur militarisierten Außenpolitik wieder ins Parlament zurück. Von uns selbst zum wiederholten Mal eingebracht, aber auch von den anderen Parteien. Auf diese Weise kam Bewegung ins abgekartete Spiel. Es zeigte sich: Gegenstimmen können wirken, sie müssen nicht ohnmächtig bleiben. So haben wir Veränderungen erreicht. Veränderungen, die die Mehrheit übrigens lieber heute als morgen wieder zurücknehmen würde, wenn es uns nicht mehr gäbe im Parlament.

Und genau da liegt unsere Aufgabe für die Zukunft oder sagen wir bescheidener für die nächste Legislaturperiode: Wir müssen stärker werden. Wir müssen die Stimmen der Bevölkerung ins Parlament holen. Die Mehrheit der Bevölkerung will unsere Kriegsbeteiligung in Afghanistan beenden, will keine Rente mit 67, will eine andere Umverteilung der erarbeiteten Reichtümer dieses Landes als bisher, will ein gerechteres Bildungssystem, will kulturelle Teilhabe und Teilnahme für alle und von Anfang an. Der Skandal der herrschenden Politik besteht ja darin, dass sie kalt gegen den Willen der Mehrheit regiert. Die Mehrheit im Parlament ist eine andere, als die im Volk. Diesen Widerspruch müssen wir auflösen. Und wir müssen dies als Parias, als Ausgegrenzte leisten, ganz selbstbewusst. Wir sind die, die anderes wollen.