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Dietmar Bartsch © Marc DarchingerFoto: Marc Darchinger

Unser Gemeinwesen ausbauen und besser machen

Im Wortlaut von Dietmar Bartsch, Heilbronner Stimme,

Der Fraktionschef der Linkspartei mahnt mehr Investitionen in den Sozial- und Bildungsbereich an. Die Corona-Krise habe Probleme offengelegt, die es zwar vorher schon gegeben habe – „jetzt aber sind sie für jeden sichtbar und durch die Pandemie noch verstärkt worden“. Interview: Hans-Jürgen Deglow

 

Herr Bartsch, in rund vier Monaten wird gewählt. Wie schätzen Sie die Stimmungslage im Land ein?

Dietmar Bartsch: Jüngste Erhebungen zeigen deutlich eine Wechselstimmung, was auch ich spüre. Das hat zum einen damit zu tun, dass die Bundeskanzlerin nach 16 Jahren aufhört. Zum anderen wird sichtbar, dass die ehemals Große Koalition am Ende ist. Wenn überhaupt, verständigt sie sich nur noch auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Union und SPD werden ohnehin zusammen keine Mehrheit mehr haben, neue Konstellationen und eine veränderte Politik werden möglich sein. Hinzu kommt: Die Corona-Krise hat Probleme in unserer Gesellschaft offengelegt, die es zwar vorher schon gab – jetzt aber sind sie für jeden sichtbar und durch die Pandemie noch verstärkt worden.

Was hat die Krise offengelegt aus Ihrer Sicht?

Es gibt einen riesigen Reformstau, der nach der Wahl abgearbeitet werden muss. Wir brauchen höhere Löhne und Renten. Eine Steuerreform, die bis weit in die Mitte entlastet. Einen Marshallplan für die Infrastruktur.  Dramatisch war das oft fehlerhafte Handeln und das kommunikative Versagen der Regierung in der Krise. Versprechungen wurden nicht eingehalten. Hilfszahlungen haben zum Teil Monate gebraucht. Das hat das Vertrauen der Menschen erschüttert. Die Politik hat insgesamt die Aufgabe, hier einen transparenten Prozess der Lösungen und Perspektiven in Gang zu setzen. Als Oppositionspartei haben wir die Pflicht, den Finger in die Wunde zu legen.

Viele Menschen freuen sich über mehr Freiheiten, während andere weiter auf einen Impftermin warten. Die vergangenen Monate waren eine extreme Belastung für die Menschen. Die Freiheit war plötzlich begrenzt . . . 

Wir haben starke Grundrechtseinschränkungen erlebt, teilweise sehr rigorose Eingriffe, ich nenne nur Bildung, Bewegungsfreiheit und die Berufsfreiheit als Beispiele. Wer jetzt davon redet, man gebe Freiheitsrechte zurück, dann ist jeder gönnerhafter Duktus deplatziert. Tatsache ist: Grundrechte können nur mit sehr triftigem Grund eingeschränkt werden. Bei vollständig Geimpften entfällt der. Das Impftempo muss deshalb weiter steigen: Grundrechte müssen für alle wieder uneingeschränkt gelten.

Aber Vorsicht bleibt vorrangig?

Ja. Wenn wir jetzt langsame Öffnungsschritte vollziehen, für Genesene, Geimpfte und Getestete, müssen wir weiterhin sehr behutsam agieren, die Hygieneregeln beachten und Prioritäten setzen. Aus meiner Sicht vor allem für Kinder und Schulen. Eine vierte Welle nach dem Sommer gilt es unbedingt zu verhindern. Jetzt ist die Zeit der Vorsorge. Ich bin sicher, dass wir noch lange Zeit mit dem Virus werden leben und uns darauf einstellen müssen. Zugleich verstehe ich, wenn Menschen ungeduldig sind, weil wir vier Monate Rückstand haben bei der Impfstoffbeschaffung. Das wirkt nach. Der Impfturbo muss jetzt endlich wirklich heiß laufen. Da sehe ich noch eine Menge Potenzial, z.B. über die Fachärzte oder mobile Teams.

Viele Hausärzte kritisieren, dass es zwar eine Freigabe der Priorisierung ab dem 7. Juni geben soll, aber sie mangels Impfstoffen keine Termine vergeben können.  Den Ärger bekommen die Ärzte und ihr Personal dann sehr direkt ab.

Ich kann den Unmut auf beiden Seiten sehr verstehen. In den Impfzentren und den Praxen wird enorm viel geleistet. Aber diese brauchen viel mehr Impfstoffe. Auch bei der Teststrategie gibt es noch erheblichen Verbesserungsbedarf. Wir sind wieder weit entfernt einem bundesweit einheitlichen Rahmen. Das Virus interessiert sich nicht für die föderale Struktur Deutschlands. Die jetzige Regelung mit der Bundesnotbremse ist bis zum 30. Juni terminiert. Wir müssen im Bundestag eine breite Debatte darüber führen, wie wir danach weitermachen wollen.

Ein großes Thema sind auch die „Vordrängler“ ...

Die allermeisten Menschen verhalten sich anständig. Egoisten gibt es leider immer. Wir haben insgesamt in der Pandemie den Begriff der Solidarität zu wenig gelebt. Solidarisch zu sein bedeutet auch zu fragen: Wie ist die Lage in anderen Teilen der Welt, in Indien, in Brasilien. Die Pandemie ist erst vorbei, wenn sie weltweit besiegt ist. Wir haben hierzulande viel zu wenig unser Augenmerk auf Kinder und Jugendliche gelegt. Vor einem Jahr haben wir bereits Luftfilter in allen Schulen gefordert, aber bis heute gibt es sie viel zu wenig. Die Familien sind ohnehin die Verlierer in dieser Krise. Es gibt Rettungspakete in Milliardenhöhe, aber was kommt bei Schulen und Kitas an? In Senioren- und Pflegeheimen haben wir viel zu lange den falschen Weg beschritten und die Älteren isoliert und gleichzeitig unerträglich viele Tote dort zu betrauern. Mein Vater ist 87 Jahre. Wie soll man einem alten Familienmitglied erklären, er müsse noch ein Jahr durchhalten, bis er seine Enkel wiedersehen kann? Gottseidank haben hier die Impfungen bereits Abhilfe geschaffen.

In welcher Rolle sehen Sie hier die Bundesregierung?

Entscheidungen waren nie transparent. Angela Merkel hat ein, zwei Mal eine Botschaft an die Bevölkerung gerichtet, aber das reicht nicht. Das hätte wöchentlich passieren müssen. Und dass die Ministerpräsidentenrunde gescheitert ist, zeigte sich spätestens mit dem Osterlockdown und seiner Rücknahme. Für die weitere Aufarbeitung der Krise und ihrer Folgen gilt also: Mehr die Kompetenz und die Empathie der Breite der Gesellschaft zu nutzen. Heißt, auch Pädagogen, Psychologen, Erziehungswissenschaftler, Künstler, Kirchen, Gewerkschafter und viele mehr gehören an einen Tisch.

Vertieft die Krise Ungleichheit?

Klares Ja! Dieses Thema wird zentral sein in den Debatten der nächsten Monate. Wir sind in dieser Pandemie Zeuge dramatischer Entwicklungen. Auf der einen Seite leben Menschen in beengten Verhältnissen, sind einem höheren Infektionsrisiko ausgesetzt. Sind in Kurzarbeit oder ihre Selbstständigkeit ist seit Monaten ohne Grundlage. Zugleich steigen die Mieten vielerorts. Viele Jobs sind einfach weggefallen, beispielsweise in der Gastronomie oder der Veranstaltungsbranche. 40 Prozent der Menschen in Deutschland haben z.T. dramatische Einkommensverluste. Daneben sehen wir eine immer größer werdende Schieflage, weil es auch Gewinner der Krise gibt.

Sie meinen?

In Deutschland ist die Zahl der Milliardäre im Jahr 2020 von 29 auf 146 gestiegen – während der Krise, das ist pervers. Weltweit ist die Zahl der Milliardäre gar von 2000 auf 2700 gestiegen. Diese Entwicklung ist beängstigend, weil sich die Spaltung der Gesellschaften verschärft. Wir als Linkspartei setzen deshalb stark auf Gerechtigkeit und Chancengleichheit. Wir wollen die Sozialsysteme krisenfester machen. Daher stellt sich eine Frage zentral: Wer bezahlt für diese Krise? Unsere Antwort ist klar: Nicht die Erzieherin, nicht der Maler mit seinen Steuern und Abgaben. Die sind schon viel zu stark belastet.

Die öffentlichen Haushalte ächzen unter Milliarden neuer Schulden, die in dieser Krise aufgenommen wurden. Das macht doch die finanziellen Spielräume für die künftige Regierung sehr eng, oder?

Wer in einem Atemzug verspricht, demnächst wieder die Schuldenbremse einhalten zu wollen, keine Steuern zu erhöhen, aber mehr investieren zu wollen – der streut Menschen Sand in die Augen. Wir müssen unser Gemeinwesen handlungsfähig erhalten. Ausbauen und besser machen. In den Bildungsbereich investieren, auch Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer besser bezahlen. Die Krankenpfleger. Den Paketboten. Deshalb ist es nötig, den Mut zu haben, von denen etwas abzuholen, die von dieser Krise profitiert haben. Wir fordern eine einmalige Vermögensabgabe für Milliardäre und Multimillionäre. Trifft 0,7 Prozent der Bevölkerung - nur die ganz oben! Nötig ist auch eine große Steuerreform, die spürbare Entlastungen im unteren und mittleren Bereich vorsieht. Ganz klar: Unser Steuerkonzept ist ein Angebot der Leistungsgerechtigkeit. Es entlastet die Mehrheit im Land. Viele Menschen können einfach nicht mehr, sie empfinden es als ungerecht – und es ist ungerecht, wenn Milliardenerben kaum Steuern, Amazon keine Steuern und sie zu viele Steuern zahlen. Wir wollen hier einen fairen Ausgleich schaffen, ohne den Unternehmen zu schaden.

Und Ihr Ziel für die Linke bei der Bundestagswahl?

Für die Linke war die Coronazeit eine schwierige Zeit, weil der direkte Kontakt mit den Menschen für uns sehr wichtig ist. Im Sommer werden wieder mehr persönliche Gespräche möglich sein, dieser Austausch ist ausgesprochen wichtig. Unsere Führungsfragen haben wir jetzt geklärt. Wir können uns also auf unsere Themen konzentrieren und werden dann in den Umfragen auch zulegen. Ich bin der festen Überzeugung, dass das ausgegebene Ziel, zweistellig zu werden, zu erreichen ist.

Heilbronner Stimme,