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Vom aufrechten Gang oder: Was ich von Stefan Heym gelernt habe

Periodika,

Am 4. November 1989 konnte ich als Mitarbeiter aus dem Fenster einer SED Kreisleitung sehen, wie hunderte Menschen zum Alexanderplatz zogen. Zu den 500000, die sich dort trafen, um für eine bessere DDR, für Meinungsfreiheit und politische Grundrechte zu demonstrieren, gehörte ich nicht. Vieles hatte ich noch nicht begriffen, manches noch zu lernen. Unter den Rednern war Stefan Heym. Er sagte: »Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen! Nach all den Jahren der Stagnation - der geistigen, wirtschaftlichen, politischen - den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengewäsch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit. […] Wir haben in diesen letzten Wochen unsere Sprachlosigkeit überwunden und sind jetzt dabei, den aufrechten Gang zu erlernen!«
Seitdem haben mich diese Worte nicht losgelassen, wurden sie zu meinen Lebensmaximen. Stefan Heym hatte wie so oft den Zeitgeist erfasst, sprach aus, was Millionen Menschen im Land dachten und fühlten. Nie hat er sich abhalten lassen, zu sagen, was er denkt, und entsprechend zu handeln. Dabei hatte er mächtige Feinde, war sein Leben oft in Gefahr. Ins Exil gegangen, als Hitler an die Macht kam, widerstand er nach dem faschistischen Inferno dem Antikommunismus McCarthys und später dem Stalinismus.

Als ich ihn kennenlernte, war er schon ein alter Mann, aber unbeugsam wie stets zuvor. Heym war nie verbittert. Obwohl er jeden Grund gehabt hätte. Ein Großteil seiner Familie wurde in deutschen Vernichtungslagern umgebracht. Nie passte er sich an, oft wurde er verfolgt. In der DDR waren er und seine Familie Ziel eines jahrelangen Zersetzungsvorgangs durch das MfS. Trotzdem reichte er mir, dem ehemaligen IM, die Hand. Er war und blieb demokratischer Sozialist, Humanist. War man zu ihm offen, blieb ihm nichts Menschliches fremd.
Nach 1990 ließ er sich nicht beirren, äußerte sich kritisch über die Benachteiligung der Ostdeutschen und beharrte auf einer demokratisch-sozialistischen Alternative zum nunmehr gesamtdeutschen Kapitalismus. Als er 1992 die Komitees für Gerechtigkeit mitbegründete, lernte ich ihn persönlich kennen. Ich organisierte 1994 seinen Wahlkampf im Wahlkreis Berlin-Mitte/Prenzlauer Berg, den er gegen Wolfgang Thierse gewann.

Ich konnte erleben, wie westdeutsche CDU-Politbürokraten versuchten, ihn einzuschüchtern, ihn daran zu hindern, seine Rede als Alterspräsident des 13. Deutschen Bundestages zu halten. Ausgerechnet Heym wurde vorgeworfen, für das MfS gearbeitet zu haben. Ein absurder Vorwurf. Noch am Tag der Eröffnungsrede selbst, morgens gegen 1 Uhr wurde versucht, ihn unter Druck zu setzen. Er hielt stand.
So kam es dazu, dass Helmut Kohl, samt den hinter seiner beträchtlichen Körperfülle versammelten ehemaligen Blockflöten der DDR-CDU, Stefan Heym den Beifall verweigerte. Es hat ihn nicht erschüttert. Auch die Tatsache, dass die Rede des Alterspräsidenten nicht im Bulletin der Bundesregierung veröffentlicht wurde, hat er verkraftet. Mit Zensur hatte er seit Jahrzehnten Erfahrung.

Ich habe viel von ihm gelernt. Für mich bleiben sein aufrechter Gang und sein Worte von ungebrochener Aktualität, als er 1994 sagte: »Ich weiß sehr wohl, dass man Positives aus Ost und West nur schwer miteinander verquicken kann. Wir haben jedoch solange mit unterschiedlichen Lebensmaximen in unterschiedlichen Systemen gelebt und überlebt, dass wir jetzt auch fähig sein sollten, mit gegenseitiger Toleranz und gegenseitigem Verständnis unsere unterschiedlichen Gedanken in der Zukunft einander anzunähern.«