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»Von der Angst nicht überwältigen lassen«

Im Wortlaut von Frank Tempel,



"Man darf sich von der Angst nicht überwältigen lassen", sagt Frank Tempel, Leiter des Arbeitskreises Arbeitskreis Demokratie, Recht und Gesellschaftsentwicklung und stellvertretender Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE. im Bundestags, im Interview. Auch er war entsetzt über die Taten der vergangenen Wochen in Würzburg, München, Reutlingen und Ansbach. Aber er glaubt an die demokratische Gesinnung der Bevölkerung in Deutschland: "Jahrzehnte friedlichen Zusammenlebens werden wir uns nicht kaputt machen lassen von Fanatismus und aufkommenden Nationalismus oder gar Rassismus." In der Debatte um die innere Sicherheit lehnt er übertriebene Maßnahmen ab: "Die Gesellschaft muss ausdiskutieren, wieviel Sicherheit sie will und zu welchen Abstrichen bei der Freiheit sie bereit ist. Die LINKE steht für Freiheit."

Erst die Axt-Attacke bei Würzburg, dann der Amoklauf in München, der Angriff mit einem Döner-Messer in Reutlingen und der erste Selbstmordanschlag in Deutschland in Ansbach: Welchen Eindruck haben diese Anschläge bei Ihnen hinterlassen?

Frank Tempel: Zuerst Entsetzen, dann Trauer und auch Sorge. Ich habe Freunde in München. Das lässt einen nicht kalt. Ich habe mir aber auch gesagt: Man darf sich von der Angst nicht überwältigen lassen. Zu viele Menschen verfallen in Panik. Wir sind aber bei aller Tragik der Ereignisse immer noch eines der sichersten Länder der Welt.  

Was verbindet diese Taten innerhalb weniger Tage und was nicht?

Die Fälle unterscheiden sich sehr stark. Das eine war ein Amoklauf, das andere eine Beziehungstat und der Anschlag in Ansbach offensichtliche ein Terroranschlag. Leider vermischen sich die Dinge im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu sehr. Die großen Amoktaten der letzten Jahre Erfurt und Winnenden wurden nicht im Zusammenhang mit Islamismus gedacht. Auch Beziehungstaten kommen immer wieder vor, aber ein Stichwort wie "Döner-Messer" lässt viele Menschen sofort an die per Video verbreiteten Gewalttaten des IS in Syrien denken. Wir müssen lernen genauer hinzusehen und unser Denken nicht von der Propaganda des IS bestimmen zu lassen.  

Wie schwerwiegend ist die aktuelle Bedrohungslage?

Der IS ist in Syrien und im Irak in der Defensive. Über wichtige Städte hat er die Kontrolle verloren und aus ganzen Provinzen wurde er verjagt. Um Erfolge vorweisen zu können, setzt er auf Anschläge in aller Welt. Offensichtlich gelingt es ihm aber nicht mehr Anschläge mit einer Gruppe von Attentätern, Kriegswaffen und professionell hergestellten Bomben, wie noch in Paris und Brüssel, durchzuführen. Die Strategie lautet jetzt, dass Einzeltäter Alltagsgegenstände als Waffe einsetzen sollen. Das ist ein Zeichen von Schwäche, nicht von Stärke.  

Die Menschen in Deutschland sind beunruhigt und verunsichert, aber verhalten sich überwiegend vernünftig: Wie schätzen Sie die Folgen der Anschläge für das Zusammenleben in Deutschland langfristig ein?

Ich habe großes Vertrauen in die demokratische Gesinnung der Bevölkerung. Jahrzehnte friedlichen Zusammenlebens werden wir uns nicht kaputt machen lassen von Fanatismus und aufkommenden Nationalismus oder gar Rassismus. Leider gibt es auch im demokratischen Spektrum Parteien,  Parteiströmungen oder Einzelpersonen, die aus den verständlichen Ängsten der Menschen politisches Kapital schlagen wollen. Das verstärkt letztlich die Ängste weiter, fördert Misstrauen und entmutigt diejenigen, die sich für ein friedliches Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religionen einsetzen. Auf keinen Fall kann das für uns LINKE ein Ansatz sein.

Auf der einen Seite steht der Wille, Menschen auf der Flucht zu helfen und sie zu integrieren, auf der anderen Seite das Schutzinteresse der Bevölkerung in Deutschland. Wie kann dieser Balanceakt aus LINKER Sicht gelingen?

Ich sehe keinen Balanceakt, weil "die Flüchtlinge" keine Bedrohung sind. Regelmäßige BKA-Berichte im Innenausschuss zeigen deutlich, dass die Kriminalitätsraten bei Flüchtlingen auf dem gleichen Niveau wie in der einheimischen Bevölkerung sind. Vorkommnisse wie in Köln sind zu verurteilen und müssen konsequent verfolgt werden. Die Fokussierung auf reale und vermeintliche Taten von Flüchtlingen lässt aber völlig außer Acht, dass Kriminalität auch vor der Flüchtlingswelle des letzten Jahres ein großes Problem war. Da gibt es viele hausgemachte Gründe. Die reichen von sozialen Verwerfungen bis hin zum Abbau der Polizei in Größenordnungen.    

Die Debatte um die innere Sicherheit hat gerade erst begonnen. Es geht um den Einsatz der Bundeswehr im Innern, illegalen Waffenhandel, mehr Polizei, den Aufbau einer Hilfspolizei mehr Videoüberwachung, die Anonymität im Internet. Was davon ist sinnvoll?

Die Ereignisse in München zeigen, dass in ausreichender Anzahl vorhandenes und gut ausgebildetes Personal für solch einen komplizierten Einsatz entscheidend sind. Bayern hat im Gegensatz zu vielen Ländern und dem Bund keine Stellen bei der Polizei gestrichen, sondern vermehrt Polizistinnen und Polizisten eingestellt. Dieses Vorgehen zahlte sich aus. Hingegen sind Pläne, eine Wachpolizei einzuführen, fahrlässig. In einer zwölfwöchigen Ausbildung, wie in Sachsen geplant, kann nicht ansatzweise eine fachlich, rechtlich und menschenrechtlich fundierte Ausbildung erfolgen. In den Polizeien der Länder dauert dies in der Regel zwischen 24 und 36 Monate.

Gegen einen Bundeswehreinsatz spricht, neben den rechtlichen Bedenken, der nicht vorhandene Ausbildungsstand zu polizeilichen Lagen bei denen viele Zivilisten involviert sind. Ein Schusswaffeneinsatz mit Kriegswaffen kann in solchen Situationen viele unnötige Opfer fordern. Der Einsatz von Polizisten ist bei Amok- oder Terrorlagen viel geeigneter.

Videoüberwachungen bei Großveranstaltungen oder an sensiblen Objekten wie Flughäfen sind überaus sinnvoll. Eine Videoüberwachung mit Millionen Kameras wie in Großbritannien ist datenschutzrechtlich bedenklich und bringt bei der Verhinderung von Kriminalität gar nichts. Die Taten werden nicht verhindert, weil die Kameras zumeist nur aufzeichnen und niemand live verfolgt was passiert und eingreifen könnte.

Die Anonymität im Internet ist seit der Wiedereinführung Vorratsdatenspeicherung eh nur noch eingeschränkt vorhanden. Angesichts der Massen an höchst privaten Informationen, die bei der Überwachung von Surfverhalten zu erlangen sind, lehnen wir die Vorratsdatenspeicherung und weitere Verschärfungen in diese Richtung ab. Frankreich hat seit Jahren viel weitergehende Überwachungsbefugnisse für seine Sicherheitsorgane. Das hat die Attentate nicht verhindern können.

Welche Vorschläge hat DIE LINKE, um die innere Sicherheit zu verbessern?

Seit 1998 sind in der Bundesrepublik knapp 17.000 Stellen bei der Polizei abgebaut worden. Jeder Polizist auf der Straße ist aber ein Sicherheitsgewinn gegen Alltagskriminalität, bei Amoklagen oder bei  terroristischen Anschlägen. Hier muss im Bund, aber auch in den Ländern, schnellstmöglich umgesteuert werden.

Die LINKE verfolgt aber zusätzlich den Ansatz der "öffentlichen Sicherheit". Dabei wird Sicherheit nicht nur als Handeln der Sicherheitsorgane und Justiz verstanden. Zur Sicherheit in dem Sinne gehört dann auch, ob sich ganze Gruppen der Gesellschaft abgehängt fühlen und nicht mehr am demokratischen Leben teilnehmen, ob das Ehrenamt gut funktioniert und ob der öffentliche Dienst sein Vorsorgeprinzip überhaupt noch wahrnehmen kann. Ist das alles nicht mehr ausreichend vorhanden, wird sich das bei Krisen und Katastrophen bitter rächen. 

Israel lebt schon lange und andauernd mit verschiedenen Formen von Terror, in Europa gab es Terror-Phasen aus unterschiedlichen Motiven heraus: Was lässt sich aus den bisherigen Erfahrungen lernen?

Es müssen die Ursachen von Terror, wie eine ungerechte Weltordnung, soziale Ungleichheit sowie Diskriminierung aus ethnischen und religiösen Gründen beseitigt werden. Das ist aber nicht heute und morgen machbar. Eine absolute Sicherheit wird es, so wie die Welt heute verfasst ist, nicht geben können. Es ist unmöglich alle Einkaufszentren, Dorffeste oder belebte Plätze vor Amoktätern oder Terroristen zu beschützen. Selbst ein Polizeistaat, der die wesentlichen Freiheitsrechte abgeschafft hat, wird das Problem nicht grundhaft lösen können. Die Gesellschaft muss ausdiskutieren, wieviel Sicherheit sie will und zu welchen Abstrichen bei der Freiheit sie bereit ist. Die LINKE steht für Freiheit.

linksfraktion.de, 29. Juli 2016